Kategorie-Archiv: Oper

Drachenhunde über dem Bodensee

Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ werden von HK Gruber in Bregenz zur Festspieloper entkernt, während die „Zauberflöte“ als bunteste aller Utopien triumphiert

Prominenter kann man eine Uraufführung kaum besetzen. Carola Neher, Paul Hörbiger, Hans Moser, Peter Lorre waren dabei, als 1931 die Geschichten aus dem Wiener Wald von Berlin aus zu einem der größten Erfolge des Ödön von Horváth wurden. Im gemütlichen “Weaner” Ambiente legt er eine hilflose Brutalität offen, komisch, bitter, entsetzlich, im Schatten eines gewesenen und eines kommenden Krieges, eine Substanz, die einen noch 80 Jahre danach stark beunruhigen kann. Auch dem Wiener Komponisten HK Gruber, Jahrgang 1943, hat sie keine Ruhe gelassen.

Eigentlich wünschten sich die Bregenzer Festspiele für ihren 68. Sommer am Bodensee von ihm eine Oper zu einem zeitgenössischen Text, eigentlich fand Gruber selbst, dass Horváth keinen Komponisten brauche. Aber den brauchte ja auch Georg Büchners Woyzeck nicht, und trotzdem wurde Alban Bergs Oper Wozzeck daraus. Ein schräger Vergleich ist das nur, wenn man die genialen Geschichten aus dem Wiener Wald beharrlich als ein “mit satirischem Speck dick durchwachsenenes Volksstück” unterschätzt wie einst Alfred Polgar.

Prominent ist auch diese Uraufführung besetzt. Mezzosopranistin Angelika Kirchschlager als Tabaktrafikantin, Bassist Albert Pesendorfer als Zauberkönig, Spielzeughändler und Vater jener Marianne, deren uneheliches Baby von einer garstigen Großmutter zu Tode gebracht wird, die von keiner geringeren als Anja Silja verkörpert wird, sämtliche weiteren elf Solisten auf demselben Niveau – was soll da schiefgehen, wenn zudem die Partitur griffig, kurzweilig, durchsichtig geschrieben ist und vom Komponisten am Pult der Wiener Symphoniker auch noch genau so dirigiert wird?

Gar nichts geht schief. Leider. Es funktioniert so fabelhaft, dass nichts quer und schief und bitter eindringen kann in die schöne, bunte Sommerlaune am Bodensee. Und das bei einer Geschichte, in der – ähnlich der Marie in Bergs Wozzeck und ihrer Leidensschwestern bei Leoš Janáček – eine naive junge Frau, ihrer Sehnsucht folgend, sich verführen und hereinlegen lässt, an den Rand der Gesellschaft geschleudert und zumindest innerlich tot in sie zurückgetragen wird wie ein Beutestück. All den Stationen, den Affekten, den Charakteren ist HK Gruber durchaus getreulich gefolgt.

Es gibt große Vokallinien, gern von instrumentalen Echos nachgezeichnet, knackige Duette und Terzette, rotierende Rhythmen, in denen Strawinsky als jazzophiler Neoklassizist grüßen lässt, es gibt Wiener Walzer und Zitate aus dem Rosenkavalier, es gibt Sphärenklang und Blechbläsereruption, die Kombi aus verstimmtem Klavier und Tuba, selbst ein Gebet gibt es wie einst in der Grand opéra, und all das ist trefflich gefügt, getimt, kontrastreich und nachvollziehbar. Und vertändelt einen großen Stoff, eine riesige Chance.

Gruber komponiert dem Dramatiker Horváth hinterher wie einer, der gern dessen Zeitgenosse gewesen wäre, anstatt mit seinen Tönen Löcher in unsere Gegenwart zu schlagen, durch die der Text hereinbrechen könnte in aller fauligen Süße und Brutalität. Als hätten sich Kurt Weill und Richard Strauss nach ihrem Tod auf halber Strecke getroffen, klingt vom einen die Bodenhaftung, vom andern die Überwölbung an. Dazwischen bildet sich der Hohlraum des Kunstgewerbes, in dem selbst die Kinderrassel, die der nichtsahnende Opa dem toten Enkel mitgebracht hat, ein Requisit bleibt.

Zur Entkernung trägt freilich auch der Librettist und Regisseur Michael Sturminger bei. Die Tristesse der Anfangsszenen lässt er weg, die des Kleinbürgertums auch. Es geht gleich zum heiteren Picknick an der Donau mit cool und aktuell gekleideten Leuten, die offensichtlich über den Klamottenetat von Festspielgästen verfügen und sich, während Videoprojektionen die heutige Donau zeigen, über “Tonfilm” und “Bolschewismus” und “die Juden” unterhalten. Was in diesem Fall nicht zu unangenehm juckenden Epochenberührungen, sondern zu zeitloser Unverbindlichkeit führt.

