Kategorie-Archiv: Kolumne

Schlafmangel und Spiegelei

Im Kinderhaus sind sie kurz davor, Paul wegen guter Führung mit einem Verdienstorden auszuzeichnen: Hilfreich, vollendete Tischmanieren, räumt gern auf, allsowas. Wir vernahmen es mit Staunen. Denn zuhause verwandelt sich der Engel in einen Teufel, den es nicht auf seinem Platz hält. Oder der wenigstens seinen Kinderstuhl hinlegen will, um dann viel zu tief zu sitzen, was die Nahrungsaufnahme erschwert und den Putzbedarf erhöht. Während er im Kinderhaus offenbar auf Zuruf Siesta hält, steht er bei uns abends fünfmal wieder auf, schläft nicht vor neun und weckt uns morgens gern vor sechs.

Insofern kein Wunder, dass er tagsüber so gut schlummert. Und dass ich derweil mitunter über meinem Schreibtisch zusammensinke. Nach dem letzten mörderisch frühen Erwachen beschloss ich, wenigstens aus dem Frühstück das beste zu machen. Wenn wir schon eine halbe Stunde extra hatten, sollte es wenigstens frische Brötchen geben und Spiegelei. Also schnell aufs Rad, Backwaren holen, während Paul, Frido und ihre Mama den Tisch deckten. Als ich zurückkam, saß sie betrübt allein vor ihrem Teller. Frido hatte noch keinen Hunger, Paul wollte auf seinem Kinderstuhl im Badezimmer frühstücken.

Die werden schon noch kommen, dachte ich, wenn sie Schinken und Eier riechen. Schinken in die Pfanne, Eier rein…äh… welche Eier? Es waren nur noch zwei da, die reichten gerade für mich. Aus überwunden geglaubten patriarchalischen Sedimenten stieg mir ein Hausfrauentadel aus dem Munde, von wegen „schlecht eingekauft“, den ich sofort bereute. Bei uns gibt es keine Hausfrau, auch keinen Hausmann, offiziell ist jeder für alles zuständig. Die Laune war jetzt generell verhangen. Ich raste wieder zum Bäcker und holte Eier. Es musste heute Spiegelei für alle geben, und sollte dafür alles im Chaos versinken. Aber, oh Wunder, der Duft aus der Pfanne wirkte tatsächlich!

Auf einmal saß Frido am Tisch, fertig angezogen. „Ich mag keinen Schinken“, nölte er. „Ich auch niss!“ echote Paul, der nun doch erschienen war und sogar bereit, auf einem ordnungsgemäß stehenden Stuhl zu sitzen. Es bedeutete, dass sie eigentlich sehr gern Spiegelei gehabt hätten, aber nicht mal eben so auf Harmonie schalten wollten. Nachdem Paul eine Weile zu mir herübergespäht hatte, wollte er doch. Frido blieb hart, wich aber immerhin auf ein Marmeladenbrötchen aus. Ihr Vater verwandelte sich derweil von einem patriarchalischen Regressor wieder in einen Europäer nach Maßgabe der vollparitätischen goldenen 1970er und erhielt die Absolution.

Pure Harmonie, keine Nahrungsreste an den Wänden, im Kinderhaus lieferte eine lächelnde Mutter zwei ausgeglichene Knaben ab. Sie müssen da glauben, bei uns laufe alles ganz normal. Aber vielleicht ist es das ja auch. Ich lerne daraus: In allem Einsicht üben, aber stur auf Spiegelei bestehen.

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Puff-Pata-Pixi-Puff!

Neigt sich die Zeit der Bücher dem Ende zu? Wenn keiner mehr das „gedruckte Buch“ für einen Pleonasmus hält, dann ja. Dass aber nur ein gedrucktes Buch ein richtiges Buch ist und sein digitaler Ersatz „ein Unfug, ein Beschiss und ein Niedergang“, wie Deutschlands bester Typograf Friedrich Forssman jüngst urteilte, das scheinen nicht bloß die 200000 Käufer zu finden, denen etwa Christopher Clarks „Schlafwandler“ 40 Euro wert ist. Und all die, die jetzt Gabos Romane wieder aufblättern, anstatt sie zu scrollen. Und, ja, die Jüngsten. Für sie werden pro Jahr allein in Deutschland zwölf Millionen Exemplare des erfolgreichsten Kleinformats aller Zeiten erworben.

Aber sind Pixis richtige Bücher? Wo sie nur 20 Gramm wiegen und 24 bunte Seiten mit ziemlich wenig Text haben? Und Titel tragen wie „Miezekatzen“, „Puff-Pata-Puff“ und „Ich hab einen Freund, der ist Dachdecker“! Genauso gut könnte man fragen, ob Kinder richtige Menschen sind. Sie lieben diese Bücher in eben dem Format, das sie seit 60 Jahren haben. Der dänische Verleger Per Hjarald Carlsen hatte eine Idee aus Kanada zuerst in Kopenhagen ausprobiert, wo 1953 aus den „Kitten Tales“ die „Missekatte“ wurde. Gebunden, zu teuer. Am 29. April 1954 kam das erste deutsche Pixi-Buch heraus. Geheftet, 10 mal 10 Zentimeter, 50 Pfennige.

