Im Herzen das größte Grauen

Vor drei Jahren erregte der “Fall Eggebrecht” Aufsehen: Aufgedeckt wurde, dass der Musikwissenschaftler Mitglied der mörderischen Feldgendarmerie der Wehrmacht war. Doch die Aufarbeitung kommt erst jetzt in Gang

Zuerst kam der Schock, dann kam die Starre. Vor dreieinhalb Jahren wurde bekannt, dass ein bedeutender Ordinarius bundesdeutscher Musikwissenschaft, Hans Heinrich Eggebrecht, Mitglied jener Feldgendarmerieabteilung 683 gewesen war, die 1941 in Simferopol auf der Krim an einer Massenexekution von 14.000 Juden beteiligt war. Eggebrecht starb 1999, hoch geehrt nicht nur an seiner Universität Freiburg, ein Königsmacher, zu dessen Schülern Größen des Fachs von Brinkmann bis Riethmüller zählen, der um 1970 zudem als “linker Professor” Sympathien gesammelt hatte, ein charismatischer Gelehrter, dessen Bücher auch deutsche Bildungsbürger gern lasen.

Der Musikhistoriker Boris von Haken hatte seine Erkenntnisse aus der Arbeit an einem Buchprojekt Holocaust und Musikwissenschaft in einem Vortrag vor der Gesellschaft für Musikforschung und dann in der ZEIT (Nr. 52/09) zusammengefasst. Die Publikation erregte Aufsehen weit über Deutschland hinaus. Schließlich war nicht zu bezweifeln, dass Eggebrecht einer Einheit angehört hatte, die, wie der Historiker Ulrich Herbert feststellte, “zu einer der schrecklichsten Mörderbanden der Geschichte” zählt. Holocaustforscher Götz Aly hielt es für produktiv, im Werk des Gelehrten nach Spuren einer “geistigen Rückkehr an den Tatort” zu suchen, einer unbewussten Auseinandersetzung.

Kinder und Greise, Männer und Frauen wurden zur Erschießung getrieben

Doch nahezu alle deutschen Musikologen, die sich nun äußerten, auch solche, die engagiert zum “Dritten Reich” arbeiten, bezweifelten die Seriosität der Enthüllung. Geforscht wurde fortan gleichsam über Möglichkeiten, einen Spiritus Rector der Zunft aus der Mitte des blutigen Geschehens zu entfernen, in der von Haken ihn mit dem Satz verortet hatte, er sei “in allen Stadien der Ermordung der Juden von Simferopol beteiligt” gewesen, vom Zusammentreiben der Opfer und dem berüchtigten “Spalier” bis hin zum Erschießungsgraben. Dadurch sah etwa der Kulturwissenschaftler Jens Malte Fischer eine “individuelle Schuld” suggeriert, für die Beweise fehlten.

Man muss, ehe man das näher betrachtet, einen Schritt zurücktreten und konstatieren, dass der “Fall Eggebrecht” weit über die Grenzen des Faches hinausreicht, in dem man bis dahin nur auf White-Collar-Mitläufer gestoßen war. “Heiner” war als 22-Jähriger auf der Krim, ein gebildeter, musikalischer, klavierspielender Mensch, der sich später in jenem einflussreichen Gelehrten und Musikvermittler vollendete, von dem sich auch ein Wolfgang Rihm verstanden fühlte. Er war, bildungsbürgerlich gesehen, einer von uns, zu Hause in jener Kunst, die man doch gern immer noch für unbefleckbar hält. Mitten in ihrem Herzen auf das größte Grauen zu stoßen – das ist nicht zu “bewältigen”.

