Kategorie-Archiv: Kolumne

Rausch der Verwandlung

Sie suchen etwas für Ihre Frau?“ Die Verkäuferin riet richtig. Warum sonst sollte sich ein Mann im Duty-Free-Shop ansehen, was an Kosmetika, an Düften und Farben so alles für Damen zur Verfügung steht? Naja, er könnte auch eine Tochter haben, die so etwas mag. Oder eine Geliebte. Oder er legt sich gelegentlich Frauenfummel an und braucht den Duft dazu. Oder er will am Fughafen Zürich überprüfen, wie es sich in der Preisgestaltung niederschlägt, dass hier etliche von jenen 70 Millionen Menschen unterwegs sind, die knapp die Hälfte von allem Geld der Welt unter sich aufteilen.

Der letzte Aspekt kam in dem Laden wirklich nicht zu knapp. Schwer, ein Mitbringsel zu finden, das unter 60 Franken kostete, während im dreistelligen Bereich die Auswahl groß war. Aber für einen, dem bei 60 Franken schon der Etat knirscht, hat es seinen Reiz, wenn ihm unbegrenzte Mittel zugetraut werden. Ich hatte ja auch meinen besten Sommermantel an, eine nagelneue Umhängetasche, und den ausgefransten Schnürsenkel muss die Verkäuferin übersehen haben. „Ich merke schon, sie schauen immer zu den Duftkollektionen“, sagte sie. „Da könnte ich Ihnen etwas Besonderes zeigen.“

Sie führte mich zu einem der leuchtenden Altäre, die im Raum verteilt waren. „Dior“, sagte sie leise. „Ah, Dior!“ Ich beugte mich interessiert über die Vitrine. „Parfümminiaturen bekommen Sie natürlich überall, aber diese gibt es auf der ganzen Welt nur in Shanghai, Dubai und bei uns.“ Ich sah auf die kleinen Fläschchen, die in einem Karton mit zwei Etagen lagen. „J´adore“, „Miss Dior“, „Poison“, „Dior Addict“, „Dune“, „Dolce Vita“… “Zum Sprayen”, ergänzte sie und sah mich erwartungsvoll an. “Sehr schön”, sagte ich, “und sogar ganz ohne Preis!“ Sie zeigte auf ein Fach darunter, da las man Genaueres.

Hundert Franken sollte das kleine Sechserpack kosten, also um die neunzig Euro, das ist ja praktisch nichts, geschenkt, wenn man bedenkt, wie lange so etwas hält und, vor allem, wie exklusiv es ist. Jede Dame von Welt, der sich die Beschenkte mit einem dieser Sprayfläschchen zeigen würde, wüsste gleich, dass man es dafür nach Zürich, Dubai oder Shanghai geschafft haben muss oder dort gar vorzugsweise shoppt. Auf einmal konnte ich mich mühelos ins Innerste der Oligarchenfrauen und ihrer Männer einfühlen und spürte den Sog eines Gegenstands, dessen Preis noch von einem elitären Surplus getoppt wird.

Ich stand nicht nur aus Höflichkeit so lange da, es riss wirklich an mir. Ah, holder Wahnsinn, diese Phiolen in Aschenputtels zerarbeitete Hände zu legen, delirierte ich, Vielflieger König Drosselbart! 90 Euro, nun ja… „Da muss ich mal meditieren“, sagte ich, und die Verkäuferin begriff und entfernte sich mit einem Lächeln. Ich kehrte zurück zu den Deorollern. Es gab da einen von Lancome mit dem Duft dreier Rosen. Unnötig zu sagen, was er kostete. Denn er kam so gut an, als hätte ich ihr das Set von Dior mitgebracht. Sogar noch besser. Denn die Preisdifferenz reicht glatt für einen beinahe neuen Kindersitz.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt

Was, Sie haben noch kein Narrativ?

Was ist eigentlich aus den Aporien und Idiosynkrasien geworden? Vor zehn, fünfzehn Jahren wurden sie von Publizisten bis zur Penetranz eingesetzt – zwei Begriffe, die gut nach humanistischer Bildung klingen und irgendwie immer passen. Wie alles sind sie tempora und mores gefolgt und aus der Mode geraten, dafür haben zwei andere altsprachliche Begriffe neue Karrieren gemacht. Ohne Narrativ geht heute nämlich keiner mehr der Dystopie entgegen. Man fragt sich direkt, wie wir vor fünf Jahren noch ohne sie ausgekommen sind.

Narrative werden den Gebietsansprüchen einander bekämpfender Nationen ebenso zugeschrieben wie den „Gefällt mir“-Anballungen eines weltweiten Netzwerks, das mit seinem Narrativ, „sozial“ zu sein, trotz aller Übergriffigkeit prima durchkommt. Weswegen manche da schon die Dystopie einer gläsernen Menschheit real werden sehen. Früher hätte man „Horrorszenario“ gesagt oder „schauerliche Zukunftsvision“ oder „negative Utopie“. Mittlerweile poppt die Dystopie schon auf, wenn es um industriell hergestellte Fleischwaren geht.

