Kategorie-Archiv: Oper

Wenn nur der Schampus prickelt

Mit Harrison Birtwistle und Mozart in die Stagnation: Die Salzburger Festspiele haben enttäuschend begonnen

Ein alter Bulli, ein Haufen geschrotteter Autos, allerlei Särge, ein Tisch für 20 Personen, ein Stahltor, hoch genug für Ross und Reiter, eine Feuertonne, ein Klavier, zehn Sänger, vierzehn Schauspieler, zwei Schäferhunde (echt). 40 Meter breit ist die Bühne der Felsenreitschule zu Salzburg, da passt was drauf. Alvis Hermanis, Schauspielregisseur aus Lettland, hatte sie schon im vergangenen Jahr vollgeräumt für Zimmermanns Oper Soldaten, nun lässt er dem Weltkrieg die Apokalypse folgen oder vielmehr die Welt danach. Aus dem Kino kennt man sie seit fünfzig Jahren, das Musiktheater übt noch. “2021″, steht in SF-Schrift der siebziger Jahre auf bröckelnder Wand und dass eine Naturkatastrophe nahezu alles menschliche Leben ausgelöscht habe.

Dann machen wir’s uns mal gemütlich in einem der 1400 Festspielsessel, von denen noch einige frei sind – nicht wegen der Preise (gut 300 Euro im vorderen Parkett findet man hier normal), sondern weil es sich um Musik eines Zeitgenossen handelt. Der heißt Harrison Birtwistle, ist mittlerweile 79 Jahre alt, gilt als einer der größten britischen Tonsetzer seit Henry Purcell und wundert sich: Hatte er nicht eine Oper nach der mittelalterlichen Romanze Gawain and the Green Knight geschrieben, mit King Arthur und allerlei Rittern und ohne Autos? Na ja. Das ging vielleicht noch 1991 in London so, als Gawain uraufgeführt wurde. Das Libretto von David Harsent ist indessen so irreal und ritualistisch beschaffen, dass es in jedes Ambiente passt.

Ob der Grüne Ritter nun eine Burg von gestern oder ein ruiniertes Kraftwerk von morgen betritt, sein Anliegen ist in jedem Fall erstaunlich. Der Gast an Arthurs Hof will per Axt geköpft werden, aber seinerseits den köpfen, der das wagt. Gawain wagt es, reist ein Jahr später zur verabredeten Revanche, verliert aber nicht den Kopf (der dem anderen längst nachgewachsen ist), sondern gewinnt die Liebe der Rittersfrau und kehrt geläutert zurück. Wer dem einen Sinn abringen wollte, hätte damit vielleicht länger zu tun als Birtwistle mit dem Komponieren. Seine Musik klingt, als hätte sie sich selbst komponiert. Sie wuchert wie Ranken, die sich im Dschungel übereinanderlegen, und es ist ein großer Dschungel! Tief und dunkel, neun Kontrabässe, drei Tubas…

Und rundherum das ORF Radio-Symphonieorchester Wien, dessen Perkussionisten und Vibrafonisten noch rechts und links Balkons erklommen haben, während in der Mitte Ingo Metzmacher mit sicherer Hand das Blattwerk teilt, damit man die Sänger noch hört. Denn Birtwistle folgt den Stimmen nicht, er bringt sie unter, akustisch ist es so, als recke sich hier und da eine Hand durchs Wurzelwerk, ein Kopf über die Wipfel. Dagegen erlebte man in seiner Oper The Minotaur, vor fünf Jahren uraufgeführt, einen Sog und eine Transparenz, die in den 22 Jahre alten Gawain nicht einmal ein so hellköpfiger Dirigent wie Metzmacher hineinbringen kann.