Wir kommen irgendwie klar mit dem antisemitischen Genie Wagner und wissen wohl, dass Reinhard Heydrichs Geigenkünste seinen Weg zur Wannsee-Konferenz nicht behinderten. Aber sich einen wie Hans Heinrich Eggebrecht in jenem Spalier zu denken, durch das an vier Dezembertagen 14.000 Menschen zur Erschießung getrieben wurden, Kinder wie Greise, Männer wie Frauen, das zerstört unser Distanzierungsvermögen. Das schlägt einen Tunnel durch die Zeit, es untergräbt unsere Kulturgewissheit. Wir lieben ja denselben Beethoven, den Eggebrecht in freien Stunden bei einer deutschen Familie in der “gesäuberten” Stadt Simferopol am Klavier spielte.

Da mag es erleichtern, dass ein “konkreter Einzeltatnachweis” unmöglich ist. Als Zeugen solcher Massaker blieben überwiegend die Wehrmachtsangehörigen selbst, die fast immer die Rolle ihrer Einheiten herunterspielten. Nicht anders war es, als die Staatsanwaltschaft München in den 1960er Jahren 222 ehemalige Mitglieder jener Feldgendarmerieabteilung 683 vernahm, zu der ausweislich seiner Wehrmachtspapiere auch Eggebrecht gehörte. Ein Zeuge aus dem 3. Zug der 2. Kompanie, Heinrich W., erinnerte sich immerhin: “Eggebrecht, Heiner, wurde mit mir Unteroffizier in Simferopol, müsste aus der Thüringer Gegend gestammt haben, sein Vater war dort Pfarrer.”

Dieses Vernehmungsprotokoll war eines der zahlreichen Dokumente, aus denen von Haken sein gewaltiges Puzzle zusammensetzte und deren Aussagekraft nun vehement infrage gestellt wurde. War Eggebrecht nach Aussage des Zeugen nicht bloß “möglicherweise” in jenem 3. Zug der 2. Kompanie der Feldgendarmen gewesen, der sich zur Zeit des Massakers in Simferopol befunden hatte? Und wenn er es war, könnte er doch in dieser Zeit an einem Lehrgang teilgenommen haben, der zu seiner Beförderung zum Unteroffizier führte! Solche Einwände machten im März 2010 zwei Hamburger Professoren geltend, Claudia Maurer Zenck und Friedrich Geiger, die ihre Anmerkungen, 40 Seiten lang, ins Netz stellten.

Die FAZ referierte darüber mit dem Hinweis, dort sei der “Stand der Forschung” dokumentiert. Zu dieser Zeit war noch nicht einmal eine vollständige, autorisierte Fassung des Tübinger Vortrags von Hakens verfügbar; sie erschien erst im Juli 2010 im renommierten Archiv für Musikwissenschaft. Dass es noch einen anderen “Stand der Forschung” gab, begann deutlich zu werden, als einer der renommiertesten Holocaustforscher sich mit den Einlassungen der Kritiker befasste. Christopher R. Browning, Verfasser des Buchs Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die “Endlösung” in Polen , konstatierte bei Friedrich Geiger eine “Methodologie, die in überwältigendem Maße ausweichenden und apologetischen Zeugenaussagen (…) zu einer Art Durchschnitt zusammenzufassen.”

Wegen der sowjetischen Gegenoffensive, so Browning, habe die Wehrmacht jeden verfügbaren Mann in Simferopol gebraucht, um 14.000 Zivilisten zu exekutieren. Es entbehre “jeglicher Logik”, wie Claudia Maurer Zenck anzunehmen, dass da jemand noch eine Beurlaubung für die Vorbereitung auf ein Offiziersexamen bekam. Zu lesen war das 2012 in der amerikanischen German Studies Review, der weltweit auflagenstärksten wissenschaftlichen Zeitschrift für Forschungen zu Geschichte, Kultur und Politik im deutschsprachigen Raum. Boris von Haken erhielt erstmals die Gelegenheit, unabhängig von seinem Buchprojekt auch in Fußnoten die Quellen zu erschließen, von denen einige schon das Gerücht streuten, es gebe sie gar nicht.