Der 8. Wiener Bezirk ist dann eine Fototapete wie ein Exponat in der Lobby einer Konzernzentrale. Wobei keine Brechung entsteht, sondern keimfreie Distanz zur Gier, zur Sehnsucht, zum Ausgeliefertsein dieser Leute. Dabei singt hier eine Idealbesetzung, die sich auf der Bühne des Bregenzer Festspielhauses unterfordern lässt. Anja Siljas kalte Alte kann einen bis in die Träume verfolgen, Angelika Kirchschlagers Trafikantin lässt alle Hohlräume und Keimschutzfolien wegbrennen mit einem einzigen, halb gesungenen Satz, abgefeuert auf Schmarotzer Alfred: “So klein möcht ich dich sehn, so klein!”

Da raucht die Stimme wie ein Colt, da ist man aber schon wieder nah am Sprechtheater. Es spricht für Gruber, dass er solche Nähe zulässt, und zeigt zugleich, welche Intensität Horváths Text tatsächlich birgt. Die Crew um die zerbrechliche Ilse Eerens als Marianne könnte man sich auch denken für eine ganz andere, ungeschriebene Partitur, eine der Extreme und des Eigensinns. Was nicht heißt, Oper könne nur durch rücksichtslose Ästhetik den Horizont nachhaltig erweitern. Dann nämlich gäbe es die Zauberflöte nicht.

Mit ihr feiert in Bregenz ein Werk Rekorde, das vor 223 Jahren als kalkulierter Kassenschlager begann, mit ihr outet sich David Pountney zum Abschied als Intendant als Wiedergänger des Showprofis Emanuel Schikaneder, der auch ein Pionier der Freiluftevents und technischer Gimmicks war. 210 000 Menschen werden sich in diesem Sommer ansehen, was der Brite im Vorjahr (ZEIT Nr. 31/13) für die Seebühne inszenierte: Ein Theater großer Wunderbilder, bei dem sogar der Sonnenuntergang überm See mitspielt, pünktlich und dunkelrot.

Da werden 7.000 Besucher gemeinsam zu Kindern, die himmelhohe Drachenhunde bestaunen und selbstfahrende Gondeln und eigensinnige Riesengrashalme, vom Seewind gestreichelt, den Bungeeangriff der Spidermänner, indonesische Fabeltiere und singende Puppen, die Königin, die von ihrer Krinoline in die Nacht gehoben wird, kurz, die schikanederischste Zauberflöte seit 1791, deren Widersprüche sich in Farben auflösen und, natürlich, in Mozart. Auch hier funktioniert alles fabelhaft. Zum Glück. Denn die Utopie brauchen wir so dringend wie die Beunruhigung.

Der Text erschien mit anderer Unterzeile in der ZEIT vom 31.7.2014 und ist urheberrechtlich geschützt

Unsere kalten Augen

Jossi Wieler und Sergio Morabito setzen Wagners “Tristan und Isolde” in Stuttgart dem modernen Überwachungsstaat aus – und entdecken die Intimität als Politikum

Draußen die Politik, drinnen das Privatleben? Falls das je so gewesen sein sollte, jetzt geht es nimmermehr. Wenn sich jeder potenziell überwacht fühlen kann, vom eigenen Handy belauscht, vom eigenen PC angeschaut, während bald auch das eigene Auto jeden Seitensprung zur Leuchtspur auf anonymen Bildschirmen machen wird, dann wird das Bestehen auf Intimität zum Politikum schlechthin. Es ist also kein Zufall, dass ausgerechnet jetzt das Hohelied der Intimität in gleißend kaltem Licht auseinandergenommen wird, Tristan und Isolde. Übrigens die einzige Oper von Richard Wagner, an der es nichts zu entnazifizieren gab und gibt, weil nicht einmal die Nazis daran etwas zurechtzubiegen fanden: die ganz große ewige Liebe!

Ziemlich unbeschädigt sind Tristan und Isolde bis jetzt durch 150 Jahre und noch viel mehr Deutungen gesegelt, noch vor der schärfsten Regiebefragung geschützt durch einen Rest an Mythos und Pathos, den die Partitur unverletzlich birgt – und an dem wir heute zunehmend hängen, wie an einer Erinnerung daran, dass Gefühle etwas Großes sein können, stärker, viel stärker als das Diktat gesellschaftlicher Anpassung. In der Stuttgarter Staatsoper gerät das Liebespaar nun ins Zentrum totaler Überwachung – in jenes “Panopticon” nämlich, das Jeremy Bentham 1791 in England entwarf, einen Zylinder aus Zellen rund um einen Wachtturm, von dem aus sich jeder Insasse jederzeit beobachtbar wusste. Das perfekte Gefängnis.