Je länger es dauert, desto näher rückt der Gedanke, Birtwistle habe die Oper geschrieben, weil man sich sonst in keinem Genre mehr als zwei Stunden lang als Komponist austoben kann. Insofern hat ihn Regisseur und Bühnenbildner Hermanis völlig richtig verstanden. Keine Individuen, keine Entwicklung, keine Position, dafür Drastik. Kopf ab mit Kettensäge, Kannibalismus, auch die Hunde kriegen was ab vom Schmadder, die letzten Menschen sind die neuen Wilden, während eine Projektion in Flutvideos aus Fukushima schwelgt. Die Musik wirkt dazu wie ein Soundtrack, der uns vor der Realität bewahrt, ein neoromantischer Kinosound, der mit Posaunenstößen, Hornrufen, wummernden Bässen, fiependem Diskant die Apokalypse popcorntauglich macht.

Beziehungsweise schampuskompatibel. Den Festspielgästen wird immer behaglicher. Schließlich ist hier auch der Bildungsbürger gefordert. Gawain sieht aus wie Joseph Beuys! Er baut sogar dessen Rudel nach, mit VW-Bus und Schlitten, und ist sich mit der Natur einig, die hier als Moos schon Gegenstände und Darsteller überwuchert. Er könnte gar ein erlösender Parsifal sein… Immerhin muss man von Christopher Maltman wie von allen Solisten sagen, dass er sich voll und grandios verausgabt.

Noch behaglicher freilich wird den Festspielgästen, wenn am nächsten Abend der Vorhang über Pinien und Säulen aufgeht, zwischen denen Sänger in Kostümen der Mozartzeit mit den Standardgesten der 1960er Lucio Silla aufführen. Was Regisseur Marshall Pynkoski als “historisch” ausgibt, ist steriler Historismus. Darin werden die Konventionen umso deutlicher, in denen der 16-jährige Mozart noch feststeckt, wo er nicht – wie in der Ouvertüre und den Arien des Titelhelden – schon ganz bei sich ist. Das klingt dann allerdings hinreißend, weil Marc Minkowsky und die Musiciens du Louvre Grenoble den Komponisten wirklich in seiner Zeit und nicht in der Vitrine suchen. Und weil Startenor Rolando Villazón sein Talent zur Karikatur nicht bändigt.

Doch unterm Strich passen die beiden Abende ins seltsam umschattete Interregnum des Intendanten Alexander Pereira, der im Vorjahr antrat und 2014 schon nach Mailand wechselt. Nebenwerke großer Namen, Regisseure, die nichts entwickeln. Die Apokalyptik des einen, die Idyllik des andern zeigen eine Stagnation, nach der die Gewitterböen an der Salzach richtig erfrischen.

Der Artikel erschien am 1. August 2013 in der ZEIT

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt.

Wenn nur der Schampus prickelt

Mit Harrison Birtwistle und Mozart in die Stagnation: Die Salzburger Festspiele haben enttäuschend begonnen.

Ein alter Bulli, ein Haufen geschrotteter Autos, allerlei Särge, ein Tisch für 20 Personen, ein Stahltor, hoch genug für Ross und Reiter, eine Feuertonne, ein Klavier, zehn Sänger, vierzehn Schauspieler, zwei Schäferhunde (echt). 40 Meter breit ist die Bühne der Felsenreitschule zu Salzburg, da passt was drauf. Alvis Hermanis, Schauspielregisseur aus Lettland, hatte sie schon im vergangenen Jahr vollgeräumt für Zimmermanns Oper Soldaten, nun lässt er dem Weltkrieg die Apokalypse folgen oder vielmehr die Welt danach. Aus dem Kino kennt man sie seit fünfzig Jahren, das Musiktheater übt noch. “2021″, steht in SF-Schrift der siebziger Jahre auf bröckelnder Wand und dass eine Naturkatastrophe nahezu alles menschliche Leben ausgelöscht habe.

