Silbermanns Reise

Dieser Fund ist eine Sensation: Das Tagebuch des berühmten Orgelbauers Johann Andreas Silbermann, verfasst auf einer Fahrt quer durch Deutschland im Jahr 1741, entfaltet ein einzigartiges Panorama des damaligen Alltagslebens.

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Es klopft an der Tür, Überraschungsbesuch! Orgelbauer Gottfried Silbermann wirkt gereizt. Er ist ein empfindlicher Mann, einer der Größten seiner Zunft. 42 Orgeln hat er schon gebaut, darunter die für die Dresdner Frauenkirche, nun arbeitet der 58-Jährige in Zittau an einem seiner gewaltigsten Werke, 44 Register stark, mit drei Manualen, für die Johanniskirche der reichen Stadt im äußersten Südosten Sachsens. Im Waisenhaus hat er seine Werkstatt eingerichtet, in die nun, begleitet von Silbermanns Vetter aus Dresden, ein junger Mann platzt, der, ehe er vorgestellt werden kann, schon losredet, deutsch, aber nicht sächsisch.

Er habe so viel von seinen Kunstwerken gehört, sagt der Fremde, und auch schon in die Kirche geschaut; es sei ihm eine Ehre, ihn zu treffen. Silbermann, genervt wie geschmeichelt, macht sich an einer großen Pfeife zu schaffen, die auf dem Boden liegt, setzt einen Blasebalg an, lässt den Ton hören. Und stellt erstaunt fest, dass der Besucher sich zur Ecke des Raumes wendet, um den Ton zu prüfen. Das machen nur Profis, Orgelbauer wie er. Von jeher auf der Hut vor Konkurrenz, wird er misstrauisch. Gespannte Stille herrscht, als der Dresdner Verwandte schleunigst den Fremden vorstellt: Es ist Gottfried Silbermanns eigener Neffe Johann Andreas.

“Worauf mir [der Onkel] um den halß fiel und embrassierte und gleich fragte, wie lang ich bey ihm bleiben wolte”, notiert dieser Neffe am selben Tag, dem 18. März 1741, in sein Tagebuch, dem wir die Schilderung des Besuches in der Zittauer Werkstatt verdanken. Nach vierwöchiger Reise ist der 29 Jahre alte Johann Andreas Silbermann dort angelangt und kann sich, als er endlich vor seinem berühmten Onkel steht, das Spielchen mit dem Inkognito nicht verkneifen: Niemand wird damit rechnen, dass er hier erscheint, dass er die weite Reise aus Straßburg auf sich nimmt, er, der Sohn von Andreas Silbermann, Gottfrieds älterem Bruder, bei dem auch Gottfried selbst einst lernte, bevor er nach Sachsen zurückkehrte.

Johann Andreas wird sich als würdiger Nachfolger in der Silbermannschen Orgelbauer-Dynastie erweisen. 57 Orgeln baut er in seinem Leben, rund 15 davon sind erhalten, in der Basler Predigerkirche etwa, in Straßburg und Mülhausen. Doch was nun, im November 2014, bei Sotheby’s ans Licht kam, dürfte sie, zumindest aus heutiger Sicht, in den Schatten stellen. Es ist Silbermanns unscheinbarstes Werk, 18 mal 22 mal 6 Zentimeter groß, 1174 Gramm schwer, 284 Seiten dick: das Tagebuch seiner Reise im Jahre 1741, von dem keiner wusste außer dem anonymen Besitzer in Frankreich. Für gut 140.000 Euro wurde es für die Sächsische Landesbibliothek / Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, kurz SLUB, erworben. Die zahlte ein Viertel des Preises, den Rest übernahmen die Ernst von Siemens Kunststiftung, die Kulturstiftung der Länder und der Freistaat Sachsen: Vor sechs Wochen traf der Band in Dresden ein, wurde sofort digitalisiert und kann jetzt online durchblättert werden unter www.slub-dresden.de.

