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14. Dezember 2022

alma rosé

Sie war gerade zwei Jahre alt geworden, als ihr Vater und seine drei Quartettkollegen am 21. Dezember 1908 in Wien eines der aufsehenerregendsten “Skandalkonzerte” des 20. Jahrhunderts mehr durchhielten als spielten: Alma Rosé, Tochter von Arnold Rosé und Justine Mahler (Gustavs Schwester). Bei ihrem Vater lernte sie das Geigen, sie wurde selbst eine professionelle Solistin von hohem Rang, und wie sie spielte, wie sie war, das meint man der um die 30 Jahre alten Frau schon fast anzumerken, wenn man sie am Steuer des Aero Cabrio sitzen sieht. Das Foto findet sich im exzellenten neuen Musik-Kalender der Edition Momente. Alma Rosé war eine so energische wie engagierte Musikerin: 1934 bis 1938, bis zum “Anschluss”, gab sie in Europa Solidaritätskonzerte gegen die NS-Herrschaft in Deutschland. Im Frühjahr 1939 gelang ihr und ihrem Vater die Flucht nach London, und man wünscht sich, sie wäre nicht so unternehmungslustig gewesen, von dort aus im November des Jahres nach Amsterdam zu fliegen, um Konzerte zu geben. Sie war noch in den Niederlanden, als diese im Mai 1940 von der Wehrmacht besetzt wurden, tauchte dort unter, floh im August 1942 nach Frankreich und wurde dort im Dezember 1942 als Jüdin verhaftet und interniert. Am 18. Juli 1943 wurde die Musikerin ins Konzentrationslager Ausschwitz deportiert, wo sie am 4. April 1944 an den Folgen einer ungeklärten Erkrankung starb, zwei Tage nach ihrem letzten Auftritt als Leiterin eines Orchesters aus weiblichen Häftlingen. Ihr Vater gab sein letztes Konzert 1945 in London und starb dort ein Jahr später mit 82 Jahren.

Um auf das “Skandalkonzert” von 1908 zurückzukommen: Die Uraufführung (und Entstehung) von Arnold Schönbergs Zweitem Streichquartett opus 10 ist nicht nur ein Thema in meinem Buch Flammen, sondern auch in einer zweistündigen Sendung zu diesem Werk und seinen Interpreten, die noch bis zum 22. Januar 2023 online bei Deutschlandfunk Kultur zu hören ist. Wer auf der Website des Senders Näheres dazu erfahren möchte, wird nichts finden: Die beispielhafte Online-Dokumentation der allsonntäglichen “Interpretationen” (noch zu bestaunen am Beispiel der Sendung über Ethel Smyth) wurde Mitte 2021 eingestellt. Soll die “Schatzinsel”, wie die Sendereihe “Interpretationen” in meinem VAN-Beitrag 2021 betitelt wurde, der Entdeckerfreude eines wachsenden Online-Publikums entzogen werden? Oder mittelfristig versenkt? Es steigt offenbar parallel zum Meeresspiegel auch der Ignoranzpegel innerhalb der Öffentlich-Rechtlichen - was deren noch vorhandene kluge Köpfe allerdings nicht hindert, Sendungen wie eben die “Interpretationen” weiter zu produzieren, vorerst. Die Smyth-Sendung vom Mai 2021 wurde im September 2022 sogar erneut für ein Jahr online gestellt. Näheres zur Schönberg-Sendung findet sich auf meiner Website hier, zur Sendung mit den 1913er Mallarmé-Kompositionen von Debussy und Ravel hier.

29. November 2022

> Am Mittwoch wird sie 77 Jahre alt, keine runde Zahl, aber eine schöne, und wenn man in den Aufführungskalender der Komponistin Younghi Pagh-Paan (* 30. November 1945, Cheongju, Südkorea) schaut, könnte man meinen, ein Jubiläumsjahr werde gefeiert. Kaum eine Woche vergeht, ohne dass irgendwo (mindestens) ein Stück von ihr gespielt wird, und “irgendwo” passt auch schon nicht, wenn es um die Londoner Wigmore Hall oder die Philharmonie Luxembourg geht. In letzterer war am vorigen Freitag YPP´s Orchesterwerk Sori zu hören, mit dem die Komponistin 1980 in Donaueschingen international bekannt wurde. Das nächste groß besetzte Werk im Œuvre, Nim von 1987, wurde im Februar 2022 vom San Francisco Symphony Orchestra gespielt, im Oktober von den Bochumer Symphonikern in der Philharmonie Essen.

