Man wäre gern dabei gewesen

Springen wir über den Schatten der Stille: zu besonderen Konzerten aus vier Jahrhunderten, bei denen die üblichen Maßstäbe nicht greifen

szilagyi venedig

Hinterm Dogenpalast gleich links, die Riva degli Chiavoni am Wasser entlang, dann betreten Sie das Gebäude vor der vierten kleinen Brücke. Der Sommertag leuchtet gedämpft in die hohe Kapelle. Eine wunderbare Frauenstimme erklingt, dazu ein kleines Orchester mit Orgel. Aber Sie sehen die Musiker nicht – oder kaum. Sie blicken hinauf zur Galerie, zum filigranen Eisengitter, und gewahren schemenhafte Gestalten, einen bewegten Schimmer von Purpur, vernehmen ein sanftes Siciliano, ein Schaukeln wie das der Gondeln draußen, ein Wiegenlied: „Cum dederit…“ Nein, Sie sind nicht Zeuge einer neuen Konzertform mit hygienischer Distanz – wobei hier viel Platz ist. Manche sitzen, andere stehen. Manche Herren sind in langes Schwarz gekleidet, mit schwerer Perücke, andere bunter, Touristen wie Sie. Es ist der 2. Juli 1716.

An diesem Donnerstag geht es besonders festlich zu im Ospedale della Pietà, man feiert die Visitatio Mariae, das Patronatsfest des Ospedale. Antonio Vivaldi hat eigens dafür ein neues Werk geschrieben, sein Nisi Dominus. Es singt und spielt eines der berühmtesten Ensembles der Welt, jene figlie del coro, Chormädchen, die es in allen vier Findelhäusern Venedigs gibt, Waisenkinder mit schwindelerregend guter Musikausbildung. Ihre Konzerte sind ein Pflichttermin für jeden, der die Grand Tour durch Europa macht.

Aber auch für jeden, der in der Stille des Sommers 2020 nach besonderen live events der komponierten Musik in den jüngsten Jahrhunderten sucht. Natürlich ist jedes gute Konzert etwas Besonderes, Unvergessliches, Folgenreiches, nicht nur die Triumphe und Skandale. Aber was kann ein Auftritt über Welt und Leben, über Alltag und Veränderung erzählen? Über den Geist, der nicht zum Schweigen zu bringen ist? Man erfährt es bei Konzerten, in denen die üblichen Maßstäbe nicht greifen, weder unsere – die in diesen Monaten ja ganz neu geeicht werden – noch frühere.

Sei es, dass ein genialer Geiger vertraute Standards über den Haufen spielt oder ein anderer genialer Geiger die Kultur da wieder ins Recht setzt, wo sie es verlor; sei es, dass bei einer Uraufführung die Zuhörer davonlaufen und bei einer anderen die Musiker anschreien; sei es, dass Menschen im Jahr 1994 ihre erste h-Moll-Messe erleben oder im Jahr 2008 drei Orchester in einem Flugzeughangar abheben. Oder eben, dass im Jahr 1716 in Venedig mit einem Sicherheitsabstand musiziert wird, der keine epidemiologischen Gründe hat, sondern rein moralische.

Venedigs Mädchen und Frauen konzertieren hinter Gittern, denn für eine kirchliche Einrichtung ist es schon ein Privileg, wenn sich Frauen überhaupt vernehmen lassen dürfen. Zudem gelten Geigen, Celli, Flöten als unweiblich. Und es soll Voyeurismus verhindert werden in der sexuell liberalsten Stadt Europas. Niemand kann also sehen, welches der Mädchen mit den schimmernden Klängen seiner Viola d´amore das Gloria Patri des Nisi Dominus eröffnet. Und niemand sieht die Altistin, deren Koloraturen das Amen prägen (schließlich konkurriert das Ospedale mit den zahlreichen Opernhäusern Venedigs, da kann man nicht auf Koloraturen verzichten). Sinnen wir nach, wie sie aussehen mag, die Altistin? Lauschen wir verklärt, wie so viele hier? Mit Blick auf die Schemen oben hinter den eisernen Ornamenten ist es einem, als käme der Klang vom Himmel.

Seine Töne gehen durch Haut und Knochen

Es lässt sich dazu kein größerer Gegensatz denken als das Konzert eines 47jährigen Geigers, für den die Hamburger des Jahres 1830 gern den doppelten Eintrittspreis entrichten. Die 2500 Plätze des neuen Stadttheaters an der Dammtorstraße sind ausverkauft, als am 12. Juni ein Mann vor das Orchester tritt, der Europa in Atem hält. Noch vor zwei Jahren kaum bekannt, ist Niccolò Paganini mit solchem Furor eingeschlagen, dass manche den Teufel wittern: Kann ein Mensch so virtuos spielen? Zwei Taler, umgerechnet achtzig Euro, zahlt jeder gern, um das zu überprüfen.

