Der Mainzer Schott-Verlag druckte Beethovens “Neunte” und Wagners “Ring”. Corona ist die größte Krise in seiner 250-jährigen Geschichte. Eine Erkundung zwischen leeren Sälen und den Schreibtischen berühmter Komponisten
“Ich schreibe wie verrückt, ich gerate in Bereiche, von denen ich nicht mal weiß, ob ich sie mag. Da ist ein großer Wind, der mich vor sich hertreibt.” Die Frau mit dem schmalen, hellen Gesicht und den schwarzen Haaren bewegt sich auf dem Schirm nicht ganz synchron zu ihren Worten, der Datenstrom über WhatsApp stockt mitunter. Chaya Czernowin sitzt in ihrem Haus in Boston, Ostküste der USA, 6.000 Kilometer entfernt. Sie erzählt, wie das ist, wenn eine Komponistin monatelang in Quarantäne lebt, weil ein Familienmitglied sehr gefährdet ist. “Komponisten arbeiten im Kopf immer an ihrem Stück, das läuft wie Underground-Prozesse im Computer. Jetzt gerät diese interne Realität an die Oberfläche, weil ich jederzeit an den Schreibtisch kann.”
Chaya Czernowin publiziert bei einem Verlag, in dem man sich über jeden Ton freut, den sie zu Papier bringt. Es ist einer der großen deutschen Musikverlage. Einer, der auch Kompositionsaufträge mit Orchestern, Theatern, Festivals aushandelt, die Partituren druckt, nach peniblem Lektorat, und Stimmen für die Musiker, der sich um Aufführungsvergütungen kümmert und darum, dass die 1957 in Israel geborene Komponistin so viel wie möglich gespielt wird. Vorwiegend in Deutschland, wo Czernowin deswegen eine ihrer “heimats” sieht, wie so viele Komponisten. Der Verlag heißt Schott und wurde vor 250 Jahren gegründet. Jetzt steckt er in der größten Krise seiner Geschichte, die Weltkriege eingeschlossen. 2.500 Aufführungen seiner Komponisten wurden bislang abgesagt.
Bis März fieberte man in Mainz, wo der der junge Klarinettist und Notenstecher Bernhard Schott 1770 mit Musikdrucken begann, noch dem Jubiläum entgegen, das so schön mit dem von Beethoven zusammenfällt. Der hatte den beiden Söhnen des Gründers 1824 ein Angebot gemacht: “eine neue große solenne Meße (…) so schwer es mir wird über mich selbst zu reden, so halte ich sie doch für mein gröstes werk, das Honorar wär 1000 fl. in C.M. , eine neue große Sinfonie, welche mit einem Finale (auf Art meiner Klawier-Fantasie mit Chor) jedoch weit größer gehalten mit Solo ‘s u. Chören von Singstimmen die worte von Schillers unsterbl. bekannten lied an die Freude schließt. das Honor. 600 fl. C.M. ..”
Umgerechnet 15.000 Euro für die Neunte, einschließlich Aufführungsrecht? Die Brüder Schott schlugen ein. Die Mainzer druckten die Missa Solemnis, die Neunte, zwei Streichquartette und mussten die Investition nicht bereuen. Ebenso wenig wie bei Wagners Ring, Strawinskys Feuervogel, Orffs Carmina Burana oder dem ganzen Hindemith. Hier erschien Musik von Ligeti und Penderecki, die durch Kubricks Eyes Wide Shut und Shining auch Kinogänger kennen, hier fand der Wahlitaliener Hans Werner Henze seine verlegerische Heimat, wie Aribert Reimann und Jörg Widmann.
