Was, Sie haben noch kein Narrativ?

Was ist eigentlich aus den Aporien und Idiosynkrasien geworden? Vor zehn, fünfzehn Jahren wurden sie von Publizisten bis zur Penetranz eingesetzt – zwei Begriffe, die gut nach humanistischer Bildung klingen und irgendwie immer passen. Wie alles sind sie tempora und mores gefolgt und aus der Mode geraten, dafür haben zwei andere altsprachliche Begriffe neue Karrieren gemacht. Ohne Narrativ geht heute nämlich keiner mehr der Dystopie entgegen. Man fragt sich direkt, wie wir vor fünf Jahren noch ohne sie ausgekommen sind.

Narrative werden den Gebietsansprüchen einander bekämpfender Nationen ebenso zugeschrieben wie den „Gefällt mir“-Anballungen eines weltweiten Netzwerks, das mit seinem Narrativ, „sozial“ zu sein, trotz aller Übergriffigkeit prima durchkommt. Weswegen manche da schon die Dystopie einer gläsernen Menschheit real werden sehen. Früher hätte man „Horrorszenario“ gesagt oder „schauerliche Zukunftsvision“ oder „negative Utopie“. Mittlerweile poppt die Dystopie schon auf, wenn es um industriell hergestellte Fleischwaren geht.

Kurioserweise bedeutet sie, altgriechisch wörtlich genommen, genau dasselbe wie Utopie, nämlich Unort, Nicht-Ort. Aber da sich die Utopie als jener nicht existierende Ort etabliert hat, an dem alles läuft wie gewünscht, bietet sich die Dystopie als Hölle zum Himmel an. Vielleicht steckt tatsächlich ein bisschen, noch so´n Wort, Manichäismus hinter der Mode: Das gut, das schlecht. Anderseits klingt Dystopie viel eleganter und schmerzfreier als „Horrorvision“, wie eine klinische Diagnose. Der Begriff sichert Distanz.

Der andere auch. Zum Narrativ veredelt und vernebelt man heute eine Behauptung, ein Axiom, eine Gründungslegende, eine Interpretation, mit der so extrem Komplexes wie Erster Weltkrieg und Nahostkonflikt, soziale Medien und europäische Identität auf ein Leitmotiv gebracht werden können. „Es kam ihnen nicht in den Sinn, dass sie verraten werden könnten. Sie waren durchaus bereit, ihre Hand in die Hand eines zu legen, der sie fortführen woillte, vorausgesetzt, er erzählte ihnen eine schöne und edle Geschichte.“

Das schreibt Louis Guilloux 1935 in „Schwarzes Blut“ über die Rekruten, die sich 1916 in einer französischen Kleinstadt versammeln. Mit dem passenden Narrativ, so lässt sich das lesen, können Menschen zu Narren und dann zu Toten werden. Sollte man also, bei Parallelen in der Gegenwart, nicht eher von Propaganda sprechen statt von Narrativen, und mit Blick auf ihre möglichen Folgen von Katastrophen statt von Dystopien? Die beiden Modewörter , so fein sie klingen, halten uns die Welt vom Leib, nicht vor die Augen.

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