Wie Browning nahm er einen von Zenck angeführten Brief in den Blick, in dem Eggebrechts Mutter ein halbes Jahr nach dem Geschehen in Simferopol Feldpost ihres Sohnes aus Feodosia kommentiert hatte: “[Er] ist Gott sei Dank nicht mit in Kertsch zur ›Säuberungsaktion‹ eingesetzt. Es war schon in Sinferopol [sic] schon [sic] so furchtbar.” Mit “Säuberungsaktion”, hatte Zenck erklärt, sei nur das “Aufspüren versprengter Feinde” gemeint. Von Haken machte sich in der German Studies Review die Mühe, anhand von vier Quellen nachzuweisen, dass “Säuberung” ein gängiger Euphemismus für Massenexekutionen von Juden war. Zenck reagierte darauf ihrerseits mit einer gegenläufigen Fußnote im kürzlich erschienenen Magazin Musik und Ästhetik, das neue wie überarbeitete Aufsätze zum “Fall Eggebrecht” versammelt.

“Too much wishful thinking” hatte Browning bei Zenck wie Geiger registriert. Letzterer bleibt auch jetzt bei einer Quelleninterpretation, in der etwa die Zugehörigkeit eines aussagekräftigen Zeugen zu jenem Zug, in dem Eggebrecht diente, unerwähnt bleibt, während umstrittene Aussagen eines Kommandeurs der Feldgendarmen als durchaus plausibel erscheinen. Minutiös nimmt Boris von Haken nun diese Argumentation auseinander – zu lesen demnächst in der Zeitschrift jener Gesellschaft für Musikforschung, die ihm 2009 ein Podium geboten hatte, sich dann im “Fall Eggebrecht” aber zurückhielt. Zwar lud sie 2012 zur Tagung “Musikwissenschaft – Nachkriegskultur – Vergangenheitspolitik” ein, nur das Thema war nicht vorgesehen. Vizepräsidentin Dörte Schmidt erklärt dazu, dass “die angekündigte vollständige Offenlegung der Quellen nicht erfolgt war”. Ohne fertiges Buch keine Diskussion? Die wurde vom Publikum erzwungen – es soll turbulent zugegangen sein.

Anne C. Shreffler von der Harvard University wundert sich: “Boris von Haken hat schon jetzt so viel vorgestellt, dass das Fach verpflichtet ist, sich damit auseinanderzusetzen.” Shreffler, selbst eine Enkelschülerin von Eggebrecht, hatte schon im November 2010 eine Tagungs-Session in Indianapolis mitorganisiert, auf der eben das vor großem Publikum geschah. Sie ist erstaunt darüber, “dass bislang kein deutscher Ordinarius für Musikwissenschaft außer Albrecht Riethmüller sich in emphatischer Form geäußert und gesagt hat: Diese Sache müssen wir näher anschauen, ernst nehmen, das geht uns an.”

Das wäre einfacher, läge das auf etwa 450 Seiten angelegte Buch vor, das schon vor drei Jahren hätte erscheinen sollen. Nicht einmal jetzt kann von Haken sagen, wann er fertig ist. Ob er damit je fertig wird? Wer die Berge von Material betrachtet, die von Haken durchgearbeitet hat – allein sein 20-seitiger neuer Aufsatz für die Musikforschung ist mit rund 90 Fußnoten bewehrt –, begreift, wo eines der Probleme für einen Forscher liegen könnte, dem keine Professur den Rücken freihält. Dass er freilich überhaupt anfangen konnte, ist der Universität Paderborn zu verdanken, die Anschubhilfe leistete.