In vier Wochen von Straßburg nach Zittau

Reisetexte aus dem 18. Jahrhundert gibt es einige, mit und ohne Musik. Die Briefe Mozarts und seines Vaters gehören dazu, die italienische Reise Goethes und The Present State of Music, das Tagebuch einer musikalischen Reise, das der britische Komponist und Organist Charles Burney 1771 veröffentlichte. Doch Silbermann ist drei Jahrzehnte früher unterwegs, und er reist weder als Dichter noch als Journalist, noch als Musiker, nicht als Profi. Er ist zwar Orgelexperte, interessiert sich aber für alles. Da er aus dem französisch beherrschten Straßburg kommt, wundert er sich über Dinge, die andere gar nicht erwähnen. “Das ist gesättigte Alltagsgeschichte von der spannendsten Sorte”, sagt Thomas Bürger, Generaldirektor der SLUB. “Und ein Tagebuch, das durch ganz Mitteldeutschland führt, gab es noch nicht.”

Silbermann bricht am Morgen des 21. Februar 1741 auf, “nachdem ich mir schon längstens eine Reyse in Sachsen zu thun vorgenomen”, wie er schreibt. Ins Land seines Vaters also geht es, der 1678 in Kleinbobritzsch als ältester Sohn eines Zimmermanns zur Welt kam, sich mit 23 Jahren in Straßburg niederließ, nach einer Fortbildung in Paris die französische Linie des Orgelbaus verfolgte und die Orgel des Straßburger Münsters schuf. Er starb schon mit 55 Jahren, Johann Andreas übernahm, keine 22 Jahre alt, die Werkstatt. Just vor seiner Reise hat er jene Orgel in St. Johann fertiggestellt, auf der 1778 der durchreisende Mozart spielen wird.

Gefährte in der Postkutsche gen Nordosten ist der Bildhauer Johann Nahl. Der gebürtige Berliner soll bei der Innenausstattung der Schlösser mitwirken, die Preußenkönig Friedrich II. bauen lässt – ein Regent, dessen Truppen gerade die der Habsburger aus Schlesien vertrieben haben, woraufhin sich in Dresden, fünf Tage ist das erst her, England, Russland, Österreich, Sachsen und die Niederlande gegen den machthungrigen Youngster aus Potsdam verbündet haben. Davon wird Silbermann noch etwas mitbekommen. Jetzt rumpeln sie über den Rhein, vom Bistum Straßburg in die Markgrafschaft Baden-Baden, und erreichen abends Rastatt.

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Damit hat Silbermann 60 von rund 1.400 Kilometern hinter sich, die er, mit Umwegen, bis Berlin zurücklegen wird, und den ersten von etwa 20 Grenzübertritten – durch so viele (Klein-)Staaten, Mark- und Landgrafschaften, Bistümer, Fürstentümer und Herzogtümer führt die Route. Anfangs reist er zügig. Erst ab Thüringen nimmt er sich Zeit, bis dahin werden vor allem places of interest abgearbeitet, die noch heute jeder Pauschaltourist auf der Liste hat. Am Heidelberger Schloss nimmt der Orgelbauer Maß; in “schu” notiert er die Dicke der Mauern.

Überhaupt liebt er Zahlen, ob es um Stunden oder Taler geht. “Vor [für] den Postwagen vor eine Station ½ Schilling. War es aber 1½ Station nemblich 6 Stunden, so kostete der Wagen ½ Thaler. Dem Postknecht ½ Schilling Trinkgeld”, notiert Silbermann hinter Frankfurt, wo er die Innenausstattung des Römers mit fotografischer Präzision geschildert hat. Für die 20 Kilometer bis Hanau braucht die Kutsche mit vier Pferden vier Stunden. Wenn man einen Taler mit etwa 80 Euro veranschlagt und das Tempo mit fünf Kilometern in der Stunde, kostet ein Kilometer die beiden Reisenden also gut 1,40 Euro. Noch kostspieliger wird es, wenn sie die “Extrapost” nehmen, einen Mietwagen.

