Ist es Mozart oder nicht?

Kunsthistoriker streiten um ein Gemälde, dessen Entdeckung weltweit für Aufsehen sorgte. Die Berliner behaupten, es zeige Mozart, die Münchner behaupten, es zeige nur einen unbekannten Hofrat. Eine Recherche

An einem Freitag erreichte er München, am 29. Oktober 1790. Es ging ihm nicht sehr gut. Mozarts Reise nach Frankfurt war kein Erfolg gewesen – und dafür hatte er immerhin das Familiensilber verpfändet. Auf eigene Faust war der 34-Jährige zur Krönung Leopolds II. gefahren, statt zwei geplanter Konzerte hatte er nur eines gegeben und sich dann über Mainz, Mannheim und Augsburg auf den Rückweg gemacht. Nicht nur die Geldnot und der abnehmende Erfolg machten ihm zu schaffen, sondern immer noch der Tod seines Vaters, die Sorge um seine kränkelnde und mit einigem Grund eifersüchtige Frau Constanze und, erstmals in seinem Leben, das Nachlassen der Kreativität. Nie hat Mozart so wenig komponiert wie in diesem Jahr. Aber in München hob sich seine Laune.

Mozart stieg dort wie immer im Schwarzen Adler ab, einem Künstlertreff in der Kaufingerstraße, und besuchte seine Freunde. Die Cannabichs, Marchands, Brochards. Sein alter Gönner Carl Theodor, bayerischer Kurfürst, für den er vor neun Jahren schon den Idomeneo geschrieben hatte, lud ihn ein, in einem Konzert für den König von Neapel mitzuwirken. »Du kannst dir aber nicht vorstellen, wie das Gereiß um mich ist«, schrieb Mozart an Constanze. Rissen sich die Gönner um ihn so sehr, dass sie ihn sogar malen ließen? Es gab da einen Porträtisten, Hofmaler Carl Theodors und als Freund des Wirts selbst im Adler verkehrend: Johann Georg Edlinger, seit 1781 in München angestellt. Wahrscheinlich kannte ihn Mozart. Und möglich wäre es, dass er in dieser Woche, auf seiner allerletzten Reise, von Edlinger gemalt wurde.

Möglich wäre auch, dass dieses Bild für gut zwei Jahrhunderte verschwand – und dass die Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin eine Sensation zu bieten hat. In heller Aufregung sind Musik- wie Kunstwelt schon seit Januar. Pünktlich zu Mozarts 249. Geburtstag teilte die Galerie mit, der »Herr im grünen Frack«, seit 1934 im Besitz Berlins, sei kein anderer als der Komponist, gemalt in jenen Münchner Tagen von Edlinger – verifizierbar durch biografische Indizien, aber vor allem durch computergestützten Vergleich dieses Bildes mit einem authentischen Mozart-Porträt, das in Bologna hängt und den Musiker in fast gleicher Perspektive zeigt, »in Halbfigur leicht schräg nach rechts«. Zwar hatte man die Argumente schon fünf Jahre zuvor im Mozart-Jahrbuch publiziert, doch das war nicht recht aufgefallen.

Zudem hielt der Berliner Galerieleiter Rainer Michaelis da noch für »sehr wahrscheinlich«, was nun unzweifelhaft sein soll. Die »Halbfigur« aus Bologna, den 21-Jährigen zeigend, hat Vater Leopold selbst als »malerisch wenig wert«, aber »ganz und gar ähnlich« bezeichnet. Andere beglaubigte Porträts zeigen den Komponisten im Profil – wie Joseph Langes unvollendetes Ölbild von 1789 und Dora Stocks Silberstiftzeichnung aus demselben Jahr. Diesen Darstellungen ist Edlingers Porträt in vielen anatomischen Details ähnlich und an Lebendigkeit weit überlegen. Der verlebt wirkende, etwas aufgeschwemmte junge Mann auf dem Bild blickt, während Heiterkeit um die Mundwinkel zuckt, offen und dabei ein bisschen wie von fern durch den Betrachter hindurch.