Dann machen wir’s uns mal gemütlich in einem der 1400 Festspielsessel, von denen noch einige frei sind – nicht wegen der Preise (gut 300 Euro im vorderen Parkett findet man hier normal), sondern weil es sich um Musik eines Zeitgenossen handelt. Der heißt Harrison Birtwistle, ist mittlerweile 79 Jahre alt, gilt als einer der größten britischen Tonsetzer seit Henry Purcell und wundert sich: Hatte er nicht eine Oper nach der mittelalterlichen Romanze Gawain and the Green Knight geschrieben, mit King Arthur und allerlei Rittern und ohne Autos? Na ja. Das ging vielleicht noch 1991 in London so, als Gawain uraufgeführt wurde. Das Libretto von David Harsent ist indessen so irreal und ritualistisch beschaffen, dass es in jedes Ambiente passt.

Ob der Grüne Ritter nun eine Burg von gestern oder ein ruiniertes Kraftwerk von morgen betritt, sein Anliegen ist in jedem Fall erstaunlich. Der Gast an Arthurs Hof will per Axt geköpft werden, aber seinerseits den köpfen, der das wagt. Gawain wagt es, reist ein Jahr später zur verabredeten Revanche, verliert aber nicht den Kopf (der dem anderen längst nachgewachsen ist), sondern gewinnt die Liebe der Rittersfrau und kehrt geläutert zurück. Wer dem einen Sinn abringen wollte, hätte damit vielleicht länger zu tun als Birtwistle mit dem Komponieren. Seine Musik klingt, als hätte sie sich selbst komponiert. Sie wuchert wie Ranken, die sich im Dschungel übereinanderlegen, und es ist ein großer Dschungel! Tief und dunkel, neun Kontrabässe, drei Tubas…

Und rundherum das ORF Radio-Symphonieorchester Wien, dessen Perkussionisten und Vibrafonisten noch rechts und links Balkons erklommen haben, während in der Mitte Ingo Metzmacher mit sicherer Hand das Blattwerk teilt, damit man die Sänger noch hört. Denn Birtwistle folgt den Stimmen nicht, er bringt sie unter, akustisch ist es so, als recke sich hier und da eine Hand durchs Wurzelwerk, ein Kopf über die Wipfel. Dagegen erlebte man in seiner Oper The Minotaur, vor fünf Jahren uraufgeführt, einen Sog und eine Transparenz, die in den 22 Jahre alten Gawain nicht einmal ein so hellköpfiger Dirigent wie Metzmacher hineinbringen kann.

Je länger es dauert, desto näher rückt der Gedanke, Birtwistle habe die Oper geschrieben, weil man sich sonst in keinem Genre mehr als zwei Stunden lang als Komponist austoben kann. Insofern hat ihn Regisseur und Bühnenbildner Hermanis völlig richtig verstanden. Keine Individuen, keine Entwicklung, keine Position, dafür Drastik. Kopf ab mit Kettensäge, Kannibalismus, auch die Hunde kriegen was ab vom Schmadder, die letzten Menschen sind die neuen Wilden, während eine Projektion in Flutvideos aus Fukushima schwelgt. Die Musik wirkt dazu wie ein Soundtrack, der uns vor der Realität bewahrt, ein neoromantischer Kinosound, der mit Posaunenstößen, Hornrufen, wummernden Bässen, fiependem Diskant die Apokalypse popcorntauglich macht.

Beziehungsweise schampuskompatibel. Den Festspielgästen wird immer behaglicher. Schließlich ist hier auch der Bildungsbürger gefordert. Gawain sieht aus wie Joseph Beuys! Er baut sogar dessen Rudel nach, mit VW-Bus und Schlitten, und ist sich mit der Natur einig, die hier als Moos schon Gegenstände und Darsteller überwuchert. Er könnte gar ein erlösender Parsifal sein… Immerhin muss man von Christopher Maltman wie von allen Solisten sagen, dass er sich voll und grandios verausgabt.