Nach zehn Stunden Fahrt erreicht Silbermanns Wagen am 25. Februar 1741 die Stadt Gelnhausen zu nachtschlafender Stunde. “Wir mussten da eine halbstunde warten ehe man uns das thor aufthat, den die Wache hat geschlaffen, da sie vom posthorn blasen nicht erwachen wollte, so stürmten wir das thor mit steinen so lange biß der wächter aufwachte.” Am nächsten Tag geht es – parallel zur ICE-Strecke von heute – über Schlüchtern bis Fulda, am übernächsten bis Vacha und am 28. Februar durch den Thüringer Wald nach Eisenach.

Es regnet aus Eimern, und Silbermann gefällt gar nichts. Die Orgel der Georgenkirche, konzipiert von einem Onkel Bachs, findet er “entsetzlich konfus”, obwohl ein Schüler seines Vaters Andreas sie gerade renoviert hat. Dass auch der aktuelle Organist ein Bach ist, Johann Bernhard, scheint ihn nicht zu interessieren, und wenig charmant beurteilt er die Eisenacher Damenmode: “Die Tracht der Weibsleuthe siehet recht alber aus, sie lauffen alle mit schwartzen Mändeln /: es mag regnen oder nicht :/ wie in Strasburg die Gardner haben, und meistens baarfuß, auf den Köpfen haben sie dicke peltzkappen.”

 ”Fast alle 60 Schritt 3eckigte blecherne laternen”

In Gotha lobt er dagegen die blauen, mit Gold gesäumten Mäntel der vornehmeren Frauen, schildert ausführlich das Schloss Friedenstein und staunt wie schon in Eisenach über eine Stadtbeleuchtung, wie er sie bis dahin offenbar nicht kannte: “Fast alle 60 Schritt 3eckigte blecherne laternen, welche des nachts angezünden werden.” Tatsächlich zählen die mitteldeutschen Städte zu den Vorreitern dieser Neuerung, die sich, von Paris und Wien kommend, im 18. Jahrhundert durchsetzt und die Wahrnehmungsgewohnheiten ändert. Der natürliche Wechsel von Licht und Dunkel verliert seine Macht.

Nicht aber das Wetter. Der Winter dieses Jahres ist einer der längsten und härtesten des Jahrhunderts; in Irland kostet die darauf folgende Hungersnot mehr als jeden dritten der 2,4 Millionen Einwohner das Leben. Auf dem Weg von Erfurt nach Weimar bleibt bei Marienroda der Wagen im Schnee stecken, am nächsten Morgen macht man schon um vier Uhr einen zweiten Anlauf. “Es war entsetzlich kalt, windete und schneyete dabey so starck, daß wir fast verstarrten.” Dann gerät die Kutsche in tiefen Morast, “und die pferde [sind] durch das entsetzliche prügeln schon so abgemattet das der kutscher auf 2 dörffer laufen muste um vorspan zu hohlen.”

Zwei Tage später, am 6. März 1741, steckt Silbermann schon wieder im Matsch. Von Halle aus ist sein Freund Nahle nach Berlin aufgebrochen, er selbst braucht für den Weg ins nahe Leipzig einen ganzen Tag. Die schwer beladene Linienkutsche bricht durchs Eis in den Morast, aus dem acht Pferde sie nicht zerren können. Drei Stunden wandert er zu Fuß nach Schkeuditz und wäre “fast vor hunger darnieder gefallen”, weil seine “schweren Kleider und Stieffel mir auch zum gehen incommode waren”. Dann wartet er zwei Stunden auf den Wagen, der es aber auch nur bis Möckern schafft, “ein elend orth da zu übernachten”.

Mit einem Leipziger Ehepaar aus der Kutsche, das ihn beherbergen wird, geht er den Rest der Strecke bis Leipzig zu Fuß, bezahlt abends um zehn am Stadttor einen Groschen Sperrgeld und ist nun, erneut begeistert von beleuchteten Gassen, in derselben Stadt wie der 56-jährige Johann Sebastian Bach – falls der da ist in den stillen Tagen vor Karfreitag. Es ist das Rätsel dieser Reise in Bachs Lande, dass der Orgelexperte Silbermann sich um den Kollegen und Komponisten offenbar nicht bemüht, den er an anderer Stelle den “alte[n] berühmte[n] Herr[n] Bach von Leipzig” nennt, auch in Kenntnis von dessen Kontakt mit seinem Onkel Gottfried Silbermann.