Wie aber, wenn uns gar nicht Mozart gegenübersäße auf rotem Polster im grünen Frack? Sondern ein drei Jahre vor dem Komponisten geborener Kaufmann und Hofrat aus München, bei dem Mozart allenfalls Modeartikel gekauft haben könnte? Davon ist Richard Bauer überzeugt, Direktor des Münchner Stadtarchivs. Er ließ dem Enthusiasmus an der Spree umgehend eine kalte Dusche von der Isar folgen und spottete: »In München Hofrat, in Berlin Mozart.« Seither ist die Luft dick zwischen den beiden Instituten. Wechselseitig bezichtigen sie sich der »Unwissenschaftlichkeit«. Wer sich aber ins aufgeladene Spannungsfeld zwischen Bayern und Preußen begibt, entdeckt zwischen alten Akten und moderner Software, dass auch Bilder ihre Schicksale haben und mitunter jahrhundertelang auf ihre große Stunde warten…

Das Bild, das wir uns von Mozart machen, wechselt epochenweise. Noch vor drei Jahrzehnten fand Wolfgang Hildesheimer es nötig, in seinem Buch über Mozart gegen das Image vom »Götterliebling« und »frohen, treuherzigen jungen Menschen« anzugehen, den »das Publikum gern so haben möchte«. Der Klassiker als defizitäre, antastbare Gestalt war noch unerwünscht. Nicht nur Hildesheimers Großessay, der schrille Film Amadeus und die psychoanalytisch orientierte Biografie von Maynard Solomon haben das geändert, sondern auch die Interpreten: weg vom »zeitlos« Schönen, hin zur Historie, zum Entstandensein statt zum Entrücktsein von Musik. Erst dann wohl konnte ein Musikfreund, zufällig konfrontiert mit dem Porträt eines ungesund aufgeschwemmten Anonymus, ausrufen: »Der sieht ja aus wie Mozart!«

So nämlich geschah es vor zwölf Jahren, als ein Nachfahre des Malers Edlinger in einer Dissertation über seinen Ahnen blätterte und das Porträt eines Unbekannten erblickte. Seinem Bruder ging es ähnlich. Wolfgang Seiller, Jahrgang 1959, Amateurpianist und Informatiker: »Ich war wie elektrisiert und hab den Vergleich mit dem Bild in Bologna ins Spiel gebracht.« Und dann suchte er den Berliner Kurator auf, in dessen Depot sich das Original befand. Der heißt Rainer Michaelis, ist jetzt 51 und Oberkustos, ein Mann mit Metallbrille, Schnauzer und beigefarbenen Sakko, den der Enthusiasmus glatt zehn Jahre jünger wirken lässt. Der Kunsthistoriker begann seine Laufbahn in der Hauptstadt der DDR, auf der Museumsinsel, zu deren Bestand auch Edlingers Porträt zählte. Als er erstmals draufschaute, dachte er: »Mensch, dat Jesicht haste schon irjendwo jesehen!«

Aber Mozart? Für die »ikonografische Annäherung« des geheimnisvollen Berliner Bilds und des Porträts in Bologna brachte Seiller beide auf gleiche Größe und konvertierte sie zu Graustufenabbildungen – dafür genügte handelsübliche Software wie Corel Paint 7.0 und Microsoft Photo Draw 2000. Dabei wurden verblüffende Übereinstimmungen bei Mund, Nase und Augen deutlich. Und was nicht so passte, erklärten unter anderem die 13 Jahre, in denen Mozart dicker geworden war… Ein bisschen verjüngt hat den von Edlinger Gemalten mittlerweile die Restaurierung. Das Bild, im Lauf der Jahre »verpresst und verknickt«, kam aufs Streckbett, weil sich schon Farbschollen überlappten, Lasurschäden wurden behoben. »Die Gesichtszüge Mozarts«, liest man im Journal des Museums, »stellen sich nun entspannter dar.«

Zur Herkunft des Bildes fanden die Berliner unterdessen eine heiße Spur. Bislang wussten sie nur, dass das Museum 1934 das Porträt im Münchner Kunsthandel erwarb und sogleich ins Depot verbannte. Es misst 80 mal 62,5 Zentimeter. Schon 1906 aber wurde im Münchner Glaspalast laut Katalog ein Herrenbildnis Edlingers gezeigt, dessen Maße 80 mal 62 Zentimeter betrugen. Das Format passt auf fünf Millimeter genau zum Berliner Porträt und kommt bei Edlinger sonst nicht vor. Mit einer Ausnahme: dem Porträt, das ebenfalls im Glaspalast hing, gleich neben dem ersten. Ein Damenbildnis. Offenbar gehörten die beiden zusammen. Und genau da beginnt die Spur ein bisschen zu heiß zu werden. Schließlich war Mozart nicht mit seiner Frau Constanze in München.