Letzterer, 47 Jahre alt, hatte am 1. März dieses Jahres im Leipziger Gewandhaus dirigiert, eigene und klassische Musik, als er erfuhr, dass die anschließende Japanreise gestrichen war. Dann ging alles ganz schnell. “Zuerst brach der Verkauf von Noten ein”, berichtet Christiane Albiez aus der Geschäftsleitung, “von 5.000 Bestellungen pro Woche auf ein Viertel. Musikalienhandlungen auf der ganzen Welt mussten schließen.” Auch Amazon bestellte nichts mehr aus dem Lager im Mainzer Vorort Hechtsheim, wo 35.000 Schott-Titel und 120.000 von anderen Verlagen bereitliegen. Dann wurden in einem Land nach dem anderen die Opernhäuser und Konzertsäle dichtgemacht, alle Aufführungen abgesagt, die Party mit 800 Gästen sowieso. Da Einnahmen aus Aufführungen und Lizenzen die zweite und ebenso wichtige Säule des Verlages sind, stürzte der Umsatz, sonst 30 Millionen Euro im Jahr, über Nacht auf Null, 200 Mitarbeiter wurden in Kurzarbeit geschickt.
“Jetzt werde ich lebendig”, sagt der Patriarch
Beethovens Verlag am Abgrund? Da entdeckte selbst das ZDF den global player in der Mainzer Nachbarschaft. Peter Hanser-Strecker, der seit 52 Jahren den Verlag leitet, sprach im heute-journal von einer “unvorstellbaren Katastrophe”. Er wirkte erschüttert, inzwischen ist er wütend. Das “Verbot, wahrgenommen zu werden”, hält er für eine “Perversion”, ein Musikleben nach geltenden Hygieneregeln für eine “Simulation”, so sehr er Wagnisse wie bei den Salzburger Festspielen bewundert. “Ich bin jetzt 78, eigentlich habe ich das Berufsleben hinter mir. Aber jetzt werde ich lebendig. Ich sehe, dass wir kämpfen müssen, das haben wir zu wenig gemacht.” Denn schon zuvor erwuchsen den Urhebern Gefahren, etwa durch Abgreifer im Internet, die in großem Stil den Schutz des geistigen Eigentums aushöhlen.
An die 1.000 Uraufführungen hat der Schott-Patriarch begleitet, die neuesten 35 liegen nun auf Eis. Auch die der Fünf Stücke für Orchester, die Aribert Reimann für die Staatskapelle Dresden komponiert hat. “Man lebt darauf hin”, sagt am Telefon in Berlin der 84-Jährige, der mit Sofia Gubaidulina, Steve Reich, Helmut Lachenmann zu den Großen seiner Generation zählt. “Es wäre mir wichtig gewesen, das zu hören, da ich versuchte, in andere Klangebenen reinzugehen. Aber ich habe den Schock überwunden. Ich arbeite ununterbrochen. Ich bin beim Komponieren ja ohnehin immer ‘der Welt abhanden gekommen’.” Aber Werke für große Orchester wie das, an dem Reimann nun sitzt, sind mit Abstand am schwierigsten zu realisieren.
Seine meistgespielte Oper, Lear, wäre im April in Madrid über die Bühne gegangen, nun ist sogar ungewiss, ob drei geplante Neuinszenierungen im kommenden Jahr stattfinden können. Komponisten werden vom Lockdown und seinen Folgen so brutal getroffen wie ihre Verlage. Die meisten leben, außer von Auftragshonoraren, von den Tantiemen der Aufführungen. Ein Recht auf Ausfalltantiemen gibt es nicht. Da die Urhebervergütungen von der Zahl der Besucher abhängen, werden Autoren – auch Librettisten – wenig davon haben, wenn ihre Werke nur vor einem Bruchteil des normalen Publikums gespielt werden. Die Mitwirkenden werden wie früher bezahlt, der Komponist aber muss sich mit einem Viertel seiner Einkünfte begnügen? Da geht der Verlust an einem großen Opernhaus schon mal in die Tausende.
“Das hat mit angemessener Vergütung nichts mehr zu tun – und die ist im Urheberrecht verbrieft”, sagt Tilman Kannegießer-Strohmeier. Der 56-Jährige, Verlagsleiter des Musikverlags Boosey & Hawkes in Berlin, engagiert sich im Vorstand des Verbands Deutscher Bühnen- und Medienverlage. “Die Krise ist so groß und wirkt so weit in die Zukunft, wie keiner es sich hat vorstellen können.” Boosey ist dabei noch in der glücklichen Lage, als Teil des Musikgiganten Concord nicht in Kurzarbeit gehen zu müssen. Der US-Konzern verwertet rund 400.000 Copyrights vor allem der Popbranche. Doch renommierte Opernkomponisten wie Detlev Glanert haben nichts von Pink-Floyd-Streamings. Mit den Theatern ist man im Gespräch darüber, “wie viel mehr sie zahlen könnten, als sie rechnerisch müssten”, um Komponisten vor der Insolvenz zu bewahren. Aber auch die Theater, vom Lockdown leergefegt, müssen ihr Geld zusammenhalten.
Auch J.S. Bachs frühester Verlag ist jetzt bedroht
Für die Bühnenverlage gibt es zwar Bundesmittel aus dem “Neustart Kultur”, aber nur damit sind sie nicht zu retten – überwiegend Familienunternehmen von Weltrang: Schott, Peters, Bärenreiter oder Breitkopf & Härtel – der älteste Musikverlag überhaupt, der schon Johann Sebastian Bach unter Vertrag hatte. Für sie alle sind neben dem Notenverkauf – der sich allmählich erholt – die Verwertungsrechte und die Vermietung von Aufführungsmaterial die wichtigsten Einnahmequellen. Abgesehen von Dauerbrennern wie Don Giovanni – von dem Schott 1791 den ersten Klavierauszug druckte – mieten Theater und Orchester die Noten, aus denen sie spielen; auch die Gebühr dafür hängt von der Zahl verkäuflicher Plätze ab. “Derzeit”, so Christiane Albiez vom Schott-Verlag, “ist zu befürchten, dass die Einnahmen aus Aufführungen und anderen Lizenzvergaben um 80 Prozent zurückgehen. Halb volle Säle sind halb leere Säle, unsere Kosten bleiben aber, weil man das hochspezialisierte Personal nicht jetzt entlassen und in einem Jahr wieder einstellen kann.”
Neben den USA freilich wirkt die deutsche Lage noch luxuriös. Auf dem gigantischen Markt der “Shows”, der Musicals, privat finanziert, verloren Abertausende von Musikern ihre Jobs. Viele nichtkommerzielle Tonsetzer dort haben ihr Publikum indessen in Europa, so wie Chaya Czernowin. Sie hat an der Harvard University eine Professur, “aber es gibt in Amerika viele, die nicht wissen, was sie nächste Woche essen sollen. Es ist ein Versagen auf allen Ebenen, das alle systemischen Probleme dieses Landes offenlegt”. Sie ist “süchtig nach Nachrichten, das Desaster beobachtend und Zeichen der Hoffnung wie black lives matter. Da sehe ich wirklich die Chance für eine substanzielle Änderung. Aber wenn du nur mit vier Leuten in der realen Welt bist und alle anderen über Zoom, Skype, WhatsApp triffst – strange feeling”.
Noch seltsamer, dass ihr das alles bekannt vorkommt. Czernowins Oper Infinite Now, 2017 in Gent und Mannheim zuerst aufgeführt, verbindet das ungewisse Verharren in den Gräben des Ersten Weltkriegs mit der Erzählung von einer Frau, die ein Haus an einem Abgrund nicht verlassen kann, und der Frage, wie sich Hoffnung finden lässt. “Man schaut zehn Kilometer in diese Richtung, zehn Kilometer in die andere, mit einem myopischen, kurzsichtigen Bewusstsein, genau wie wir jetzt mit Corona. Infinite Now ist wirklich wie eine Vorahnung, nicht den Umständen nach, aber innerlich, musikalisch. In der Musik wird die Zeit aufgehoben wie jetzt. Eine Woche geht dahin, aber es fühlt sich an, als wäre es ein Tag.” Seitdem die Produktion online ist, gibt es täglich rund 800 Aufrufe.
Nicht nur von Amerika aus gesehen ist Deutschland noch immer ein Paradies der Musik mit seiner einzigartigen Dichte hochsubventionierter Institutionen. Doch zum einen sind Tausende Musiker außerhalb der Tarifgehege schon lange in Schräglage, zum anderen wird mit geschrumpften Eigeneinnahmen der subventionierten Häuser auch deren Förderung schwierig. “Die Haushalte der Kommunen und Länder werden durch die Corona-Kosten so unter Druck geraten”, vermutet Kannegießer, “dass der Erhalt von öffentlichen Kulturbetrieben im bisherigen Umfang ohne Unterstützung des Bundes wahrscheinlich nicht möglich sein wird.” Einem Dreispartenhaus wie in Stuttgart drohen bereits Einnahmeverluste von 7,4 Millionen Euro. Die enorme Kreativität, mit der viele Künstler und Intendanten auf den Lockdown reagieren, bringt den Berliner Verlagsleiter auf den Gedanken, ob nicht “eine riesige Chance” in einem gewissen Strukturwandel liegt. “Digitale oder interaktive Formate, die junges Publikum einsammeln, das während der Krise am Bildschirm Opernlunte gerochen hat, werden dazukommen. Kreative Kooperation zwischen den Häusern könnte das Gebot der Stunde sein.”
“Es geht nicht ohne Risiko, und man muss darüber nachdenken”
Der Schott-Verleger Hanser-Strecker in Mainz will es gar nicht so weit kommen lassen, dass irgendetwas dichtgemacht wird, “ohne zu fragen, was wir da verlieren”, und “ganze Werkgattungen ausgeschaltet werden wie Dinosaurier. Wenn die Milliardenpakete nicht an der richtigen Stelle landen, ist das Wurzelwerk unwiederbringlich zerstört”. Wurzelwerk, das ist bescheiden gesagt. Man könnte die Musikkultur in Deutschland auch als einen gewaltigen Baum beschreiben, in mehr als 500 Jahren gewachsen, mit Wurzeln in ganz Europa und darüber hinaus, ein Baum, der nicht in ökonomischen Festmetern zu messen ist – auch wenn die “Klassik” beiträgt zu den 100 Milliarden Euro “Bruttowertschöpfung”, mit denen die Kultur- und Kreativwirtschaft an zweiter Stelle hinter der Autoindustrie liegt. Das Bewusstsein dafür ist in der Politik in den letzten Monaten gewachsen.
Was tat der Klarinettist, Dirigent und Lehrer Jörg Widmann, als ab März sein Kalender plötzlich leer war? “Ich hatte mir immer gewünscht, mehrere Wochen am Stück Zeit zum Komponieren zu haben. Jetzt waren es sogar Monate. Und ich konnte nicht! Eine Lähmung, die ich mir nicht erklären kann.” Im Juni wurde der Bann gebrochen – Daniel Barenboim wollte ein Stück für den leeren Pierre Boulez Saal in Berlin, für fünf Musiker. Mit einem Atmen und einem Metallklang beginnt und endet Widmanns Empty Space. Flöte, Klarinette, Geige, Klavier und Schlagzeug erschaffen in neun Minuten eine zerbrechlich zusammenhängende Musik. “Ich wollte, dass wir noch weiter auseinanderstehen als erlaubt, damit man erst recht spürt, wie sich der leere Raum füllt.”
Aber nur das reale Füllen der Räume wird verhindern können, dass “alles zusammenbricht, was sich in den letzten Jahrhunderten aufgebaut hat”, wie Aribert Reimann sagt. “Dass Konzerthäuser gefährlicher sein sollen als Gaststätten, leuchtet mir nicht ein”, sagte schon Ende Juni die Intendantin der Berliner Philharmoniker, Andrea Zietzschmann. Berühmt wurden die Fotos, die der Bariton Michael Volle postete, als es langsam wieder losging: der randvolle Flieger, in dem er saß, das fast leere Theater, in dem er sang. Längst gibt es Erwägungen, Konzertbesuche lückenlos, aber nur mit Corona-App zu erlauben – ein Risiko bleibt auch dann. “Es geht nicht ohne Risiko”, meint Tilman Kannegießer-Strohmeier, “und man muss darüber nachdenken, weil die Häuser sonst in die Knie gehen.”
Dieser Text erschien auf ZEIT online am 17.8.2020, in kürzerer Fassung in der ZEIT vom 13.8.2020 mit der Überschrift: “Das Jahrhundertwerk muss überleben” und ist urheberrechtlich geschützt. Für die Publikation auf dieser Website wurden die Überschrift geändert und Zwischenzeilen eingefügt. Bild: Chaya Czernowin, 2017 fotografiert von Irina Rozowsky für The New Yorker