Noch behaglicher freilich wird den Festspielgästen, wenn am nächsten Abend der Vorhang über Pinien und Säulen aufgeht, zwischen denen Sänger in Kostümen der Mozartzeit mit den Standardgesten der 1960er Lucio Silla aufführen. Was Regisseur Marshall Pynkoski als “historisch” ausgibt, ist steriler Historismus. Darin werden die Konventionen umso deutlicher, in denen der 16-jährige Mozart noch feststeckt, wo er nicht – wie in der Ouvertüre und den Arien des Titelhelden – schon ganz bei sich ist. Das klingt dann allerdings hinreißend, weil Marc Minkowsky und die Musiciens du Louvre Grenoble den Komponisten wirklich in seiner Zeit und nicht in der Vitrine suchen. Und weil Startenor Rolando Villazón sein Talent zur Karikatur nicht bändigt.

Doch unterm Strich passen die beiden Abende ins seltsam umschattete Interregnum des Intendanten Alexander Pereira, der im Vorjahr antrat und 2014 schon nach Mailand wechselt. Nebenwerke großer Namen, Regisseure, die nichts entwickeln. Die Apokalyptik des einen, die Idyllik des andern zeigen eine Stagnation, nach der die Gewitterböen an der Salzach richtig erfrischen.

Der Artikel erschien am 1. August 2013 in der ZEIT

Wir frieren nicht mehr

Wie konnte dieser Komponist nur solange überhört werden? Die Theater in Mannheim und Karlsruhe entreißen das Operngenie Mieczysław Weinberg der Vergessenheit

Sie ist es wirklich. Die zierliche, lächelnde, hell und elegant gekleidete Dame dort auf der Bühne zwischen den erschöpften Akteuren ist dieselbe Zofia Posmysz, die anno 1959 auf der Place de la Concorde in Paris jäh von Auschwitz eingeholt wurde. Eine deutsche Touristin hatte etwas gerufen, der Polin war die Stimme furchtbar vertraut. War das nicht eine der Aufseherinnen aus dem KZ? Posmysz hatte zwei Jahre Auschwitz überlebt. Ihr Pariser Erlebnis hat sie im Roman Die Passagierin umgedreht: Eine ehemalige Aufseherin, unterwegs nach Brasilien, glaubt auf dem Schiff eine KZ-Insassin wiederzuerkennen – und selbst erkannt worden zu sein.

Und nun steht die Autorin mit ihren 89 Jahren auf der Bühne des Badischen Staatstheaters in Karlsruhe und umarmt die Hauptdarstellerinnen. Marta, ihr alter ego, und Lisa, modelliert nach jener Aufseherin, von der sie schreibt: “Manchmal vergaß sie, dass sie eine SS-Uniform trug.” Mit Lisa, aus der Perspektive einer Täterin, beginnt das Wunder einer Oper, der einzigen Oper über Auschwitz. Wer Die Passagierin erlebt hat, von Mieczysław Weinberg 1968 nach Zofia Posmysz’ Roman komponiert, fragt sich: Warum wurde dieses Werk erst vor drei Jahren uraufgeführt? Wie konnte dieser Komponist so überhört werden?

Die Frage verschärft sich, da zehn Tage vor der deutschen Erstaufführung der Passagierin in Karlsruhe in Mannheim eine weitere Weinberg-Oper uraufgeführt worden ist: Der Idiot nach Dostojewski von 1986. Die Parallelaktion der Häuser, 17 Jahre nach Weinbergs Tod, zeigt, dass es nie zu spät ist für ein Genie – und dass es im Westen mindestens so ideologisch zuging wie im Osten. Während man in der UdSSR Weinberg als polnischen Juden an der kurzen Leine hielt, genügte seine Musik im Westen nicht der gängigen Avantgarde. Deren Kriterien freilich erweisen sich hier endgültig als groteske Anmaßung.