Dass etwa Josepha Duschek, Mozarts heimliche Liebe, aus Prag nach München gekommen sein könnte, um dort als Gespielin des Genies gemalt zu werden – »das wäre bei aller Libertinage nicht möglich gewesen«, sagt Richard Bauer. Der Direktor des Münchner Stadtarchivs ist ein heiterer 62-Jähriger mit grauer Löwenmähne, Lokalpatriot wie sein Berliner Widerpart. Dem wirft er vor, die Dame neben dem mutmaßlichen Mozart »schlicht übersehen« zu haben. Wer konnte sie sein? Bauers Mitarbeiterin steht entschlossen auf: »Ich hol schon mal die Lindauer-Kiste!« Lindauer? So hieß der Eigentümer der beiden Porträts, die 1906 im Glaspalast gezeigt wurden. Er war Spross einer Verlegerfamilie. Seine Witwe lebte noch, als 1929 ein Kulturhistoriker über diese Familie recherchierte. Er besuchte die Witwe und machte Notizen, die ins Stadtarchiv wanderten. Da hat Bauer sie gefunden.

Zettel für Zettel mit gestochen feiner Schrift kommt aus der Lindauer-Kiste auf den Tisch neben die Kaffeetassen. Auf blau liniertem Papier skizzierte der Forscher damals die Anordnung der Bilder bei Lindauers Witwe. Darunter auch ein Herren- und Damenbildnis von Edlinger. Und die 69Jährige erklärte ihrem Besucher, wen die Bilder zeigten – nämlich den »Kramer Steiner« und seine Frau. Genauer: Josef Anton Steiner, geboren 1753, gestorben 1813, Mitglied der Kramerzunft in München. Der Mann handelte mit Textilien und »Spezereien«, wozu Gewürze ebenso zählten wie Galanteriewaren. Er besaß mehrere Immobilien, war Hofrat, Lokalprominenter und selbstverständlich in der Lage, sich und seine Frau von einem der besten Porträtisten der Zeit malen zu lassen.

Wer den Weg der Bilder weiterverfolgt, sehnt sich im Aktenstaub nach Mozarts Übermut – doch hier geht alles Schritt für Schritt. 1825 wird der Nachlass der kinderlosen Kaufmannswitwe inventarisiert, der Aktuar des Stadtgerichts vermerkt »3 Familien-Porträts«. Die bekommt der Universalerbe Franz Seraph Lindauer. Sein Sohn ist ebenjener Franz, der 1906 einige Bilder an den Glaspalast auslieh. Darunter das Paar, das seine Witwe später als »Steiners« identifiziert. 1933 zieht sie aus ihrer Wohnung ins Altenheim, 1934 taucht auf dem Münchner Kunstmarkt das Porträt auf, das nach Berlin verkauft wird. Seltsam zwar, dass die Identität des Dargestellten dabei keine Rolle spielt – aber Format, Verkaufsjahr, Gerichtsprotokoll und die Notizen von 1929 zerren heftig an der Indizienkette, mit der anno 2005 die Berliner Mozart an sich binden wollen. 1789 haben sie ihn noch ungerührt ziehen lassen…

Der Oberkustos von der Spree tritt darum die Flucht nach vorn an. Michaelis stimmt zu, dass es Steiners waren, deren Porträts im Glaspalast und bei Lindauers Witwe hingen. Er glaubt jetzt aber, »dass wir gar nicht vom selben Bild sprechen«. Der Zufall ist ja nicht auszuschließen, dass ein formatgleicher Mozart anno 1934 von ganz woanders her auf der Kunstmarkt geriet. Ein bisschen erinnern diese Spekulationen an unglücklich Verliebte, die sich jedes Nein in ein Vielleicht umbiegen. Aber es gibt in diesem Falle keineswegs nur Neins. Einige Einwände können die Berliner leicht entkräften. Dass etwa Edlinger in den paar Tagen nicht genug Zeit für den schwer beschäftigten Mozart haben konnte und einen Musiker mit Berufsattributen hätte darstellen müssen, so, wie Haydn zur gleichen Zeit mit Gänsekiel und Tastatur gemalt wurde.

