„Ein wundervolles, mildes Licht”

Ob sie an Gott, an Bach oder an den Fortschritt glauben – Komponisten sind oft Bekenner. Und ebenso oft befreien sie uns aus der Enge der Dogmen

Rund 2500 Menschen versammeln sich im Hamburger Michel , als am 29. März 1894 der Gottesdienst für den berühmtesten Dirigenten der Epoche beginnt, Hans von Bülow, der sechs Wochen zuvor mit 65 Jahren in Kairo gestorben war. Einer der Trauergäste ist jener junge Kollege, der in Hamburg mehrfach für Bülow eingesprungen ist, ihn früh schon bewunderte und ihm noch vor wenigen Monaten einen Satz aus der Sinfonie vorgespielt hat, an der er noch immer arbeitet: der 33-jährige Gustav Mahler. Nach den Worten des Geistlichen hört er Werke von Bach, einen Satz aus Brahms’ »Deutschem Requiem« und schließlich, von Frauen und Kindern gesungen, einen Choral auf Worte des Hamburger Dichters Friedrich Gottlieb Klopstock: »Aufersteh’n, ja aufersteh’n wirst du, / Mein Staub, nach kurzer Ruh …«

Wir kennen diese Worte aus Mahlers Zweiter Sinfonie, von Chor und Sopran gesungen. Eines von vielen großen Werken der Musik, die uns auf die Frage nach dem Glauben bringen – und das ist nicht nur religiös gemeint. Immer wieder geht es bei Komponisten auch um Weltanschauung und um Wege der Kunst, die mit missionarischer Energie abgesteckt und wieder verlassen werden. Man begegnet Bach-Anbetern, Wagnerianern, faustischen Suchern, einem dogmatischen und einem abgeklärten Pierre Boulez. Es gibt die Komponistin, die religiös denkt, aber nicht darüber definiert werden will, und den Atheisten, der für Pfingsten transzendente Klänge findet. Und einen wie Gustav Mahler, der zwischen allen Stühlen aufs Ganze geht.

Der Abschied von Bülow, der Gesang im Michel bescherte dem Komponisten die Idee für das Finale seiner riesigen Komposition, der Auferstehungssinfonie, die, kurz gesagt, ein aufwühlendes Leben nachzeichnet. Mahler folgte Klopstock nicht zu den Zeilen, in denen Jesus als Mittler gefeiert wird; er dichtete anderes dazu: »Mit Flügeln, die ich mir errungen / werd’ ich entschweben.« Dass es den Helden aber »zu Gott« führen würde, war für den Komponisten unzweifelhaft, er schrieb es auch ins Programm: »Da erscheint die Herrlichkeit Gottes! Ein wundervolles, mildes Licht durchdringt uns bis an das Herz (…) Und siehe da: es ist kein Gericht – Es ist kein Sünder, kein Gerechter, kein Großer und kein Kleiner …«

Es war kein Kirchenglaube, den Gustav Mahler da vertonte, und auch die jüdische Religion, mit der er (wenn auch in einer sich »assimilierenden« Familie) aufgewachsen war, sieht keine bedingungsfreie Auferstehung vor. Mahler hatte, wie der Kulturwissenschaftler Jens Malte Fischer schreibt, »eine Privatreligion, wenn man so sagen darf«, in der sich Goethes Pantheismus, Nietzsches Selbstdenkertum, Naturreligiosität und das Bewusstsein einer »Bestimmung« verbanden. Aber auch bei religiös orthodoxen Komponisten wie Claudio Monteverdi und Johann Sebastian Bach käme man nicht weit, wenn man ihre Musik nur auf ihre Kirchen bezöge. Erst das Universum, das Bach musikalisch öffnet, ermöglichte es Felix Mendelssohn Bartholdy, sich mit ganzem Geist auf christliche Vorstellungen einzulassen.

Für Robert Schumann war schon Bach selbst eine überzeitliche Instanz. »Mendelssohn, Bennet, Chopin, Hiller, die gesamten sogenannten Romantiker«, schreibt er 1840 an einen Freund, »stehen in ihrer Musik Bachen weit näher als Mozart, wie diese denn sämtlich auch Bach auf das Gründlichste kennen, wie ich selbst im Grund tagtäglich vor diesem Hohen beichte, mich durch ihn zu reinigen und zu stärken trachte.« Bach erscheint ihm als Heilsbringer, und Schumann bezieht sich dabei nicht auf den Sakralkomponisten, sondern auf das »Tiefkombinatorische« der Polyphonie. Schumann ist nicht der Letzte, der gleichsam »an Bach glaubt«. Auch Mauricio Kagels »Sankt-Bach-Passion« von 1985 ist keineswegs ein Werk der Ironie, sondern eine respektvolle Reverenz.