Mit Bachs Schüler in der Paulinerkirche

Der hat es einmal “höchst übel aufgenommen”, als Bach ihn kritisierte. Silbermann hatte ein Tasteninstrument weiterentwickelt, auf dem eine unbegrenzte Differenzierung der Lautstärke möglich war, das Fortepiano, und es Anfang der 1730er Jahre Bach vorgeführt, der voll des Lobes war. Nur die hohen Töne fand er zu schwach und schwer spielbar. Silbermann, “der gar keinen Tadel an seinen Ausarbeitungen leiden konnte [...], zürnte deswegen lange mit dem Hrn. Bach”, berichtet dessen Schüler Johann Friedrich Agricola. Doch er beherzigte die Kritik. Bach spielte 1747 auf den verbesserten Instrumenten und beteiligte sich an deren Vertrieb.

Das spricht nicht für ein tiefes Zerwürfnis, das auch Gottfrieds Neffen beschäftigt haben müsste. Dennoch scheint er in Leipzig um die Thomaskirche geradezu herumzuschleichen, während er die Stadt so genau beschreibt, dass man Bachs unmittelbarer Umgebung so nah kommt wie selten. Ein Schüler Bachs, Gottfried August Homilius – er wurde einer der großen Komponisten seiner Generation –, führt den Reisenden in die Paulinerkirche, wo er die Orgel und ihren Erbauer Johann Scheibe kennenlernen möchte. “Zuvor aber bathe mich H Emilius um Gottes Willen mich nicht zu erkennen zu geben.”

Offensichtlich ist Konkurrenzangst eine Berufskrankheit dieser Zunft. Erst Schmeicheleien bewegen den misstrauischen Alten, seine Orgel vorzuführen, an der alles nur mit größter Kraft zu bedienen ist, die Register wie die Tasten und Pedale. Homilius flüstert dem Besucher zu: “Finger und füße thun nur weh von der Gewalt die ich brauchen mus.” Auch Bach fand übrigens, dass mit diesem Gerät “schwerlich jedem Stücke beyzukommen” sei. Er ist auf seltsame Weise abwesend anwesend zwischen den Zeilen, die Silbermann mal rasch hinkrakelt, mal fast kalligrafisch gestaltet, wie einer, der seine Notizen ins Reine schreibt.

Sosehr wir ein Treffen mit Bach vermissen, so unschätzbar ist die Schilderung eines lutherischen Gottesdienstes jener Zeit, wie sie Silbermann am 12. März 1741 von seiner nächsten Station liefert. Er hat Freiberg erreicht, die Heimat des Onkels, der derzeit in Zittau arbeitet. Um sieben Uhr morgens kommen die “weibsleuthe” in die Kirche und singen, um acht geht es offiziell los. “Wan ein Gesang bald aus ist, so stecket der Cantor widerum in eine am lettner fest gemachte Rahm ein schwartz brett hinein. Worauf die Nummero des Gesanges mit weissen Zahlen geschrieben ist, welches überal kann gesehen werden.” Der Pfarrer spricht etwa 90 Minuten lang in der eisigen Kirche. Als er zu Gebeten für den König (also August von Sachsen) auffordert, bemerkt Silbermann “nicht ohne Verwunderung”, “daß auf diese zwey gebetter fast keine Aufmerksamkeit gemacht wird, auf denen lettnern setzten viel Männer ihre Mützen auf, und plauderten”.

Ebenso ausführlich schildert er zwei Stunden im Freiberger Silberbergwerk. Rund um die Uhr wird dort in Sechs-Stunden-Schichten gearbeitet, auch mit Sprengstoff. Die Schmelzhütte kommt ihm vor wie die Hölle, “wegen dem sehr vielen feuer, und dem entsetzlichen dampff, welcher grün, gelb und schwartz sich allenthalben herumziehet”.