Heinrich Heine, 32 Jahre alt, ist dabei und erblickt an diesem Samstagabend in den Logen „einen ganzen Olymp von Bankiers und sonstigen Millionären, die Götter des Kaffees und des Zuckers, nebst deren dicken Ehegöttinnen, Junonen vom Wantram und Aphroditen vom Dreckwall (…) Endlich aber, auf der Bühne, kam eine dunkle Gestalt zum Vorschein, die der Unterwelt entstiegen zu sein schien. Das war Paganini in seiner schwarzen Gala. Der schwarze Frack und die schwarze Weste von einem entsetzlichen Zuschnitt, wie er vielleicht am Hofe Proserpinens von der höllischen Etikette vorgeschrieben ist. Die schwarzen Hosen ängstlich schlotternd um die dünnen Beine. Die langen Arme schienen noch verlängert, indem er in der einen Hand die Violine und in der anderen den Bogen gesenkt hielt und damit fast die Erde berührte…“

Leichenblass sei er gewesen, wie ein Vampir. Doch kaum habe er zu spielen begonnen, „so kam es, daß mir Paganini mit jedem Striche seines Bogens auch sichtbare Gestalten und Situationen vor die Augen brachte, daß er mir in tönender Bilderschrift allerlei grelle Geschichten erzählte, (…) worin er selber immer mit seinem Violinspiel als die Hauptperson agierte. Schon bei seinem ersten Bogenstrich hatten sich die Kulissen um ihn her verändert…“ Tatsächlich verändert dieser Mann die Welt der Musik. Kein anderer Geiger hat diese technischen Möglichkeiten. Geradezu schwerelos, nur die Unterarme bewegend, mit unfassbar lockeren Händen macht er die Violine vom Instrument zum Medium, seine Töne gehen den Leuten durch Haut und Knochen.

Während Heine seinen Eindruck erst viel später publiziert, liest man drei Tage nach dem Konzert in den Hamburger Nachrichten ein erstaunliches Geständnis des Rezensenten: Wie Paganini „ganz neue, unerhörte, bis dahin unglaubliche Wagnisse mit der ungezwungensten Leichtigkeit des Spiels beherrscht und übersteigt, wie (…) den bacchantischen Tanz der Tonwellen schneidender Humor, bittere Ironie, gleich electrischen Flämmchen, durchzucken – ich gestehe, daß ich mich zu ohnmächtig fühle, davon durch Darstellung auch nur einen entfernten Begriff geben zu können.“

“Die Leut´ wollen nix von mir wissen“

Was aber, wenn die Musiker selbst gegen das Neue anspielen? Anton Bruckner, Konservatoriums-Professor in Wien, 53 Jahre alt, hat seine Dritte Sinfonie den Wiener Philharmonikern vorgelegt; nach einer „Novitäten-Probe“ haben sie die Aufführung abgelehnt. Johann von Herbeck, Dirigent des Musikvereins, setzt sich darüber hinweg und das Werk aufs Programm, stirbt aber sechs Wochen vor der Uraufführung. Bruckner muss sein Stück nun selbst dirigieren. Ein feindseliges Orchester kann auch den größten Dirigenten niedermachen – und Bruckner ist ein schüchterner kleiner Mann. Zudem gehen der Uraufführung am 16. Dezember 1877 noch 90 Minuten eines mediokren bunten Abends voraus. Kein Wunder, dass Eduard Hanslick danach in der Neuen Freien Presse gesteht, er habe die „gigantische Symphonie nicht verstanden“.

Die meisten Hörer seien während der Aufführung geflohen, bis auf eine enthusiastische „Fraction des Publikums“. Diese Fraktion hat es in sich. Da sind Bruckners genialischer Schüler Hans Rott, 19 Jahre alt, der 36jährige Musikverleger Theodor Rättig, der 17jährige Konservatoriumstudent Gustav Mahler. Nach dem Desaster gehen sie zu Anton Bruckner, der fast weint. „Ach, lasst´s mi aus, die Leut´ wollen nix von mir wissen“, wehrt er die jungen Bewunderer ab. Aber die „extra Verehrer und Propagatoren“ (Mahler) lassen ihn nicht allein. Rättig überrascht den Verzweifelten mit dem Entschluss, die Partitur zu drucken. Dazu kommt eine Fassung für Klavier zu vier Händen, von Gustav Mahler angefertigt – seine erste Publikation. Bruckner ist begeistert. Ab und an spendiert er nun seinem jungen Bewunderer mittags ein Bier…