Mieczysław Weinberg, 1919 in Warschau geboren, spielte schon als Zehnjähriger in dem Theater Klavier, in dem sein Vater dirigierte. Mit 18 schrieb er ein Streichquartett, das ihn auf der Höhe der Zeit zeigt. Als er neunzehn war, kam die Wehrmacht. Er floh zu Fuß nach Osten, seine Familie sah er nie wieder. Eltern und Schwester verlioren ihr Leben. Weinberg studierte zuerst in Minsk, rettete sich 4.000 Kilometer weiter nach Taschkent, schließlich holte ihn Schostakowitsch nach Moskau. Er war es auch, der ihm Zofia Posmysz’ Roman in die Hand drückte und, als keine Aufführung zustande kam, Klaviervorführungen der Oper im kleinen Kreis organisierte.

Diese Freundschaft war immer wieder Anlass, Weinberg einen Epigonen zu nennen. Es gibt in der Passagierin den Umgang mit trivialen Idiomen, den Schostakowitsch, Mahler fortschreibend, zu einer eigenen sarkastischen Sprache gemacht hat. Weinberg ist weitergegangen. Er hat für Auschwitz eine Eigentlichkeit des Uneigentlichen entwickelt: eine Musik, die Signale setzt, aber nichts behauptet, die zitiert und bricht, die von der Seite komt und doch Autarkie entwickelt, Identität, ganz unmittelbar zu hören, ein Leben. Eben das, was in den Lagern fast alle verloren.

Die Welt des Lagers wird in Rückblenden immer dominanter, bis die Schiffsreise nur noch Folie ist. Bei der Uraufführung in Bregenz hatte David Pountney die beiden Welten in drastischem Realismus getrennt, in Karlsruhe vereinen Regisseur Holger Müller-Brandes und Ausstatter Philipp Fürhofer sie auf spiegelnder Fläche, auch sonst sind immer beide Welten präsent – so trägt Lisa auf See ein militärisch geschnittenes Jackett. Wird damit nicht die Perspektive zerstört, die die frühere Täterin zuerst als verliebte Privatperson zeigt? Dem steht nicht nur die anrührende, strahlende Intensität der Lisa von Christina Niessen entgegen, sondern auch die Musik.

Wenn die Erinnerung einsetzt, senkt sich eine akustische Schranke: 41 Takte lang ertönt vom Vibrafon dieselbe Quinte. Sanft fast, aber unerbittlich. Und so arbeitet auch die Regie. Im abstrakten Raum trägt niemand Hakenkreuz, manche “Neuzugänge” kommen mit modernen Rollkoffern, die männlichen SS-Leute sind eher Karikaturen – doch wird das KZ nicht relativiert. Es wird uns als Bewusstseinsraum geöffnet, in dem aus Opfern Menschen werden.

Da ist der herbe Stolz von Marta (der fantastischen Sopranistin Barbara Dobrzanska), die die Aufseherin Lisa so fasziniert, dass es an Liebe grenzt. Da ist der Stolz des Geigers, der dem Kommandanten nicht den gewünschten Walzer spielt, sondern mit Bachs Chaconne (gespielt von allen Violinen) in den Tod geht. Selbst Beethovens Fünfte kommt vor, von Blechbläsern verzerrt. Unfassbar, welche Vielfalt von Renaissance bis Foxtrott Weinberg einsetzt, ohne die Identität seiner Musik zu gefährden. “Traurig und frei”, wie die Komponistin Sofia Gubaidulina sagt, dringt sie in den Hörer ein. Je mehr man davon hört vom Karlsruher Orchester unter Christoph Gedschold, desto unfassbarer wird die Arroganz, mit der die westliche Avantgarde lange die Mittel diskreditierte, mit denen diese Musik arbeitet.

Der Neustart der Serialisten, der auf den Zivilisationsbruch des “Dritten Reichs” mit Traditionsbruch reagierte und alles Vertraute, jeden Durakkord als regressiv verdächtigte, funktionierte auch als Heilslehre: Nur so entkam man dem Schatten des Totalitarismus. Dabei entstand Bahnbrechendes, aber auch das mieseste Misstrauen der Musikgeschichte. Es traf nicht nur jene, die “Literaturopern” schrieben. Es traf auch all die zuvor als “entartet” verpönten jüdischen Komponisten von Korngold bis Goldschmidt, die nach 1945 noch Sinnlichkeit wagten.

“Die Schönheit ist nicht tot, sie fiel in Ungnade”, dichtet Dostojewski

So hätte auch Weinbergs Oper Der Idiot 1986 im Westen keine Chance gehabt (zuhause in Moskau galt er ohnehin wenig). Sie lässt staunen, wie obsessiv hier einer ohne Publikum komponierte, wie sein Stil reift und doch bei sich bleibt. Diesmal dringt die Musik nicht in uns ein, sie nimmt uns auf. Man weiß nicht, ob das Orchester dem Geschehen folgt oder es hervorbringt. Streicherbänder zunächst, dann Bläserbögen, die vorm Abteilfenster entlangfließen wie die Telegrafendrähte auf der Fahrt nach Sankt Petersburg, mit der Dostojewskis Roman ebenso beginnt wie die Oper.

Zur Mannheimer Uraufführung führen Regisseurin Regula Gerber und ihr Bühnenbildner Stefan Mayer mit ein paar Requisiten die Stationen der Story vor, ohne konzeptuelle Ambitionen. Umso stärker entwickeln sich die Personen, und Dmitri Golownins Myschkin berührt nicht nur durch seimen innig starken Tenor. Ein so zutrauliches, zerbrechliches Lächeln findet man sonst nur bei Kindern, man bangt um ihn. Dieser Myschkin ist tatsächlich überzeugt, dass das “Böse” nicht zwingend zum Menschen gehört.

Damit verwirrt er die Petersburger Gesellschaft, und deren Starmätresse Nastassja Filipowna fühlt sich zum ersten Mal verstanden. Ludmila Slepneva singt die Mezzopartie schlank, hell, dringlich, liebend. Statt Myschkin heiratet sie dennoch Rogoschin – Bassist Steven Scheschareg kann leiden wie ein Hund und wüten wie ein Husar. Unaufwendig holt Weinberg die Sprachlinien aus dem Text und flicht sie in seinen Klang. Dieser Klang bildet einen Kosmos, die Sprache eines Romans. Leuchtend Unverbrauchtes liegt darin, hier wächst ein vorhandener Fundus zu einer neuen, eigenen Konsistenz heran. Das hätte nicht früher geschrieben werden können.

Fürst Myschkin, als er die Zuversicht verliert, sagt: “Die Schönheit ist nicht tot. Sie fiel in Ungnade.” Da spricht Weinberg auch von seiner Musik, die der Dirigent Thomas Sanderling und das Mannheimer Orchester in allen Dimensionen entfalten. Mitunter weiß sie in einer Klarinettenkapriole, dass etwas geschehen wird, mitunter träumt sie, oder sie gerät außer sich: Grauenhaft hämmern Streicher und Glocken zur Epilepsie des Fürsten eine Quarte.

Je weniger Töne es werden, desto größer wird ihre Bindungskraft. Da sieht man die innere Spannung der Partitur fast vor sich. Sie führt in ein Ende ohne Zuversicht: Nastassja ist tot, erstochen. Bei ihr sitzen der Fürst und Rogoschin, den man kaum Mörder nennen mag, so gut versteht man ihn, so nahe sind die beiden Männer einander, verunsichert, durchscheinend, erschöpft. “Ach, ich friere”, sagt Myschkin.

Aber wir frieren nicht. Wir haben Menschen erlebt, an beiden Abenden. Als nach der Passagierin Zofia Posmysz auf die Bühne tritt, wirkt das nicht wie der Wechsel vom Theater zum “richtigen Leben”. Sie gehört dazu, sie fühlt sich verstanden, und man begreift, dass das Leben solche Kunst braucht. Und dass Mieczysław Weinberg genau deswegen so unbeirrbar komponierte.

Der Artikel erschien am 23. Mai 2013 in leicht gekürzter Fassung in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt.