Drei Konzeptalben bringen Bach zusammen mit seinen Vorbildern, Nachfahren, Zeitgenossen
Wie das schon anfängt! Egal, wie es einem gerade geht, diese fünf Streicher plus Theorbe machen froh, öffnen die Seele mit entspannten, leuchtenden Klängen, ohne Worte, zu den Worten „Liebster Jesu, wir sind hier“. Bach komponierte das als Choralbearbeitung für Orgel, aber diese Version hätte ihm, der selbst viel arrangierte, auch plaisir gemacht. Dann folgt ein jäher Schnitt, rasant setzt im selben G-Dur eine komplett andere Musik ein, Vivaldis Blockflötenkonzert RV 312. Nein, lassen Sie die hochgezogene Augenbraue ruhig wieder herab. Das ist kein Barocksalat. Es ist, als würde es uns aus dem innig gläubigen Thüringen ins frivole Venedig katapultieren, bright side of life, dem Weimarer Kapellmeister musikalisch wohlbekannt, er fand Vivaldi selbst extrem anregend .
Flötist Stefan Temmingh und das Capricornus Ensemble Basel legen da alles andere als marktaffine Effekthascherei vor: ein wunderbares Konzeptalbum, durchdacht bis in letzte Ornament. Die sechs hier versammelten Blockflötenkonzerte scheint der venezianische Priesterkomponist auf (überwiegend sakrale) Kleinodien des jüngeren Kollegen Bach zu beziehen. Und es ist nicht die einzige CD im Novitätenstapel, die den weltberühmtesten Thüringer aus der Einsamkeit des Singulären holt, in die ihn eher die Nachwelt hineinzelebriert, als dass er sie selbst erlebt hätte. Jean Rondeau, der neue coole Frontmann der Cembalistik, verschränkt zwei Konzerte von JSB mit denen dreier Söhne, und „Gli Incogniti“ wagen sich an die Grenzen des Gesicherten: „BWV… or not?“ heißt seine Zusammenstellung.
Ja, könnte es nicht doch von Johann Georg Pisendel sein, was uns da als Violinsonate BWV 1024 die Ohren spitzen lässt? Die Wissenschaft kann die Abschrift nicht „schlüssig einordnen“, und da sie im Dresden des mit Bach befreundeten Geigers Pisendel auftauchte… Nun, mindestens das Affetuoso, der dritte Satz, ist reinster, reifster Bach und wird von Geigerin Amandine Beyer mit weitblickender Innigkeit gespielt. Die schnellen Sätze traut man eigentlich auch keinem andern zu. Den ersten aber nicht mal Bach. Über teils wirklich grenzwertigen Harmonien des Cembalos phantasiert die Geige sich in so verwegene Ornamente und Sprünge hinein, dass man sich fragt, wie dieser Pisendel wohl geigte. Wie gut, dass er ebenfalls bei Vivaldi in Venedig weilte und ihm die Verzierungen für ein Largo schrieb, die auch Themmingh spielt.
Und? Zuzutrauen sind dem Dresdner Virtuosen die irren Wendungen in Bachs Sonate durchaus. Und dem war es immer ein Vergnügen, Gutes zu übernehmen. Das zeigen Gli Incogniti auch mit der Violinsuite BWV 1025 nach einer Lautensuite von Silvius Leopold Weiss und der Sonate aus dem Musikalischen Opfer, dessen Thema sich Friedrich der Große ausgedacht hatte. Von der Sonate BWV 1038 hieß es hingegen lange, sie sei eine Übung des Sohnes Carl Philipp, zu der der Vater den Bass vorgab – das Stück ist nicht sehr komplex. Falsch, es ist alles vom Alten. Und wer danach echten frühen CPE hört, seine d-Moll-Sonate Wq 145 (alias BWV 1036), erkennt gleich beide: Der Sohn bahnt auf väterlichen Strukturen seinen Weg zu fragiler Subjektivität und nutzt sogar den Beginn der Tenorarie „Nun mögt ihr stolzen Feinde…“ aus dem Weihnachtsoratorium für ein Allegro neuer, modularer Bauart.
Man ahnt da, wohin es mit ihm gehen könnte – und den ganz autarken Carl Philipp hören wir ja auf einem weiteren Konzeptalbum. „Bach Dynastie“ hat Jean Rondeau es ein bisschen großspurig genannt. Von der Klaviermusik der Familie vor Sebastian kommt zwar nichts vor, aber Solokonzerte wurden da nun mal nicht geschrieben. Der Weg vom d-Moll-Konzert des Leipziger Thomaskantors zum d-Moll-Konzert seines Sohnes am Potsdamer Hof ist spannend genug und endet mit heftigen Materialexperimenten: Was kann man mit einem Oktavsprung anfangen? Die Frage wird von Rondeau und seinem kleinen Ensemble rasant beantwortet, auch wenn einzeln besetzte Streicher im Unisono bei CPEs Raketenskalen leicht in Intonationsnöte kommen.
Wilhelm Friedemann ist nur mit einem zerbrechlichen Lamento dabei, der Londoner Bach Johann Christian mit metropolitaner Eleganz in f-Moll, und den Anfang bildet das erwähnte d-Moll-Konzert von JSB – schon von den Romantikern bestaunt und immer noch von einer Sogkraft ohnegleichen. Da es von praktisch jedem Cembalisten aufgenommen wird, hat Jean Rondeau sich als Alleinstellungsmerkmal einen Temporekord im ersten Satz vorgenommen. Der aber, zugeben, nicht nur Substanz hat, sondern einen Druck entfaltet, als habe Bach im Café Zimmermann, dem Leipziger Uraufführungslokal, drei Käffchen zu viel getrunken. Da hört man Sturm und Drang – wer es freier und groovender mag, muss Gary Cooper (nicht verwandt mit dem Schauspieler!) auflegen.
Was aber die Sogkraft angeht, die Gravitation von JSB – egal, mit wem und wie vielen man ihn zusammensetzt, er ist am Tisch immer der Typ, auf den sich alle beziehen, selbst wenn er schweigt und zuhört. Den schwierigsten Passagen etwa, die nicht nur Vivaldi je einer Blockflöte zumutete, und der Trauer, die man auch an der Lagune kennt, und der Transzendenz in den gleichsam suchenden Ornamenten im Largo des c-Moll-Flötenkonzerts. Wenn darauf Bachs Choralbearbeitung „Alle Menschen müssen sterben“ folgt, ganz einfach und sanft, geht man in die Knie. Und ist umso offener für das finale Statement, das aus Antonio Vivaldis Venedig kommt: Es gibt ein Leben vor dem Tod.
Vivaldi / Bach: Stefan Temmingh (Blockflöte), Capricornus Consort, Accent / Note 1
BWV…or not? Amandine Beyer (Violine), Gli Incogniti, Harmonia Mundi
Bach Dynastie: Jean Rondeau (Cembalo), Erato / Warner
Dieser Text erschien in der ZEIT vom 23. November 2017 und ist urheberrechtlich geschützt.