Der neue Burgherr

Eigentlich geht so was ja gar nicht, gerade jetzt. Man kann nicht zehn Monate vor einem Festival einfach mal die Musiker anrufen und anmailen, die man da am liebsten hätte, und sie fragen, ob sie noch eine Woche im Sommer frei haben, um in acht bis zwölf Stücken mitzuspielen, und zwar ohne Honorar, nur für Kost, Logis und Reisekosten. Eine Legende wie den israelischen Geiger Ivry Gitlis etwa, der noch bei Enescu Unterricht hatte und mit Lennon auftrat, oder seine gefragte junge norwegische Kollegin Vilde Frang. Oder so fantastische Leute wie den Klarinettisten Reto Bieri und den Pianisten Alexander Lonquich und noch 35 weitere, die alle längst volle Terminpläne haben.

Doch, das geht. Nicolas Altstaedt hat es ausprobiert. Ihr dürft spielen, was ihr schon immer spielen wolltet, hat er ihnen gesagt, wenn wir die Besetzung zusammenkriegen. Und fast alle willigten ein. Man muss dazu sagen, dass dieser junge Cellist sie für ein Festival angerufen hat, das schon seit 30 Jahren auf etwa dieser Basis funktioniert. Das Kammermusikfest im burgenländischen Lockenhaus ist geradezu legendär. Allsommerlich hat Gidon Kremer, weltoffenster unter den Weltklassegeigern, Musiker auf die märchenschöne Trutzburg an der ungarischen Grenze geholt und dort nach Lage und Laune spontan Programme gebastelt. Wer sich Karten sichert, weiß nie, wofür.

Doch im vergangenen Jahr nahm Kremer seinen Abschied als Burgherr. Vielen in der Gemeinde, der ansässigen, die das Fest mitträgt, und der aus aller Welt angereisten, trieb das die Tränen in die Augen. Charismatiker Kremer hatte das Fest ohne Frack durch alle Krisen geführt, ihm blieben die Leute treu, Musiker wie Hörer. Wer, in aller Welt, kann Kremer ersetzen? Der Geiger empfahl einen Cellisten, 35 Jahre jünger als er selbst. Nicolas Altstaedt, völlig überrascht, sagte zu, er fühlte sich beschenkt. »Es gibt nichts Einfacheres«, sagt er, »als Nachfolger von Kremer zu sein, denn er ist so eine exzeptionelle Persönlichkeit, dass er völlig außer Konkurrenz ist. Ich steh sowieso in seinem Schatten.«

Es hat ihn aber doch erstaunt, wie hilfreich Kremers Vertrauen, wie stark das Zauberwort »Lockenhaus« ist, um Kollegen zu gewinnen. »Ich mach mir eigentlich gar keine Sorgen«, erklärt Altstaedt jetzt, ein T-Shirt-Tramp, der auch selbst mitspielen wird. Wer ist dieser gut gelaunte Typ in Kremers Schatten? Dass ein 30-Jähriger, der innerhalb eines Monats in Verona, Istanbul, Madrid, Wien, New York und Berlin auftritt, mehr als eine Tonleiter spielen kann, darf vorausgesetzt werden. Eher müsste man befürchten, er sei einer dieser jungen Jetsetter, die überall dieselben drei, vier Stücke abliefern, von großen Labels auf die Rampe gedrückt. Nur wäre so einer in Lockenhaus ganz falsch.

Auffällig wurde Altstaedt spätestens, als er mit 23 Jah- ren den Deutschen Musikwettbewerb gewann. Aufsässig wurde er, als ein großes Label ihn unter Vertrag nehmen wollte. »Die waren nicht an mir interessiert, sondern an Verkaufszahlen. Ich hätte eine CD mit Zugabenhäppchen machen sollen. Ich hatte Chopins Cellosonate vorgeschlagen, da wurde mir gesagt, dass die nicht geeignet wäre, weil der erste Satz zehn Minuten dauert und das die Leute überfordert. Da sitzen Verkaufsleute, die BWL studiert haben. Das hat keine Zukunft. Durch solche CDs vertreiben sie das Publikum, aber man kann sich dagegen wehren. Man darf das Publikum eben nicht unterfordern.«