Drei Tage später, am 18. März 1741, hat Silbermann Zittau erreicht und überrascht seinen Onkel, mit dem er sich bestens versteht. Sechs Wochen bleibt er auf Besuch, sieht sich die Bibliothek mit Cranachs Bildnis des Kaisers Maximilian an, zeichnet selbst ziemlich professionell, macht Ausflüge, unterzieht sich einem Aderlass, hilft beim Bau der Orgel, die nur 16 Jahre alt werden wird: 1757 schießen österreichische Truppen die Stadt in Trümmer, da die preußischen Besatzer sie nicht räumen wollen. Silbermann hat diese Nachricht, die ganz Europa erschüttert, seinem Reisetagebuch später hinzugefügt.

Der “böse Mann in Berlin” beginnt den Krieg

Noch während Silbermann in Zittau weilt, hat der “böse Mann in Berlin”, wie die Habsburgerin Maria Theresia den expansiven Preußenkönig nennt, “seine erste Schlacht gewonnen”. So umschreiben die Geschichtsbücher ein fünfstündiges Gemetzel im schlesischen Mollwitz, bei dem von 40.000 Soldaten annähernd 10.000 getötet werden; “d 14. Aprilis”, notiert Silbermann, “kam der bericht her wegen der zwischen denen Preussen und Österreichern bey Mollwitz in der Schlesing geschehenen, und zum nachtheil der leztern ausgefallenen schlacht und bekam die hießige garnißon ordre sich stündlich marschfertig zu halten”.

Am 1. Mai – noch immer schneit es! – macht sich Silbermann auf den Weg ins goldene Dresden. Auch hier, wo die Laternen aus Glas sind und allmorgendlich gesäubert werden, hat er Verwandte und steht in Kontakt zu Musikern wie Johann Georg Pisendel, dem Konzertmeister der Hofkapelle. Mit ihm besucht er das Grüne Gewölbe, für das schon damals die Besucherzahlen limitiert sind: “Mehr Persohnen als fünffe führet man auf einmal nicht hinein”, und auch das nur auf schriftlichen Antrag. Besuchern werden “durch Bediente die Schue abgebürstet insonderheit unten, damit man nicht den geringsten unrath mit hinein tragen kan”.

Durch seinen Begleiter Pisendel lernt er auch dessen Chef kennen, den 42-jährigen Johann Adolf Hasse. Seit acht Jahren formt der Hofkapellmeister hier eines der besten Opernensembles Europas, an der Spitze seine Frau, die venezianische Diva Faustina Bordoni. Die Mezzosopranistin bittet Silbermann neben sich auf das Sofa. Ihr Gehalt beeindruckt ihn offenbar mehr als die Frau selbst: “Beyde [zusammen] bekomen monatlich vom König 500 Thlr., macht jährlich 6000 Thlr.” Das sind etwa 360.000 Euro, von denen Faustina zwei Drittel einstreicht, was dem Verhältnis zwischen Diven und Dirigenten noch heute entspricht. Der ebenfalls bei Hof beschäftigte, Hasse an Genie weit übertreffende Komponist Jan Dismas Zelenka bekommt nicht ein Zehntel davon, Bachs Sohn Friedemann orgelt an der Dresdner Sophienkirche für gerade mal 6.000 Euro im Jahr. Man nimmt es Silbermann durchaus ein bisschen übel, dass er nicht auch diese beiden besuchte. Doch dafür überliefert er einen Pfingstgottesdienst, bei dem Hasse ein 70-Mann-Orchester leitet, ein Kastrat das dreigestrichene g erreicht und zum Abendmahl der Kammerviolinist Francesco Maria Cattaneo “ganz allein ohne accompagnement ein Solo auf der Violin” spielt.