Zunächst aber werden die Liebenden von Jossi Wieler und Sergio Morabito jener doch reichlich zähen Aura entkleidet, die die Rezeptionsgeschichte ihnen hat angedeihen lassen. Auf regelrecht durchtriebene Weise gehorchen die Regisseure und ihr Bühnenbildner Bert Neumann auf den ersten Blick dem Komponisten und seinen Anweisungen und zeigen im ersten Aufzug ein Schiff auf weitem Meer: jenes Schiff, auf dem Tristan Isolde als Gemahlin für seinen König Marke aus Irland nach Cornwall bringt. Allein, die Kogge hat kein Segel, am Mast ist eine biedermeierliche Standuhr festgebunden, und die Wellen werden mechanisch auf und nieder bewegt, wie einst im Barocktheater. Tristan am Ruder trägt ein Paletot wie Wagner zur Entstehungszeit, Isolde hingegen einen roten Hosenanzug der siebziger Jahre.

Die ganze Szene ist zusammengeworfen aus Epochen, Zitaten, mehr Dekonstruktion als Collage, pathosfreier geht es nicht, und nach dem Entbrennen der Liebe winkt Tristan völlig gaga über die Wellen, aus denen grünlich der Chor ragt und singt. Aber, oh Wunder, als Menschen nehmen er und sie sowie das Dienerpaar Brangäne und Kurwenal trotzdem Gestalt an. Christiane Iven singt so fein, so innig, so identisch die erste Isolde ihrer Laufbahn, Erin Caves einen so hilflos drangvollen Tristan, dass sie sich durch die Trümmer der Rezeption, auch durchs monströs Hehre ihrer Texte hindurch mit der Wahrhaftigkeit verbinden, für die auch Sylvain Cambreling im Orchestergraben, am Pult des Stuttgarter Staatsorchesters glühend eintritt.

Trotzdem bliebe der erste Akt für sich ein Rätsel, ja fast ein Unfug, begriffe man ihn im zweiten Akt nicht als Aufräumarbeit. Die Liebenden sind nicht mehr mythisch und noch weniger konsistent. Ihre Verletzlichkeit könnte unsere sein, und wie wir machen sie sich etwas vor, vor allem den Glauben, unbeobachtet zu sein. Zur Liebesnacht treffen sie sich mitten in jenem Panopticon, das rund um den Wachtturm vorerst mit grauenhaftem Glitzerkram wie für ein Trash-Märchen zugehängt ist. “Lass mich sterben”, singen sie in Hingabe und posieren dabei, das Pathos karikierend, zugleich wissend, dass sie gesehen werden, und nicht zuletzt aus jener Albernheit heraus, mit der Liebende mitunter auf die Flutwelle ihrer Leidenschaften reagieren. Welche Komplexität.

Hilflos sind sie, zusammengesetzt aus Behauptungen, und doch menschlich wie selten zuvor. Was da für Momente als Richtiges im Falschen, als Souveränität in der Unterdrückung entsteht und gedeiht, wird von grellem Licht zerfetzt. Aus den Zellen ringsum sind Strahler geworden, alles ausleuchtend, “das Land, das alle Welt umspannt” (um Isoldes Worte über das Dunkel abzuwandeln). Isolde wächst daran. Wie ein Urweib durchschreitet sie die Welt gekrümmter Männer, die da zum Vorschein kommt, Tristan, der Held, inklusive, der schamesrot vorm selbstmitleidig dröhnenden, gehörnten König steht und sich das Messer des Schergen Melot selbst in die Brust stößt, für ein langes, qualvolles Siechtum …

So klar, wie man sich die Inszenierung machen kann, kommt sie freilich leider nicht daher. Wieler und Morabito, hyperintelligent, sind geradezu allergisch auf Eindeutigkeiten; sie lieben Andeutungen, Befragungen an der Grenze zur Abstraktion, zusammengehalten von der Sensibilität ihrer Personenführung. Was sie sich aber nun einmal offenkundig vorgenommen haben, die Freilegung des Politischen und der Deformation des Privaten, zudem noch die Befreiung vom Tristan- Mythos, das brauchte entschieden mehr Zeigefinger, mehr Demonstration, damit das Publikum von seiner Denkarbeit ein wenig entlastet wird. Andererseits geht es ja gerade um Nuancen, die jeder Zeigefinger wohl zerdrücken würde.

