Kategorie-Archiv: Blog

7. Februar 2024

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Ausgerechnet da, wo Brecht persönlich die Strophe „Und der Haifisch, der hat Zähne, / Und die trägt er im Gesicht…“ singt, hat diese Platte eine Lücke. Wie das kommt und was es bedeutet, ja sogar, was es für die neuere Aufführungsgeschichte der Dreigroschenoper von Bertolt Brecht und Kurt Weill bedeutet, das (und viel mehr) beschreibt der Übersetzer Alexandre Pateau in einem außergewöhnlichen Arbeitsjournal auf der Übersetzerplattform Toledo. Alexandre hat L’opéra de quat’sous – als solche schon im Paris der frühen 1930er ein Begriff wie damals vor allem ihr Komponist Kurt Weill – erstmals in singbares, adäquates Französisch übersetzt. Behauptet nicht er selbst, erweist sich aber am Erfolg der Inszenierung, die Thomas Ostermeier 2023 mit der Truppe der Comèdie-Française und den Musikern des Ensemble Balcon unter Leitung von Maxime Pascal realisierte – fürs Festival in Aix-en-Provence zuerst, fortgesetzt in Paris, aufgezeichnet für Arte. Dass und warum Übersetzerarbeit in so einem Fall der Quadratur des Kreises nahekommt, oder der einer Scheibe, aus der ein metaphysischer Haifisch ein Stückchen herausbiss – das ist in diesem inspirierenden Journal (ins Deutsche übersetzt) nicht nur nachzulesen, sondern auch zu hören. Und jetzt noch Freundes- wie Eigenwerbung: Wie sich Alexandres Französisch liest, wenn es um Prosa geht, erfährt man hier, nebst allem Drum und Dran zum Buch Der Klang von Paris.

Ein sehr wienerisches Paris hat Franz Lehár 1905 in Die Lustige Witwe komponiert, und das kommt jetzt in Zürich auf die Bühne. Dort traf ich die Sängerin der Titelpartie, die am nächsten Sonntag Premiere hat. Marlis Petersen passt erfreulich schlecht ins Klischee einer Operettendiva, und das nicht nur, weil sie im Nebenjob eine griechische Ölbäuerin ist… Was wiederum zum essayistischen Spaziergang durch die Natur in der Musik passt, den ich vor zwei Jahren fürs Magazin der Elbphilharmonie schrieb und der jetzt in revidierter Fassung im Magazin “Arsprototo” erschien. Zur Online-Ausgabe des aktuellen Hefts “Natur und Kunst” geht es hier – sie umfasst auch lesenswerte Beiträge zur Restitution geraubter Kunst.

25. Januar 2024

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Nein, das ist kein Mandala, kein Grundriss, auch nicht der Entwurf für eine Turbine. Es ist die graphische Anleitung für Tänzer am Hofe des Sonnenkönigs, wie sie aus einer engen kreisförmigen Schrittfolge wieder in eine weitere kommen – Auszug aus dem bahnbrechenden Lehrwerk von Raoul-Auget Feuillet von 1700, dem Erfinder einer Tanzschrift, aus der im frühen 18. Jahrhundert auch das tanzfreudige europäische Bürgertum lernte. Ich stieß darauf bei Recherchen für den Essay “Klang und Körper”, der im aktuellen Magazin der Elbphilharmonie zu finden ist. Weitere neue Texte: Eine Begegnung mit dem südfranzösischen Tenor Mathias Vidal in Zürich, ein Ausflug in die sinfonischen Weiten des Nordens, die das Gürzenich-Orchester demnächst mit Salonen, Grieg und Sibelius erkundet, und eine kritische Auseinandersetzung mit der jüngsten Mozart-Aufnahme des Hamburger Ensemble Resonanz vor dem Hintergrund der grandiosen Einspielung, die diese Musiker 2020 von Mozarts letzten drei Sinfonien vorlegten. Nachzulesen bei VAN. Was nächstens folgt: Eine Begegnung mit der Sopranistin (und Ölbäuerin) Marlis Petersen und der Abschluss meiner Bruckner-Erkundungen für das Gürzenich-Orchester mit der Zweiten Sinfonie von 1872. – Für meine wunderbare Mama, Hanneliese Hagedorn, die am 8. Dezember 2023 in ihrem 87. Lebensjahr ihr Dasein in dieser Welt verlassen hat, verlinke ich hier auf das Porträt des polnischen Geigers Bartłomiej Nizioł, mit dem zusammen sie dort 1991 am Beginn seiner Laufbahn zu sehen ist, unterstützend wie immer.

30. November 2023

> Je häufiger ich diese sieben Minuten höre, desto tiefer scheinen sie zu werden. „Frau, warum weinst du? Wen suchst du?“ So heißt das Orchesterwerk, das Younghi Pagh-Paan für die Donaueschinger Musiktage 2023 komponiert hat, für das SWR Symphonieorchester, das diese Musik mit Dirigent Ingo Metzmacher am 22. Oktober 2023 uraufgeführt hat. (Der Videomitschnitt des ganzen Konzerts ist hier zu finden, ihm entstammt als Screenshot das Bild der vier Kontrabassisten.)
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Der Titel ist Johannes 20, 15 entnommen, wo sich Jesus mit diesen Worten an Maria von Magdala wendet, die an seiner leeren Grabhöhle weint. Es geht der Komponistin dabei um „den großen Trost, den ein weinender und suchender Mensch erfährt, und die große Stärkung darin.“ Ein dicht und lebendig gefügtes, schattenreiches, schmerzvolles, aber auch lichterfülltes und extrem gegenwartsoffenes Werk ist das, und schon das zweite von Younghi Pagh-Paan, das in diesem Jahr fertig und uraufgeführt wurde, nach dem – ganz anders ausgerichteten – „Die Blüte – Wurzelwerk“ für Klavier und Ensemble, vom Münchner Kammerorchester im März erstmals gespielt. Diesem Naturwunder energiereicher Farben ist nun also eine Musik gefolgt, von kurzer Dauer nur den Minuten nach, die mir als eine der bedeutendsten, bewegendsten, unauslotbarsten dieser Jahre erscheint – nicht nur mir: „Die intensiven Klangfarben dienen als Ausdrucksträger, die Wahrhaftigkeit der Aussage wird durch die einzigartige Klarheit des Orchestersatzes verstärkt“, schrieb Max Nyffeler in seiner exzellenten Rückschau auf die Donaueschinger Musiktage, erschienen am 24. Oktober 2023 in der F.A.Z. Heute, am 30. November, feiert Younghi Pagh-Paan in Bremen ihren 78. Geburtstag. Großen Glückwunsch!

Ingo Metzmacher war es übrigens auch, der zu Beginn des Jahres das summum opus eines weniger bekannten Komponisten aufführte. Anton Plate (1950-2023) war einer der Helden meiner Jugend, nicht als Komponist, sondern als Dirigent eines Jugendsinfonieorchesters. Warum, das erkundete ich mit einem Umweg über Tschaikowsky im ICE für VAN. In diesem ICE wiederum saß ich auf dem Weg nach Zürich, um dort Klaus Florian Vogt zu treffen, den Siegfried der neuen Götterdämmerung