In welcher verbundenen Vielfalt sich die Musik von Younghi Pagh-Paan über Jahrzehnte hin entfaltet hat, zeigt die just bei Kairos erschienene CD Listening with the heart – Mit dem Herzen hören. Sopranistin Angela Postweiler, Flötistin Carin Levine, Gitarrist Tobias Klich führen mit Werken von 1975 bis 2022 durch ein Leben zwischen Identitätssuche und Offenheit. Für das Booklet (hier komplett zu lesen) schrieb ich einen Text, der auch in englischer Übersetzung von Laurie Schwartz vorliegt. Rund um die Produktion gibt es am 3. und 4. Dezember in der Bremer Plantage 13 ein Konzertwochende: am Samstag um 20 Uhr das CD-Programm live, am Sonntag um 17 Uhr spielt das Pulse Quartett u.a. YPP´s Streichquartett Horizont auf hoher See, 2017 vom Arditti Quartet uraufgeführt. Unterdessen sind in diesem Jahr weitere Werke der Komponistin entstanden und in Arbeit. Bewunderung und Glückwunsch, liebe Younghi!

 

1. November 2022

> Über zweieinhalb Jahre, von Anfang 2020 bis zum Herbst 2022, hat sich die Produktion eines so latenten wie öffentlichen Fünfteilers erstreckt, der die Horizonte und Zooms des Buchs Flammen radiophon vertieft, also die vielleicht bewegteste, risikoreichste und herausforderndste Zeit der europäischen Musik bis jetzt, die Jahre zwischen 1900 und 1918. Dass ich wichtige Komponisten und Werke dieser Zeit und dieses Buchs in gleich fünf Ausgaben der „Interpretationen“ auf Deutschlandfunk Kultur würde erkunden können, im schon geradezu märchenhaften Format einer Zwei-Stunden-Sendung mit Studiogästen, Sprecher*innen, O-Tönen und natürlich unzähligen Aufnahmen, war keineswegs geplant, aber doch naheliegend.

Es begann mit Alban Bergs Orchesterstücken opus 6 und Richard Strauss´ Alpensinfonie (2020) und ging weiter mit einem diskographischen Porträt der Komponistin Ethel Smyth (Mai 2021, seit September 2022 erneut online) und Arnold Schönbergs Streichquartett opus 10 (online seit Januar 2022). Teils gingen dabei Funde der Radio-Recherche in die Arbeit am Buch ein, teils umgekehrt. All das wurde von Olaf Wilhelmer, dem federführenden Redakteur der jetzt seit fünfzehn Jahren existierenden Reihe, mit Verve und Wissen unterstützt.

ravel 1925

In der jüngsten Folge, am vorigen Sonntag gesendet und jetzt für ein Jahr online, sind auch Komponisten selbst als Interpreten zu erleben, als komponierende. Es geht um Claude Debussy und Maurice Ravel (Foto oben, 1925) und eine singuläre Koinzidenz in der Musikgeschichte. Dass Anfang 1913 die Nouvelle Revue Française eine erste Gesamtausgabe der Gedichte von Stéphane Mallarmé publizierte, dass beide Komponisten diesen Dichter noch persönlich gekannt (und auch schon auf den Spuren seines Werks gearbeitet) hatten, erklärt bei weitem nicht, warum sie sich im selben Jahr unabhängig voneinander entschlossen, je Trois Poèmes de Stéphane Mallarmé zu komponieren – und dabei für die ersten beiden auch noch exakt die selbe Wahl trafen!

Aber sie taten es, Ravel für Stimme und Ensemble, der um dreizehn Jahre ältere Debussy für Stimme und Klavier. Und so kommt man den kreativen Persönlichkeiten der beiden Komponisten und deren fundamentalen Unterschieden so nahe wie sonst nie – wie bei einer Triangulation, bei der es in diesem Fall nicht um Winkel, sondern um Blickwinkel geht und mit Hilfe des „Fixsterns“ Mallarmé die Positionen der Komponisten deutlich werden. Man fragt sich natürlich, was die beiden gegenseitig von ihren Mallarmé-Mélodies hielten. Aber beider Korrespondenz lässt nicht mal darauf schließen, dass sie die Noten (immerhin im selben Verlag Durand erschienen) auch nur durchblätterten. Was dafür Strawinsky tat, bei dem, in Clarens, Ravel das erste seiner Lieder geschrieben hatte.

Das „match Debussy-Ravel“, wie letzterer amüsiert die Doppelung nannte, findet nun also endlich statt. Aus einer Passage, die im Buch Flammen wenige Seiten beansprucht, wurde eine der aufwändigsten Arbeiten, die ich je für die „Interpretationen“ machte. Zu hören sind dabei, der Sängerchronologie nach: Suzanne Danco, 1954, in der ersten Aufnahme des Ravel-Triptychons, Janet Baker mit der zweiten, 1966, dann 1971 Bernard Kruysen mit der Debussy-Erstaufnahme, Felicity Palmer 1975 mit Ravel und mit dem blutjungen Simon Rattle am Pult, 1977 vom 52jährigen Pierre Boulez gefolgt, der die verheerende Aussprache der Solistin Jill Gomez nicht korrigiert. 1979 singt Elly Ameling Debussy wie 1981 auch Margaret Price. 1983 setzt Felicity Lott Maßstäbe mit Ravel, 1996 folgt ihr Anne Sofie von Otter. François Le Roux nimmt Debussy 1999 auf. Das 21. Jahrhundert startet in meiner Auswahl 2003 mit Sandrine Piau, der 2012 ebenfalls mit Debussy die unvergleichliche Stella Doufexis folgt und 2014 Magali Léger, deren Pianist an Debussys Blüthner spielt, 1905 erworben und bis zuletzt, bis 1918 also, das Instrument des Komponisten. Jüngste Aufnahme: Ravels Soupir in der Fassung für mittlere Stimme und Klavier, 2021 von Stéphane Degout gesungen.

Die allerjüngste Aufnahme freilich ist nicht mal eine Woche alt, und sie gilt den Originaltexten. Die vier Gedichte von Stéphane Mallarmé, Soupir, Placet futile, Autre Éventail (Debussys Nr. 3) und Surgi de la croupe… (Ravels Nr. 3) hat direkt in der Studioproduktion Céline Grillon gelesen, die Übersetzungen ebenso. Bei Paris geboren, in Berlin lebend, studierte sie in Paris, Hamburg, Berlin Musik, Germanistik und Musikwissenschaft, als Hörfunkautorin von Deutschlandfunk Kultur hat sie Musik oft im Kontext von Literatur, Kunst, Zeit betrachtet – kurz, eine Idealbesetzung!

Noch mehr Radio: Gestern gesendet, ist eine Ausgabe von „A la carte“ auf NDR Kultur auch online zu hören, für die mich Friederike Westerhaus zu Büchern (nicht nur „Flammen“) und Werkstatt befragte und für die ich die passende Musik aussuchen durfte – von Debussys Gollywog’s Cakewalk, gespielt von Arturo Benedetti Michelangeli, bis zu Johann Christoph Bachs Kantate Es erhub sich ein Streit, gespielt vom Ensemble Cantus Cölln.

Diese wunderbare Formation hat vor nun elf Tagen ihr letztes Konzert gegeben, im katalanischen Städtchen Vic, wo man – außerhalb des gut besuchten L´Atlàntida, eines 2010 eröffneten Kulturzentrums am Stadtrand – schon die unermessliche Weite und Verlassenheit spüren kann, von der Sergio del Molino in seinem bahnbrechenden Buch Das leere Spanien (2016, jetzt ins Deutsche übersetzt) erzählt. Auf mehr als der Hälfte der Fläche Spaniens leben gerade mal knapp 16 Prozent von 46,4 Millionen Spaniern. In einem großen Teil des Landes ist fast kein Mensch anzutreffen, während die größeren Städte vor Leben brodeln. Eine davon ist Bilbao im baskischen Norden, und dort gaben wir das vorletzte Konzert, wie neulich schon angekündigt, in der Sociedad Filarmónica da Bilbao. In Künstlerzimmern und Korridoren ist man dort umgeben von Musikerfotografien seit 1896, und dort fand ich auch, wie erhofft, Maurice Ravel.

Er hat in diesem Saal am 10. November 1925 eigene Werke dirigiert, und dem Foto, das er für die Sociedad signierte, sieht man an, dass er sich dort als Komponist gesehen wissen wollte: Statt Frack ein lässiger Dreiteiler mit Einstecktuch – kein einziger Dirigent auf den hunderten von Fotos dort wirkt so cool wie Maurice Ravel, zu der Zeit 50 Jahre alt. Wie es ist, mit solchen Geistern in der Nähe alle Bachmotetten zu spielen, vor hellwachem Publikum sämtlicher Altersgruppen ab 17, um später vor einer Tanzbar zu landen, aus der ABBA-Hits in die laue Nachtluft knallen? Naja, es war alles andere als eine Trauerfeier…