Darum kann das heikle Konstrukt am Ende nicht aufgehen, auch wenn nun, wie dialektisch nicht anders zu erwarten, das Schiff als Wrack (der Welt, der Kultur, der Liebe?) im Zentrum der Strahler steht. Im Laufe des dritten Aufzugs verdämmern sie wie Tristan, den Isolde nicht mehr retten kann. Und nach und nach füllt sich der Raum doch wieder mit Mythos. Der kommt aus der Musik. Sie wird in den fünf Stunden innigst gebraucht, wächst und blüht, sie bestätigt das Menschsein, das den Protagonisten so gerade eben noch gelingt. Und sie fordert die Solisten so enorm, dass Christiane Iven mit den Höhen des Liebestods auch Grenzen erreicht. Dass sie dafür, nach ihrem singulären Rollenporträt, Buhs bekommt, wie das Regieteam notorisch auch, zeigt, wie nötig diese Produktion ist: als ein Plädoyer fürs Menschsein jenseits des Funktionierens.

Dieser Text erschien in der ZEIT vom 24.7.2014 und ist urheberrechtlich geschützt

Tödliche Pinkelpause

Ein Fall von grotesker Arroganz gegenüber dem Werk: Hans Neuenfels hat in Frankfurt George Enescus großartige Oper “Oedipe” versenkt

Sogar mit Stinkbomben warfen Frankfurts Opernbesucher, so empört waren sie über die Ausgrabung. Damals. Tatsächlich hatte Hans Neuenfels, damals 39-jähriger Regisseur, etwas ausgegraben, hatte einem Jungmanager namens Radames einen Spaten in die Hand gedrückt, ihn unterm Büro den Sand Ägyptens finden lassen und die Büste der Aida. Verdis Oper, halb erstickt unter einem Jahrhundert der Ausstattungsorgien, wurde anno 1981 von Neuenfels in eine Gegenwart scharfer Konflikte gerissen. Die Produktion, die als archäologischer Traum begann, war bahnbrechend für ein Musiktheater, das die Brisanz der großen Werke freilegte.

Hans Neuenfels, als einer der Väter des “Regietheaters” längst selbst eine Legende und nun 72 Jahre jung, weiß also, was er tut, wenn er, wiederum in Frankfurt, einen Archäologen einen Fund tun lässt. Diesmal ist es wirklich beinahe eine Ausgrabung. Oedipe, einzige Oper des genialen Rumänen George Enescu, geriet nach ihrer Uraufführung 1936 in Paris in den Schatten des Weltkriegs und kam danach zu spät, um so “modern” zu sein, wie das mächtige Häuflein der Serialisten es vorschrieb. Alle fünfzehn Jahre versuchte es ein Haus. Fast jedes Mal wurde Oedipe als Entdeckung bejubelt, ohne den Sprung ins Repertoire zu schaffen. Der schien nun bevorzustehen. Nachdem vor zwei Jahren die Brüsseler Oper mit einer optisch starken, klanglich glühenden Produktion den Rang des Werkes bestätigt hatte, war das Eisen heiß genug.

Nun aber liegt da nur noch ein Haufen kalter Schrott, und man fragt sich, wie das geschehen konnte unter den Händen eines Regisseurs, den man ja nicht nur an seiner legendären Aida messen darf. Immer wieder hat er uns, an unterschiedlichsten Werken, Augen und Ohren neu geöffnet. Noch vor drei Jahren gelang ihm mit Aribert Reimanns Lear in Berlin eine Inszenierung, in der die archaische Wucht des Stoffes zu größter Präsenz konzentriert wurde. Ein Konflikt, in dem keine Kurskorrekturen möglich sind – um so etwas geht es auch bei Ödipus, der tragischsten Menschengestalt der Antike, an der sich Komponist Enescu zehn Jahre lang abgearbeitet hat, bis 1931.

Doch diese Partitur und ihr Libretto sind bei Neuenfels auf das denkbar größte Misstrauen gestoßen, und es gab keinen Musiker, der ihm das ausgeredet hätte. Im Gegenteil: “Die Musik Enescus ist im besten Sinne ein edles Parfüm”, befindet Dirigent Alexander Liebreich über das summum opus nicht nur eines Komponisten, sondern auch eines Pariser Jahrzehnts zwischen den Kriegen. In der Nachglut des 19. Jahrhunderts verschmelzen avancierteste Klangerfindungen zu einer eigenen, dringlichen Sprache. Wenn ein Akkord spüren lassen kann, was es heißt, sich die Augen auszustechen, dann hat ihn George Enescu komponiert. Jeder Ton dieser Geschichte um Bestimmung und Verdrängung, Inzest und Blendung kann einen treffen. Sofern er gespielt wird.