Schwarze Handschuhe für die “Eroica”

Doch Bach ist nicht der Einzige, um den sich Gemeinden scharen. Im Verlauf der Säkularisierung des 19. Jahrhunderts übernimmt die europäische Musik metaphysische Rituale, was so weit führt, dass Hans von Bülow sich vor dem Trauermarsch der Beethoven’schen Eroica schwarze Handschuhe auf einem Silbertablett reichen lässt, und dass Richard Wagner den eigenen Werken eine Pilgerstätte errichtet, außerhalb derer sein Parsifal nicht gespielt werden darf, während drinnen Applaus nur am Ende erlaubt ist. Den Wagnerianern, wie die glühenden Anhänger des Meisters genannt werden, kommen dann die Brucknerianer an die Seite, gegenüber den grimmigen Brahminen. Markante Frontverläufe der Ästhetik tauchen in der Musik zwar in allen Epochen auf, aber im späten 19. Jahrhundert werden sie, rund um Wagner, schon ideologisch.

Ein Pionier wie Arnold Schönberg im 20. Jahrhundert verlangt von seinen Schülern die Anrede »Meister« und absolute Loyalität. Als ihm 1926 zugetragen wird, Hanns Eisler habe sich auf einer Zugfahrt abfällig über das Komponieren mit zwölf Tönen geäußert, zitiert er ihn zu sich, es folgt ein verbissener Briefwechsel. »Ich kann Ihnen nicht die kleinste Lücke lassen, durch die Sie entschlüpfen wollen« – wie ein Inquisitor reagiert Schönberg auf Eislers Erklärungsversuche. Dahinter steht auch, dass Eisler sich als Komponist politisch engagierte und Schönberg fand, er werde »den Sozialismus sich abgewöhnen«, wenn er erst »zwei anständige Mahlzeiten im Tag« hätte.

Den Dogmatismus der Zweiten Wiener Schule spitzt Pierre Boulez zu, indem er 1951 erklärt, Schönberg sei nicht weit genug gegangen. Ein Zurück gebe es aber schon gar nicht: »Jeder Musiker, der die Notwendigkeit der zwölftönigen Sprache nicht erkennt, ist unnötig. Sein ganzes Werk platziert sich damit jenseits der Notwendigkeiten seiner Epoche«. Dass solche »Notwendigkeiten« auch im Paris der 1950er eine Glaubensfrage waren, hat Boulez in seinem letzten Interview 2013 selbst festgestellt: »Wir waren eine kleine Gruppe gegen das Musikleben einer großen Stadt. Wir waren Kreuzritter, wie im Mittelalter. Wir wollten ein neues Evangelium bringen … Nun, das ist gut für eine Periode. Hinterher muss man unbedingt die Fenster öffnen, das habe ich auch getan. Bei Schönberg gibt es dasselbe Profil. Am Ende ist es nicht mehr so steif und stur.«

Interessant, dass Boulez seinerseits der Schüler eines gläubigen Katholiken war, nämlich Oliver Messiaens, dessen Œuvre mit seiner Religiosität eng verbunden ist, bis hin zum Saint François d’Assise (1983), diesem gigantischen Kirchenfenster aus Klängen. Sie lassen uns auch ein »katholikos« im vorchristlichen Sinn erleben, nämlich »umfassend«: gleißend, bunt, exotisch, geistesbrünstig, rätselhaft, klar, naiv, jeglichen Durst nach Transzendenz stillend. Wer das hört, kann süchtig werden und glauben, was er will. Ausschließlich über Religiosität wäre Messiaens Musik ebenso wenig erfasst wie die der Sofia Gubaidulina, die es sogar »gefährlich« findet, »darüber etwas zu sagen. Ich bin überzeugt, dass die ganze Musik, die ganze Kunst religiös ist, in meiner Definition von religio als Verbindung mit dem Höchsten, mit höchster Vollkommenheit. Aber man sollte mich nicht als religiöse Komponistin bezeichnen«, erklärte sie 2011.

“Sei also gepriesen und gewähre mir das Paradies”

Doch ganz gleich, um welche Glaubensdinge es geht, seien es Kunstprinzipien oder Kirchenlehren, sei es die Spiritualität eines Künstlers oder sein Sendungsbewusstsein: Meist wird mit einem Ernst darüber geredet, als seien ein Lächeln, ein Witz schon Verrat oder des Teufels – der ja zumindest als »Geist, der stets verneint« ein anspruchsvoller Gesprächspartner sein kann. Als hätte sich jemals Kreativität innerhalb von Reinheitsgeboten entwickelt und nicht immer wieder gegen sie, ganz gleich, ob diese Gebote 1564 beim Konzil von Trient oder 1951 auf den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik formuliert wurden. Man könnte die ganze Musikgeschichte als dogmenbrechenden Austausch zwischen Weltlichem und Sakralem, zwischen Populärem und Elitärem beschreiben.