Dreißig Jahre später wird der Wiener Hofoperndirektor Mahler von Intrigen aus dem Amt getrieben. Es ist ein von Antisemitismus durchsetzter „Schmäh“, der das Publikum polarisiert – auch das einer Uraufführung am 21. Dezember 1908. Teile der Presse haben sich auf den „hyperkühnen Exaltado“ Arnold Schönberg längst eingeschossen, als im randvollen Bösendorfer-Saal dessen Zweites Streichquartett erstmals erklingen soll. Man sieht Mitglieder der kaiserlichen Familie in Samtfauteuils, die Intelligenz der Stadt ist versammelt, die Presse sowieso, auf den Stehplätzen junge Leute beiderlei Geschlechts.

Erstmals verlässt die Musik ganz die Tonalität, während die Sängerin Stefan Georges Zeilen vorträgt: „Ich fühle luft von anderem planeten…“. Unruhig ist es schon zu Beginn, als die Fans so provokativ klatschen, dass die Skeptiker sich zur Gegenkundgebung entschließen. Im zweiten und dritten Satz gibt es stürmisches Gelächter. Im vierten Satz wird die Sängerin von Rufen unterbrochen. „Nicht weitersingen! Schluss! Wir haben genug! Wir lassen uns nicht frozzeln!“ Selbst Kritiker sind aufgesprungen, um lautstark die neue Musik zu verhindern. Mit bleichen Gesichtern bringen die Musiker die Aufführung zu einem Ende zwischen Zischen und Beifall. Zu Hause notiert Arthur Schnitzler: „Skandal während des Schönberg Quartetts. An Schönberg glaub ich nicht. Ich habe Bruckner, Mahler gleich verstanden – sollt ich jetzt versagen?“ Hätten wir es gleich verstanden? Besser vielleicht bei der zweiten Aufführung, auf deren Tickets stand: „Diese Karte berechtigt den Inhaber, dem Konzerte beizuwohnen, unter der Voraussetzung, daß er die Aufführung in keiner Weise stört.“ Man wäre gern dabei gewesen, soviel ist sicher.

Musik an den Rändern der Epochen

Wo wäre man nicht gern dabei gewesen? Die Frage kann so nicht gestellt werden, wenn es um den 27. Juli 1945 geht, im vormaligen Offizierskasino der Wehrmacht beim Konzentrationslager Bergen-Belsen, nordöstlich von Hannover, gut drei Monate nach der Befreiung. Die Hörer sind displaced persons, Befreite ohne Heimat, für die an diesem Tag der 29jährige Weltstar Yehudi Menuhin spielt, aus jüdischer Familie kommend wie die meisten von ihnen.

Noch im März sind 18.000 Menschen im Lager gestorben, an Typhus, an Entkräftung, darunter die 15-jährige Anne Frank. Die Pianistin Zuzana Růžičková wiegt nur noch 30 Kilo, als ein Engländer der 18-jährigen die erste Zigarette ihres Lebens anbietet. Die 20-jährige Cellistin Anita Lasker, die zuvor im Häftlingsorchester von Auschwitz spielte, gehört zu Menuhins Zuhörern . Er spielt Beethovens Kreutzersonate, Bachs Chaconne, Chaussons Poème, die Erste Violinsonate von Grieg. Die symbolische Bedeutung des Auftritts macht es ihm nicht leicht, die Hörer sind unruhig. Anita Lasker schreibt gleich danach in einem Brief: „Beseelt, so wie ich mir Casals´Spiel vorstelle, war es nicht. (…) Nun mag es sein, dass ihn die hiesige Atmosphäre nicht gerade angeregt hat (…) Was seinen Begleiter betrifft, so kann ich nur sagen, dass ich mir etwas Wunderbareres kaum vorstellen kann.“ Dieser Pianist habe, so Anita Lasker, da gesessen, „als ob er nicht bis drei zählen könnte“, und „vollendet schön“ gespielt.