Der 49-Jährige ist ein Archiv-Tiger, der jedes Fädchen verfolgt. Da ihm die These vom Lehrgang vor der Beförderung keine Ruhe ließ, ging er in der Deutschen Dienststelle Hunderte von Akten von Feldgendarmen durch: Nirgends ein Hinweis. Umso erheblicher, wenn Eggebrecht in seinen Taschenkalender bald nach seiner Versetzung zur FGA 683 eine “Singestunde mit dem 3. Zug” notiert. Wieder also jene Einheit, von der deren Mitglied Harry K. später sagte, “wir standen nur dort”, nämlich im Spalier”. K., mit dem Eggebrecht noch 1943 korrespondierte, wurde mit ihm gemeinsam zum Unteroffizier befördert, ebenso jener Heinrich W. aus demselben Zug, der sich bei seiner Vernehmung so detailliert an den Pastorensohn Eggebrecht erinnerte, aber an keinen Lehrgang vor der Beförderung, der doch ein erstklassiges Alibi gewesen wäre. Offensichtlich hatten sich die drei einfach im Dienst bewährt.

“Es ist naiv, zu glauben, er sei nur mitgegangen und habe an Schein und Schütz gedacht und gelitten”, sagt ein deutscher Musikhistoriker, der, um Gräben überbrücken zu können, nicht genannt werden möchte und irritiert ist über das “Verteidigungsverhalten” vieler Kollegen. Wenn die Deutschen 70 Jahre nach dem Geschehen noch nicht in der Lage seien, ihr Betroffensein von der historischen Aufklärung zu trennen, müsse man die Debatte vielleicht wirklich in die USA verlagern, “damit daraus Geschichte wird, kein Tribunal”. So sieht es auch Anne C. Shreffler. Es gehe nicht darum, einen Wissenschaftler “vollständig zu diskreditieren”. Sie möchte Eggebrecht jetzt erst recht lesen: “Ich halte es für möglich, dass er, wie so viele andere der Kriegsgeneration, mit seiner Erfahrung zu besonderen Einsichten kam.”

Bildung und Barbarei – wie gehört beides zusammen?

Das “Bedürfnis nach zweifelsfreien moralischen Verhältnissen”, wie es Richard Klein schon vor drei Jahren im Merkur der akademischen Welt vorhielt, entspricht dem Beharren auf dem “Einzeltatnachweis”, der jeden Zweifel ausschließt. Auf den verzichtet aber inzwischen selbst die Rechtsprechung, sofern es um den Holocaust geht. Vom Paradigmenwechsel in der Strafverfolgung kündet das Urteil, das im Mai 2011 gegen John Demjanjuk erging, einst Aufseher im KZ Sobibor. Der 91-Jährige, dem keine einzige “Mitwirkungshandlung” nachgewiesen werden konnte, wurde wegen “Beihilfe zum Mord” in 28.060 Fällen verurteilt (das Urteil wurde nicht rechtskräftig, da Demjanjuk während des Revisionsverfahrens gestorben ist). Freilich geht es hier um den Dienst in einer Tötungsmaschine, nicht um die Zugehörigkeit zu einem Truppenteil.

Und es geht bei Eggebrecht um keinen Prozess, sondern um eine Frage, die der Historiker Ulrich Herbert so formulierte: “Wie kriegen wir die beiden Teile seiner Biografie zusammen?” Es sind zugleich zwei Teile jüngerer Geschichte, aus der wir kommen: Bildung und Barbarei. Irgendwo dazwischen steht die rätselhafte Tagebuchnotiz vom 7. Juni 1943. Der 24-Jährige, nun vor Leningrad in der Panzerjäger-Abteilung 28, schreibt: “Was gibt es, das man sich nicht nach allen Richtungen hin erkämpfen muss? In der ersten Zeit war dieser Kampf ›nach hinten‹ schwerer als das freie Gefecht gegen den ollen Ivan. Man glaubte, ich sei nur hierhergekommen, um Offizier zu werden, und wollte mir wohl zeigen, dass das nicht so leicht ist. Aber ich bin ja doch aus ganz anderen Gründen hier und hab’ zur Sache einen großen reinen Willen.”

Der Artikel erschien am 11. Juli 2013 in der ZEIT