Er weist auf die vielen Neugründungen ambitionierter Labels hin. Dass selbst das renommierte Hagen Quartett von der Deutschen Grammophon zum kleinen Label Myrius wechselte, zeigt ihm: »Die brauchen das nicht mehr. Die Zeit der Majors ist vorbei.« Seit er in Madrid 800 überwiegend junge Leute mit lauter Ligeti begeisterte, ist er sicher: »Die klassische Musik ist was Existenzielles, Teil von uns. Das kann nicht zugrunde gehn. Wenn das zugrunde geht, sterben wir Menschen aus.« Er selbst hat statt der Häppchen eine Herzensangelegenheit realisiert und beim Label Genuin Stücke von Robert Schumann mit solchen von Wilhelm Killmayer kombiniert. Kein Bestseller, dafür aber ein Kleinod.

Das Cello begeisterte diesen Musiker, dessen Vater »ein bisschen Cello und Klavier« spielt, als Fünfjährigen. Da durfte er sich aus der Plattensammlung seiner Eltern bedienen und stieß auf Rostropowitsch mit dem Ersten Cellokonzert von Schostakowitsch. »Das habe ich den ganzen Tag gehört. Jedes Kind ist neugierig, und vielleicht käme jedes zur klassischen Musik, wenn man ihm die Gelegenheit gäbe.« Den Jungen faszinierten dann die Musikfeste im heimischen Gütersloh, er hörte Henze, Kagel, Ligeti; sein erster Lehrer hingegen war Barockcellist. Später folgten so unterschiedliche und berühmte Meister wie Anner Bylsma, David Geringas, Heinrich Schiff und Boris Pergamenschikow.

Eine zentrale Gestalt ist für ihn Nikolaus Harnoncourt. Dem Dirigenten ist er nachgereist zu Proben und Konzerten. »Er ist undogmatisch. Er fragt: Was hat der Komponist im Kopf, wie ist die Struktur, was steht dahinter? Da geht’s nicht um 30 Zentimeter Länge für einen Bogenstrich.« All das hört man auch, wenn Altstaedt Haydn spielt. Auftrumpfen, großer Ton, fette Akkorde, irgendwo hinten schrammelt der Tross – so ist Haydns Cellokonzert C-Dur noch oft zu hören. Bei diesem Solisten und der Kammerakademie Potsdam erlebt man auf der CD stattdessen intelligente Dialoge, das federt und spricht mitreißend, wie eben erst geschrieben, und die Kadenzen zeugen von Altstaedts Witz.

Man ahnt, warum Kremer so einen 2005 zum Mitspielen nach Lockenhaus holte und ihm nun gar die ganze Oase anvertraut hat. Was plant Altstaedt unter dem Motto »Metamorphosen«, den Wünschen seiner Mitspieler folgend? Die Fünfzehnte von Schostakowitsch zum Beispiel – bearbeitet für zwei Klaviere und Schlagzeug. Sándor Veress, ein vergessenes Genie der ungarischen Musik, soll neu entdeckt werden. Und weil Ungarn gleich nebenan liegt, kommen von dort auch acht Tänzer des Nationalballetts, um Schuberts Streichquartett Der Tod und das Mädchen choreografisch zu deuten. Für andere Werke tun sich alle Solisten zum Kammerorchester zusammen.

Um die Nachfrage macht sich Nicolas Altstaedt keine Sorgen. »Junge Leute ziehen junge an«, meint er, und jeder Künstler bringe sein Publikum mit. Insgesamt geben er und seine rund 40 Kollegen fünfzehn Konzerte in einer Woche. Das entspreche, meint Altstaedt, ihrem »Freiheitsdrang«. Und wer erlebt hat, wie es da ist, oben im Burgsaal mit Blick über die Berge oder unten in der Barockkirche, und wie opulent die Lockenhauser ihre Künstler verpflegen, wie familiär sich im Städtchen Musiker und Hörer mischen, der weiß, dass dieser Gegenentwurf zum Starbetrieb nicht mit Entbehrungen erkauft wird. Der berühmteste Gast dieses Jahres sagte trotzdem nur unter einer Bedingung zu: Er bleibt bis kurz vor Schluss geheim.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 03.07.2012