Fußball nach der Kreuzigung

Groß ist das Buch der bestätigten Vorurteile, und schwer sind seine Blätter. Manchmal aber können auch sie es nicht mehr tragen und ertragen, wie die grauenhaftesten Erwartungen übertroffen werden. Dann reißen die Blätter wie der Vorhang im Tempel, und wir blicken auf einen riesigen Flatscreen in einer winzigen Kneipe in einem westfälischen Städtchen. Soeben ist im Dom nebenan die Generalprobe für den Karfreitag zuende gegangen. Für das, was mir bevorsteht, gibt es keine bessere Voraussetzung als die vielstündige aktive Beschäftigung mit dem als „Matthäuspassion“ bekannten Werk. Nach einer solchen Kreuzigung bin ich zu allem bereit, um an ein Bier zu kommen.

Da es in der winzigen Kneipe am Dom um halb elf Uhr nachts sogar noch Rippchen gibt, bin ich überglücklich und kann mich für alles öffnen, mich, auf verständnisdeutsch gesagt, voll darauf einlassen. Die Dokorunde am Nebentisch, der Flatscreen, der Fußball. Es wird nicht gespielt. Eine Stunde lang, die ich da sitze und an Rippchen nage, wird im TV nicht gespielt, sondern gequatscht, über zwei Themen. Zum einen geht es um eine Dame, die Spielern beim Umzug hilft. Für Profitreter ist schon ein Umzug innerhalb der BRD ein zu komplexes Unterfangen, als dass man ihnen auch nur einen Wohnungsgrundriss in die Hand geben könnte. Das erledigt alles diese nette Dame, bis zur Vasenauswahl.

Die Wohnungen sehen dann so aus wie Ikea für russische Oligarchen, Bauhaus in Weißgold rund um einen fünf Quadratmeter großen Flatscreen. Für die Spieler ist also gesorgt, für ihre Umzugshelferin auch, der man hier dreißig Minuten Reklame schenkt. Die dreißig Minuten des zweiten Themenstranges gelten der Frage, ob ein gewisser Trainer zu „kuschelig“ mit seinen Spielern sei, also nicht streng genug. Es gibt dazu Interviews mit prominenten Altfußballern,  der Trainer selbst rechtfertigt sich wortreich vor der Kamera. Er sei nicht zu kuschelig, behalte ich als Kernaussage. Zu seinen Gunsten wird eine Szene eingeblendet, in der man sieht, wie er wütend auf Spieler eingestikuliert.

Zu kuschelig sehe DAS jedenfalls nicht aus, bilanziert der Moderator, ein junger gegelter Mann, der sich abwechselt mit einer derartig porendichten Grinseblondine, dass ich mich frage, ob nicht zumindest Sportmoderatoren schon fertig zusammengelötet werden, mit einem Standardaktivierungsalter von 25 ab Werk. Es ist alles so unfassbar blöd und zutiefst uninteressant, dass ich denke, so blöd kann Fußball gar nicht sein, insofern also ein Vorurteil eher revidiere. Das andere Vorurteil aber, dass Fußball die immanente Blödheit virtueller wie realer Kollektive erst vollendet zu sich kommen lässt, das wird diesmal vollstreckt und mit sofortiger Wirkung in ein Urteil verwandelt.

Je mehr sich kahle Knochen auf dem Teller häufen und der köstlich kalte Kelch zur Neige geht, desto fassungsloser bin ich und doch heiter. Wenn soviel Schwachsinn möglich ist, deutet sich nicht zugleich in seiner Hochblüte sein nahes Ende an? Während die Matthäuspassion auch hier noch Trost zu spenden vermag. Ruht, ihr ausgesognen Fernsehfuzzis, ruhet sanfte, ruhet wohl!

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