Erst später erfährt sie, wer dieser Benjamin Britten ist. Die „Tournee“ mit Menuhin, über zerbombte Straßen von einem Lager zum anderen, schockiert den jungen Engländer zutiefst; über die Unruhe der Hörer schreibt er: „Einige von ihnen sind in einem entsetzlichen Zustand, können nur mit Mühe sitzen und lauschen und sind immer noch erschrocken, dass für sie gespielt wurde.“ Erst am Ende seines Lebens gesteht Britten dem Freund Peter Pears, dass alles, was er nach dieser dunklen Reise komponierte, von ihr geprägt wurde, zuerst die düsteren Holy Sonnets of John Donne. „Der Zyklus trotzt dem Entsetzen des Albtraums durch eine tiefe Liebe“, schreibt Pears dazu, „die instinktive Antwort East Anglias auf Buchenwald.“

Immer erhofft man von Musik an den Rändern der Epochen symbolische Kraft. Ende Dezember 1994 startet in Ljubljana eine Maschine nach Süden. Sie umfliegt das ehemalige Jugoslawien, in dem seit drei Jahren Krieg herrscht. Als sie auf der Rollbahn von Tirana, der Hauptstadt Albaniens, aufsetzt, rennen Hunderudel über das Stoppelgras. Siebzig Musiker aus Hannover steigen aus, ich als Bratscher, Bachs h-Moll-Messe im Gepäck, die Unterstützung des Auswärtigen Amts im Rücken. Mit Konzerten in Slowenien und Mazedonien will Helmut Kohls Bundesregierung ihre Anerkennung dieser Staaten unterstreichen; in Albanien, dem ärmsten Land des Balkans, geht es um moralische Unterstützung.

Die h-Moll-Messe ist hier noch nie gespielt worden. Am Silvestertag fährt unser abgewetzter Bus – Jahrzehnte vor uns aus Deutschland gekommen – in den Norden des Landes, das nach vier Jahrzehnten Brachialkommunismus in die Marktwirtschaft taumelt. An Telegraphenmasten baumeln blutende Tierteile, man schlachtet im Freien für den Neujahrstag. Wir überholen Pferdekarren. Ein nagelneues Coca-Cola-Lager erhebt sich wie eine Vision. Das Theater in Shkodra, einer 80.000-Einwohner-Stadt im Norden, ist in siebzig Jahren wohl nie renoviert worden. Das Licht zuckt, hinter dem Theater steht ein Dieselgenerator und liefert mit großem Getöse den Strom.

szilagyi albanien

Schon zur Einspielprobe erscheinen Leute. „Sie spielen wirklich die h-Moll-Messe?“, fragt ein Komponist aus Shkodra. „Mit allem? Mit Credo und Osanna und Sanctus?“ Er kennt das Werk nur aus den Noten und dem Radio. Auf der morschen Bühne liegt noch die Boden-Dekoration einer Varietévorstellung vom Oktober, wir stellen die Pulte und Stühle darauf, das Cembalo. Das Haus ist randvoll mit verschiedensten Menschen, nicht das „Mal sehen, was die zu bieten haben“-Publikum des Westens. Diese Hörer sind hungrig. Wenn wir jetzt nicht bei der Sache sind, wäre es, als fiele der Generator aus. Er wummert. Die Saiten verstimmen im feuchten Klima. Der Chor übertrifft sich selbst, wie vielleicht jeder von uns. Nach jeder Nummer wird geklatscht. Der Komponist weint.

Es gibt Konzerte, von denen man nie vergisst, wo genau man gesessen hat. Die meisten der über 3200 Besucher, die an zwei Septemberabenden im Berlin des Jahres 2008 Gruppen von Karlheinz Stockhausen hörten, werden es noch wissen.Denn was gibt es Spannenderes als den riesigen Hangar eines todgeweihten Flughafens, in dem die Berliner Philharmoniker mit drei Dirigenten in ein Orchesterwerk abheben, das man fast nie hört? Vorn, rechts und links sitzen im Hangar 2 von Tempelhof die Musiker, in drei Ensembles geteilt, und zwischen ihnen viele Hörer, die man mit zeitgenössischer Musik (selbst wenn die schon 50 Jahre alt ist) sonst hätte jagen können.

Es ist extraterrestrisch. Als sich irgendwann die Blechbläser aller Seiten zu einem Klangband vereinen, das golden dröhnend durch die 4200 Quadratmeter große Halle wandert, funkelt die Welt. Und die Worte des Hamburger Rezensenten, der 1830 von Paganini überwältigt war, passen noch immer: „Uns fehlt der Maßstab, es zu würdigen. Man muss es unmittelbar wahrnehmen, man muss es sehen.“

Dieser Text entstand für das Elbphilharmonie-Magazin 2020/3 (im August 2020 erschienen) und ist urheberrechtlich geschützt. Fünf Illustrationen dazu fertigte Kati Szilágyi für das Magazin der Elbphilharmonie an, zwei von ihnen – Venedig und Albanien – sind hier mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin zu sehen.