“…soffen sich etliche nach hoffmanier 2 Mahl voll”

Zwei Tage später geben die wohlhabenden Verwandten dem Vetter ein Abschiedsessen, das er nicht vergisst. 20 Personen schmausen von mittags bis fünf Uhr morgens “und soffen sich etliche nach hoffmanier 2 Mahl voll”, während “Musicanten mit Waldhörnern und andren Instrumenten” aufspielen. Vielleicht ist auch “Mademoiselle Schweffelgelb” dabei, wie Silbermann eine Schöne verschlüsselt, mit der er “ungemein vergnügt” nach Meißen hätte reisen mögen. Da er für das Fräulein aber “zu viel Hochachtung hatte, so thate mir gewalt an, und suchte durch meine abreyße einer gelegenheit auszuweichen”.

Mit einem Steinmetz aus Straßburg geht es nach Wittenberg und dann, vier Tage später, nach Berlin. Dort wird am 9. Juni Generalfeldmarschall von Borck beigesetzt, die Stadt ist voller Soldaten, und bei dieser Gelegenheit sieht Silbermann jenen Gleichaltrigen persönlich, der seinen Zeitgenossen so viel Glanz wie Elend bescheren wird: den jungen Preußenkönig.

Unweit der Garnisonkirche, zu der der Sarg getragen wird, befindet sich die Synagoge, “sehr propre gebaun, inwendig just viereckigt, es hengen 13 große meßingene Cronleuchter darinnen, oben ist die Decke und Wänder sauber gegipset”. Silbermann nimmt dort am zweieinhalbstündigen Sabbat-Gottesdienst teil, den er noch ausführlicher schildert als den protestantischen in Freiberg. Die Offenheit, mit der man ihn empfängt, weckt die seine. Nicht minder berührt ihn die Musik: “Ein junge der eine ungemein schöne und helle stime hatte machte den discant ein andrer den bass. Der Rabbiner aber sunge so courieuse darein, daß mich deuchte, er singe 2 stimmen auf einmahl.” Dass später sogar “ein fölliger Straßburger Springer mit beyden Theilen abgesungen” wird, dürfte die Erforscher der Synagogalmusik wie der Migrationslinien hellhörig machen.

Den Speisekundlern liefert Silbermann einen ganzen Wochenplan der Berliner Küche anno 1741. Vielleicht hat er an seinem letzten Tag, dem 10. Juni, tatsächlich verzehrt, was die Liste für den Samstag vorsieht, “Caldaunen [Streifen vom Pansenmagen] kleingehackt mit Rüben. Weißkraut kleingehackt mit Milch gekocht.” – “Sind bei uns Blätzer”, merkt der Straßburger vorsorglich an. Und dann reist er zurück, diesmal schnell, in nur elf Tagen. Die Arbeit ruft. Bis Johann Andreas Silbermann 1783 stirbt, wird er noch 36 Orgeln bauen. Und jene Familie gründen, die sein Tagebuch bis ins 19. Jahrhundert hütet.

Für die Forscher geht Silbermanns Reise nun erst richtig los. Und sie werden dafür länger brauchen als nur vier Monate. “Wir haben bis jetzt erst an der Oberfläche gekratzt”, sagt Barbara Wiermann, Leiterin der SLUB-Musikabteilung. Schon jetzt sei klar, “dass wir ein Team von Leuten brauchen, um das zu erschließen”. Orgelkundler werden das Tagebuch lesen wollen, Musikologen, Kunstexperten, Lokalhistoriker, Kulturwissenschaftler, Bach-Forscher … Vielleicht aber auch ziemlich normale Leute. Denn – auch das macht diesen Fund so singulär – der neugierige Orgelbauer Silbermann ist einer von ihnen.

Abbildungen: Tagebuchseiten vom 19. Mai 1741: “Machte ich dem Hrn Kapellmeister Hassen eine visite, er liess mich neben seiner Frau die berühmte Fausstina auf ein Canabe sitzen. Sie ist eine Venetianerin, und hat daselbst den Hassen geheurathet. Welcher wen ich mich recht besinne von Hamburg ist. beyde bekommen monathlich vom König 500 Thl, macht jährlich 6000Thlr…” Foto: Henrik Ahlers. / Johann Andreas Silbermann (1712-1783), Stich von Christophe Guérin, um 1780

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien am 12. März 2015 in der ZEIT, Ressort Geschichte, sowie auf ZEIT online.