Von rund drei Stunden wurde die Oper auf 90 Minuten heruntergesägt (eine Kürzung kann man das nicht nennen), unter anderem, weil dem Regisseur der vierte Akt nicht gefiel. Der ist in seiner Erlösungsperspektive tatsächlich problematisch, aber welcher Regisseur und Dirigent würde etwa die Festwiese aus Wagners Meistersingern ungespielt lassen, weil ihm das zu nationalistisch ist? Und wer würde diverse Happy Ends der Operngeschichte nicht in ihrer Fadenscheinigkeit produktiv machen, sondern einfach streichen? Glaubt das Frankfurter Team, in George Enescu einen besseren Stehgeiger vor sich zu haben, der mal ein bisschen im großen Genre herumgefingert hat?

Von grotesker Arroganz zeugt es, die französische Lyrik, die zu seiner Musik gehört wie das rumänische Idiom zu ihrer Harmonik, als “reine Zufälligkeit” (Neuenfels) abzutun und hemdsärmelig zu verdeutschen. “Vivante excuse de mon crime” nennt Ödipus die Antigone, die er mit seiner Mutter zeugte, er nimmt seine Tochter und sich damit heraus aus dem eisernen Kreislauf der Schuld. Nun ist sie nur noch “sichtbares Zeichen meiner Taten”. Daneben versucht sich Übersetzer Henry Arnold im beflissenen Stilmix zwischen “Hau endlich ab” und hohem Ton, den falsche Betonungen nicht nur da brechen, wo sich einer “aufgeeeeelehnt” hat gegen die Götter.

Auch das schlimmste Schlachtfest nähme man vielleicht in Kauf, hätte der Regisseur dafür irgendeinen stringenten Wahnsinn zu bieten. Hier aber waltet das Unbehagen, von dem auch Neuenfels’ auf die Bühne projizierte Notizen künden: “Ich bin ein Star. Nichts holt mich ein”, so ruhmgeil lässt er Ödipus denken. So denkt Neuenfels über sich wohl kaum. Was er sich aber überhaupt gedacht hat, wird nicht klar. Ach ja, der Archäologe. In einer Kultkammer, die Rifail Ajdarpasic aus formelübersäten Schultafeln gefügt hat, wohnt der Forscher den Riten um den neugeborenen Ödipus bei, um dessen weiteres Schicksal selbst auf sich zu nehmen. Doch selbst die Antipsychologen vom Regieteam Fura dels Baus sind ihm in Brüssel persönlich näher gekommen als diese verstaubte Personenführung des Händeringens und Taumelns. Manches ist so unfreiwillig komisch, dass man wünscht, es möge ironisch sein. Vergebens.

Eine tödliche Pinkelpause und ein royaler Quickie erinnern wie pflichtschuldig an den Drastiker Neuenfels, ein paar Punks erreichen im Formationsmarsch nicht die Gegenwart, sondern eher eine Vitrine im Haus der Geschichte. Dass Simon Neal als baritonaler Titelheld weder Tiefe noch Schmelz hat und an genauen Tönen weniger interessiert ist als an brüllender Präsenz, macht die Sache nicht besser. Vom Chor dieser Choroper sind ein paar Klangwände geblieben, und Dirigent Alexander Liebreich entlockt dem Orchester nicht einmal das ominöse “Parfum”, sondern nur einen harschen Soundtrack.

Ab und zu steigt ein Detail (etwa ein herrliches Bratschensolo) aus dem Graben, sucht verzweifelt Anschluss an die Szene und verweht. Ab und zu kündet eine wunderbare Stimme wie die Sphinx von Katharina Magiera von den magischen Abgründen, in die man hätte blicken können. Hier verliert ein Meisterwerk, wie sein Titelheld, sein Augenlicht. Es gibt nicht so wahnsinnig viele Partituren dieser Qualität, als dass uns das egal sein könnte. Es gibt auch nicht so viele Regisseure, von denen man nach so einem Abend noch etwas sehen möchte. Hans Neuenfels zählt unbedingt dazu. Denn aufregen kann einen dieser Mann immer, so viel ist sicher. Sogar, wenn er keine Lust hat.

Dieser Text erschien am 12.12.13 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt.

Eine auch auf diesen Text Bezug nehmende Diskussion der besprochenen Produktion findet sich im Capriccio Kulturforum