Die „Miezekatzen“ und sieben weitere Büchlein (bis heute kommen meist acht im Verbund heraus) starteten durch: Schon im ersten Jahr hatten sie eine Auflage von 100 000. Seither erschienen gut 2000 Titel, an denen entlang sich glatt eine Kulturgeschichte schreiben ließe. Da ist der Surrealismus von 1955, wo der Puppenzug Puff-Pata-Puff von den Gleisen abhebt und einer Meerjungfrau begegnet, deren Blöße ihre Haare züchtig bedecken. Da sind auch große Namen wie Franz Fühmann, der 1997 für Heft 847 den „Schneeseekleerehfeedrehzehwehteekessel“ ersinnt und selbst geübte Vorleser auf die Probe stellt. Oder, ja doch, Heidi Klum mit „Der kleine schwarze Wackelzahn“ (alles nachzulesen auf der Fanseite pixibuch.de).

Am Beispiel der „Conni“-Bücher seit 1992 wird auch deutlich, wie gut sich Gleichberechtigung (das Mädchen lernt alles, auch Fußball) und Uniformität vertragen: Conni tut immer, was erwartet wird. Doch alle Entwicklungen der jüngsten 60 Jahre geraten im Kinderzimmer in ein wohltuend unhistorisches Durcheinander, in das sich andere Kleinformate mengen: Beltz & Gelberg, Ravensburger, Moewig sind Carlsen gefolgt. Nur nicht in den Maßen: Das 10-Zentimeter-Quadrat ist den Pixis vorbehalten, von denen es ein paar auch gepixelt gibt: als App und E-Book. Wenn schon. Pixi bleibt ein Triumph des Buches, der Zukunft hat. Wann kommt das Pixi für Erwachsene?

Der Text erschien in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und im Tagesspiegel vom 29.4.14 und ist urheberrechtlich geschützt

Fußball nach der Kreuzigung

Groß ist das Buch der bestätigten Vorurteile, und schwer sind seine Blätter. Manchmal aber können auch sie es nicht mehr tragen und ertragen, wie die grauenhaftesten Erwartungen übertroffen werden. Dann reißen die Blätter wie der Vorhang im Tempel, und wir blicken auf einen riesigen Flatscreen in einer winzigen Kneipe in einem westfälischen Städtchen. Soeben ist im Dom nebenan die Generalprobe für den Karfreitag zuende gegangen. Für das, was mir bevorsteht, gibt es keine bessere Voraussetzung als die vielstündige aktive Beschäftigung mit dem als „Matthäuspassion“ bekannten Werk. Nach einer solchen Kreuzigung bin ich zu allem bereit, um an ein Bier zu kommen.

Da es in der winzigen Kneipe am Dom um halb elf Uhr nachts sogar noch Rippchen gibt, bin ich überglücklich und kann mich für alles öffnen, mich, auf verständnisdeutsch gesagt, voll darauf einlassen. Die Dokorunde am Nebentisch, der Flatscreen, der Fußball. Es wird nicht gespielt. Eine Stunde lang, die ich da sitze und an Rippchen nage, wird im TV nicht gespielt, sondern gequatscht, über zwei Themen. Zum einen geht es um eine Dame, die Spielern beim Umzug hilft. Für Profitreter ist schon ein Umzug innerhalb der BRD ein zu komplexes Unterfangen, als dass man ihnen auch nur einen Wohnungsgrundriss in die Hand geben könnte. Das erledigt alles diese nette Dame, bis zur Vasenauswahl.

Die Wohnungen sehen dann so aus wie Ikea für russische Oligarchen, Bauhaus in Weißgold rund um einen fünf Quadratmeter großen Flatscreen. Für die Spieler ist also gesorgt, für ihre Umzugshelferin auch, der man hier dreißig Minuten Reklame schenkt. Die dreißig Minuten des zweiten Themenstranges gelten der Frage, ob ein gewisser Trainer zu „kuschelig“ mit seinen Spielern sei, also nicht streng genug. Es gibt dazu Interviews mit prominenten Altfußballern,  der Trainer selbst rechtfertigt sich wortreich vor der Kamera. Er sei nicht zu kuschelig, behalte ich als Kernaussage. Zu seinen Gunsten wird eine Szene eingeblendet, in der man sieht, wie er wütend auf Spieler eingestikuliert.

Zu kuschelig sehe DAS jedenfalls nicht aus, bilanziert der Moderator, ein junger gegelter Mann, der sich abwechselt mit einer derartig porendichten Grinseblondine, dass ich mich frage, ob nicht zumindest Sportmoderatoren schon fertig zusammengelötet werden, mit einem Standardaktivierungsalter von 25 ab Werk. Es ist alles so unfassbar blöd und zutiefst uninteressant, dass ich denke, so blöd kann Fußball gar nicht sein, insofern also ein Vorurteil eher revidiere. Das andere Vorurteil aber, dass Fußball die immanente Blödheit virtueller wie realer Kollektive erst vollendet zu sich kommen lässt, das wird diesmal vollstreckt und mit sofortiger Wirkung in ein Urteil verwandelt.

Je mehr sich kahle Knochen auf dem Teller häufen und der köstlich kalte Kelch zur Neige geht, desto fassungsloser bin ich und doch heiter. Wenn soviel Schwachsinn möglich ist, deutet sich nicht zugleich in seiner Hochblüte sein nahes Ende an? Während die Matthäuspassion auch hier noch Trost zu spenden vermag. Ruht, ihr ausgesognen Fernsehfuzzis, ruhet sanfte, ruhet wohl!

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