Kurioserweise bedeutet sie, altgriechisch wörtlich genommen, genau dasselbe wie Utopie, nämlich Unort, Nicht-Ort. Aber da sich die Utopie als jener nicht existierende Ort etabliert hat, an dem alles läuft wie gewünscht, bietet sich die Dystopie als Hölle zum Himmel an. Vielleicht steckt tatsächlich ein bisschen, noch so´n Wort, Manichäismus hinter der Mode: Das gut, das schlecht. Anderseits klingt Dystopie viel eleganter und schmerzfreier als „Horrorvision“, wie eine klinische Diagnose. Der Begriff sichert Distanz.

Der andere auch. Zum Narrativ veredelt und vernebelt man heute eine Behauptung, ein Axiom, eine Gründungslegende, eine Interpretation, mit der so extrem Komplexes wie Erster Weltkrieg und Nahostkonflikt, soziale Medien und europäische Identität auf ein Leitmotiv gebracht werden können. „Es kam ihnen nicht in den Sinn, dass sie verraten werden könnten. Sie waren durchaus bereit, ihre Hand in die Hand eines zu legen, der sie fortführen woillte, vorausgesetzt, er erzählte ihnen eine schöne und edle Geschichte.“

Das schreibt Louis Guilloux 1935 in „Schwarzes Blut“ über die Rekruten, die sich 1916 in einer französischen Kleinstadt versammeln. Mit dem passenden Narrativ, so lässt sich das lesen, können Menschen zu Narren und dann zu Toten werden. Sollte man also, bei Parallelen in der Gegenwart, nicht eher von Propaganda sprechen statt von Narrativen, und mit Blick auf ihre möglichen Folgen von Katastrophen statt von Dystopien? Die beiden Modewörter , so fein sie klingen, halten uns die Welt vom Leib, nicht vor die Augen.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt

Tonleitern führen selten ins Freie

Über den Pianisten Evgeny Kissin war jetzt mal wieder zu lesen, er habe schon als Zweijähriger improvisiert. Da musste ich lachen. Ich habe zu Kissin überhaupt nichts zu sagen, da ich ihn noch nie spielen hörte, ich bin schon reichlich damit bedient, von den tausenden lebenden Klaviersolisten vielleicht fünfzig näher behorcht zu haben. Aber welcher Zweijährige improvisiert denn nicht? Wenn ein Klavier in der Nähe steht, nehmen sie das Klavier. Oder eine Trommel. Oder Stift und Papier. Oder Steine, die im Gras verlegt werden. Zweijährige improvisieren unablässig, mit unfassbarer Freiheit.

Wenn man sie lässt, jedenfalls, und als Anregung ein bisschen mehr da ist als ein Fernsehgerät und andere Selbstläufer. Bilder, Improvisationen und selbstausgedachte Geschichten von Zweijährigen sind oft von leuchtender Schönheit. Wenn Eltern der 1970er angesichts der Avantgarde gern spotteten, „das kann mein Kind auch“, dann verhöhnten sie in Wahrheit nicht die Künstler, sondern die Kinder, deren Freiheit sie nicht begriffen. Natürlich ist das auch eine Freiheit von Regeln. Sie zu behalten, ist allerdings schwieriger und stößt auf größeren Widerstand, als Klavier spielen zu lernen.

Nun mal das doch mal richtig, und so geht die Melodie! Wenn ein Kind dann richtig malt, gilt es als begabt, wenn es die Melodie sogar von vornherein trifft und selbst eine erdenken kann, der man Tonika und Dominante anhört, ist es ein Wunderkind und gibt mit acht Jahren sein erstes Konzert. Ich misstraue nicht den Wunderkindern, aber ihren Bewunderern. Mozart ist kein Maßstab, sondern eine Ausnahme. Unter den wirklich innovativen Künstlern ist der Anteil derer, die überfrüh ein Handwerk beherrschten, gering. Selbst der flammend begabte Ferruccio Busoni ging als Komponist nicht so weit wie als Theoretiker.

Wagner und Berlioz dagegen waren erbärmliche Pianisten. Cézanne lernte nie, eine Hand gut zu zeichnen. Flaubert wurde von seinen Eltern für einen Idioten gehalten. Das spricht nicht dafür, frühe Professionalität für kreativ förderlich zu halten. Wir brauchen indessen gar nicht mehr Genies, sondern mehr Neugier. Matthias Kaul bringt in seiner Kinderkompositionsklasse den Kindern keine Fugen bei, sondern das Suchen und Fragen. Eine Mutter, deren Sohn mit neun Jahren seinen Chopin „konnte“, erwartete bei Kaul klassische Harmonielehre und war entsetzt, als der Junge begeistert erzählte, man habe ein Klavier zerlegt.

Hätte er dabei bleiben dürfen, uns bliebe vielleicht der soundsovielte Repertoiresportler erspart, es müsste auch gar kein Komponist aus ihm werden, einfach nur ein offener Mensch. Gerade habe ich mir noch mal angehört, wie Frido mit zwei Jahren am Klavier improvisierte. Eine irre Mischung zwischen New York School und dem kargen Rihm der 1980er. Wunderschön. Frei. Es ist doch schon viel, wenn diese Freiheit weiterwirkt. Übrigens bricht Frido nach acht Minuten ab, weil im Hintergrund ein Staubsauger aufheult. Da merkt man, wie verletzlich Freiheit ist. Man sollte sie nicht nur bei Künstlern respektieren.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt