26. Juni 2020

karussell

> In Schräglage waren die freischaffenden Musiker in Deutschland schon, als ich im vorigen Dezember für VAN ihre Situation recherchierte. Wie es nach gut drei Monaten Lockdown aussieht, in Seelen, Sälen und auf den Konten, ist in „Himmel ohne Geigen“ zu lesen (illustriert mit dem leeren Karussell, von Laurent Thomas fotografiert). Besser gesichert, aber künstlerisch nicht weniger betroffen sind die tariflich bezahlten Musiker. Und mit ihren geplanten Konzerten entfallen auch die Programmtexte. Nobel finde ich es, dass das Gürzenich-Orchester Köln einen Essay zu Bruckners Erster – sie hätte zu Beginn dieser Woche erklingen sollen – nicht einfach cancelte, sondern mitten in Coronas Interregnum vollenden ließ, honorierte und, ungeachtet erhoffter späterer Verwendung, mir erlaubte, ihn schon auf dieser Website zu plazieren: „Mission accomplished, Hochwürden!“

Unterdessen öffnet sich in Dresden ein unvergleichliches Zeitfenster: Das Silbermann-Archiv. Für diesen Schatz würde es sich lohnen, die Kurrentschrift lesen zu lernen. Er schreibt sehr deutlich, der Orgelbauer Johann Andreas Silbermann, dessen Sinn für Humor und Bodenhaftung selbst in so einem Titel schimmert: „Bericht von Orgelmachern auch Organisten welche sich auf Orgeln verstanden oder vielmehr haben verstehen wollen“. Gut 180 Persönlichkeiten seiner eigenen Branche hat Johann Andreas Silbermann im 18. Jahrhundert getroffen und, mitsamt ihrer Arbeit, beschrieben. Und das ist nur der dritte von sechs Bänden des „Silbermann-Archivs“, dessen knapp 2000 Seiten jetzt vollständig online lesbar sind – die SLUB (Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden) hat sie gekauft und so rasant und gut erschlossen, dass man kaum wagt, auch noch um eine Transkription zu bitten.

Wer Silbermann auch nur ein bisschen kennt, weiß, dass die Lektüre sich nicht nur für Organisten lohnt. Der Orgelbauer, heute, am 26. Juni, vor 308 Jahren in Straßburg geboren (Félicitations!), hatte sein Comeback als Autor vor fünf Jahren, als die SLUB sein Reisetagebuch von 1741 öffentlich machte – es erwies sich als eine der spannendsten Quellen auch zum Alltag jener Zeit, vom Sperrgeld bis zur Divengage, von der Hoforgie bis zum Synagogenbesuch. Ich bin Silbermanns Reise 2015 für die ZEIT gefolgt. Nun sind also alle seine Schriften beieinander. Das „Archiv“ umfasst auch Beschreibungen seiner eigenen Instrumente und derer seines Vaters Andreas, Details zu knapp 250 Instrumenten in ganz Europa (etwa der Vorgängerin der jetzigen Orgel von Notre Dame in Paris) und aller Orgeln im Elsass, dessen Kind er war.

Was so ein Schatz kostet, den Bund, Kulturstiftung der Länder und die Ernst von Siemens Kunststiftung mitfinanziert haben? 200.000 Euro. Man kann sich dafür natürlich auch einen Lamborghini Huracán kaufen und im 21. Jahrhundert Kreise fahren.