Keiner bringt das in Ton und Wort besser auf den Punkt als Gioacchino Rossini. Er kannte jenen Beethoven noch persönlich, der 1820 in seiner Missa solemnis als Kind der Aufklärung um die Glaubensgewissheit rang und über sein Credo schrieb: »Gott über alles – Gott hat mich nie verlassen«. Bei Rossini hören wir 1863 das Credo befeuert von zwei Klavieren, deren Rhythmen mit schier Offenbach’schem Esprit unter den Choreinsätzen herumspringen. Rossinis Petite Messe Solenelle ist lange nicht recht ernst genommen worden, war ihr Komponist doch ein Altstar der Opera buffa, der sich hier neben eine Gipfelkette von Messvertonungen zu stellen wagte.

»Lieber Gott, voilá, nun ist diese arme kleine Messe beendet. Ist es wirklich musique sacrée, heilige Musik, die ich gemacht habe, oder ist es sacrée musique, vermaledeite Musik? Ich wurde für die Opera buffa geboren, das weißt du wohl! Wenig Wissen, ein bisschen Herz, das ist alles. Sei also gepriesen und gewähre mir das Paradies.« Es war ein katholisch aufgewachsener Italiener, der hier verschiedenste Musiksprachen kombinierte, von Bach bis, ja doch, Offenbach, von Mozart bis Meyerbeer, dabei immer auch ganz Rossini – und zutiefst berührend. Mit seiner skeptischen Heilserwartung zwischen allen Stühlen ist der alte Lebenskenner unserer Zeit verblüffend nah.

Und mit ihm sein Zeitgenosse Hector Berlioz, den in La Damnation de Faust die Ungewissheiten zwischen Himmel und Hölle zum Aufbrechen der Formate führen: Weder Oper noch Sinfonie, ist diese Légende-dramatique eine moderne Versuchsanordnung. In Goethes Faust I geht der Held zum Teufel, in Faust II wird sein »Unsterbliches« zur »Himmelskönigin« emporgetragen. Daraus schuf Mahler in seiner Achten Sinfonie eine hochdifferenzierte Auseinandersetzung, das Gegenstück zum Pfingsthymnus »Veni creator spritus«, den er im ersten Teil zum Universum machte. »Sehen Sie, das ist meine Messe«, sagte er dem Freund Alfred Roller – mit einem Augenzwinkern, denn zuvor hatte ihm Mahler erklärt, dass er eine Messe wegen des »Credo« nicht schreiben könne. Er war offiziell Katholik, weil ihm sonst der in Wien virulente Antisemitismus den Weg an die Spitze der Hofoper verstellt hätte.

Es kommt also auch vor, dass Komponisten über ihre Auseinandersetzung mit Glaubensdingen mit einer leichten Selbstironie sprechen, die aber – wenn man die Werke hört – durchaus von Demut zeugt. Das Pendant zu Rossinis Grußwort »Lieber Gott, voilà …« ist Paul Hindemiths Briefzeile aus London: »Von elf bis fünf habe ich dann ziemlich heftig getrauert …« Eigentlich hatte der Komponist und Bratschensolist mit dem BBC Symphony Orchestra sein Konzert Der Schwanendreher spielen sollen, als am 20. Januar 1936 König George V. starb und das Programm umgestellt werden musste. Man stellte Hindemith ein Studio zur Verfügung, in dem er binnen sechs Stunden ohne jedes Selbstzitat eines der intensivsten Werke der Violaliteratur schuf, seine Trauermusik, endend mit einer von fern an Bach anklingenden Vertonung des Chorals »Vor deinen Thron tret ich hiermit«. Am selben Abend hat Hindemith das Werk als Solist mit den Streichern des Orchesters uraufgeführt.

Am 28. August 2007 saß Hans Werner Henze abends mit ein paar Besuchern vor seinem Haus in Marino, südlich von Rom. Er hatte länger geschwiegen und dem Gespräch gelauscht, es ging um seinen Nachbarn, den Papst, dessen Helikopter im Anflug auf Castelgandolfo tagsüber die Ruhe störten. Auf einmal sagte er: »Ich finde es gut, wenn die Leute an nichts glauben. Keine Religion. Mit dem Tod ist finita la commedia. Es macht unser Leben intensiver und klüger, wenn wir das wissen.« Im Jahr zuvor hatte er seinen Lebensgefährten Fausto Moroni verloren, Henze blieb erklärter Atheist. Und doch vollendete er fünf Jahre später, wenige Monate vor seinem Tod mit 86 Jahren, ein Musikstück zu Pfingsten, für Chor und Instrumente, uraufgeführt in der Leipziger Thomaskirche, in dem er die Worte des jungen Dichters und Theologen Christian Lehnert zu klingender Transzendenz brachte: »Es fehlt ja nur ein Rascheln zum Erwachen, ein Flügelschlag, ein Wind, ja nur ein Hauch.« Woran auch immer Henze glauben mochte – wer Musik macht, die atmende Kunst, ist diesem Hauch nie fern.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien mit der Überschrift „Ich glaube an…“ im Magazin der Elbphilharmonie im März 2020, anlässlich des Internationalen Musikfestes Hamburg mit dem Motto „Glauben“. Die Konzerte bis zum 30. April wurden abgesagt; vorerst (Stand 11. April 2020) hofft man, dass die Konzerte ab Mai stattfinden können wie geplant.