Doch zwingend waren solche Attribute im späten 18. Jahrhundert keineswegs, sie wurden erst im 19. Jahrhundert wieder üblich. »Denken Se an Herder oder Lessing von Anton Graff«, sagt Michaelis, der über die Malerei jener Zeit promoviert hat, »wie seh’n die denn aus?« Den Porträtmalern der Aufklärung war es vor allem um den Charakter zu tun. »Er bringt den seelischen Zustand der Leute bestens raus«, sagt einer, der Edlingers Schaffen 1983 erstmals gründlich beschrieb. Rolf Schenk diagnostizierte damals »weltmännische Haltung« und »intellektuelle Tätigkeit« des Dargestellten. An Mozart dachte er nicht, erst später »fiel es mir wie Schuppen von den Augen«. Was das Tempo angeht: »Er konnte gar nicht langsam arbeiten, er hat das ja nass in nass gemalt. Flott und zügig, mit schnellen Pinselstrichen, meisterlich!« Dass das Bild tatsächlich »in einem Zug« entstand, erwies sich auch bei den Restaurierungsarbeiten.

Und was geschah dann? Musste Mozart das Bild in München lassen, weil es noch nass war, als er abreiste? Geriet es, durch welche Umstände auch immer, in einen Winkel bei den Gönnern, die es bezahlt hatten? Immerhin kennt die Kunstgeschichte auch den Fall eines Porträts Friedrichs des Großen, das erst hundert Jahre nach Entstehen bei einem Schulmeister in Neustrelitz auftauchte. Trotzdem ist es seltsam, dass Mozarts Münchner Freunde, die so ein »Gereiß« um ihn machten und, wie etwa der Komponist Christian Cannabich, auch den Maler kannten, nicht nach Mozarts erschreckendem Tod ein gutes Jahr später sich erinnert hätten, dass da noch ein Porträt des geliebten Genies existierte. Und hätte der Münchner Verleger Strobl, der Edlingers Prominentenporträts in einer Serie von Stichen herausgab, sich Mozart entgehen lassen?

In all dem Nebel sprechen die Zahlen und Dokumente, die tatsächlich vorliegen, ziemlich handfest für Steiner. Ja, aber die Hand? Die bewegliche Linke des Porträtierten begeistert auch den Kunstexperten und Kunsthändler Schenk: »Edlinger hat die Hände meist weggelassen, obwohl er die gut konnte.« Die hat was, die Hand. Über den Mozart jener Jahre sagte seine Schwägerin dem Biografen Nissen: »Auch sonst war er immer in Bewegung mit Händen und Füssen, er spielte immer mit Etwas, z. B. mit seinem Chapeau, Taschen, Uhrband, Tischen, Stühlen, gleichsam Clavier.« Und wenn man durch die nach Holz und Firnis, nach dem Handwerk der Verewigung duftenden Depots der Berliner Galerie sich der Katalog-Nummer 2097 von hinten genähert hat, auf Mozart hoffend und ihn liebend: Dann sieht man die spielende Hand.

Und sucht seinen Blick, der einen sanft durchschaut. Dass die Hand Geld zählt, dass die Ferne im Blick sich nebst Doppelkinn dem Wohlleben eines Münchner Händlers verdankt, der über Mozarts Schulden gelächelt haben könnte – das legen freilich die Tatsachen näher, als den Anbetern lieb sein kann. Dazu passen die Münchner Informationen mindestens so gut wie etwa das linke Auge des Bologneser Mozart zu dem des Mannes in Berlin. Doch wer weiß, was bis zum Mozart-Jahr 2006 noch so ans Tageslicht gerät… Bis dahin mögen die einen sich freuen, die andern bezweifeln, dass auch ein Kaufmann mozartisch wirken kann. Alle aber können es mit Josepha halten, für die der Musiker bei seiner Berliner Reise so liebevolle Umwege machte. Wobei sie ihn, wie er schreibt, vor Freunden so begrüßte: »da kömmt Jemand der aussieht wie Mozart.«

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 09.06.2005