Kategorie-Archiv: Begegnungen

“Ein Stück Seele, das schon berührt wurde”

Ludovic Tézier, 53, gilt als bester Verdi-Bariton der Gegenwart, jetzt singt er den Boccanegra in Zürich. Zuvor bejubelte man ihn als Rigoletto in Paris, wo wir uns unfern der Tuilerien trafen.

Zwischen all den schicken Passanten im ersten Arrondissement, zwei Minuten von denTuilerien entfernt, kommt ein Typ über die Rue des Pyramides gelatscht, der nicht direkt aussieht, als käme für ihn ein Café Crème à 5,20 Euro in Frage. Groß, bärig, schlabbrige Hose, quergestreifter Strickpulli, auf dem Kopf eine  zerbeulte Schirmmütze aus hellgrauem Stoff. Naja, die Statur könnte stimmen, aber… Er verlangsamt, bleibt einen Meter neben meinem Tischchen vor La Rotonde stehen, dann klingelt mein Telefon. Ich blicke mich um. Der Typ hat ebenfalls sein Telefon in der Hand. Er grinst. Das ist also der Mann, den sie gestern als Rigoletto in der Bastille bejubelt haben, das ist Ludovic Tézier.

53 Jahre alt, in Marseille geboren, wohnhaft in Paris. Er gilt als bester Verdi-Bariton der Gegenwart. An der Seine steht er derzeit als Rigoletto auf der Bühne, in Zürich wird er den Simon Boccanegra singen, und auf diese ungewöhnliche Oper kommen wir auch gleich zu sprechen, drinnen im Café, wo seine tiefe, körnige Sprechstimme umbrandet wird vom Tassenklappern, dem Zischen der Kaffeemaschine, den Gesprächen. Die Kappe behält er auf, vielleicht als Marseiller Requisit. Er liebt das Mittelmeer und den sanft wogenden Anfang von Boccanegra, „man spürt die Grandezza“, sagt Ludovic, auf Deutsch.

Der Doge, seine Rolle, sei als Charakter „am Ende fast heilig“, ganz anders als der negative Rigoletto, der den Tod der eigenen Tochter mitverschuldet. Gemeinsam hätten die beiden, dass sie Väter von Töchtern sind – was sie wiederum mit dem Sänger vereint. „Damit, dass ich Vater bin, kann ich spielen,“ meint er, „auch wenn mir die Erfahrungen eines Dogen fehlen.“ Besonders für einen wie Rigoletto brauche es Lebenserfahrung, „ein Stück Seele, das schon berührt wurde, ohne das geht es einfach nicht, sonst wird der Eindruck zu leicht sein.“ Und welche Erfahrung kann er aufbieten für eine grundböse Gestalt wie Jago in Otello? „Interessante Frage. Mit diesem Charakter habe ich als Mensch hoffentlich nichts zu tun. Für superböse Partien muss man eine Idee finden, einen Gag sogar, ein bisschen nachdenken.“

Und Graf Luna, der im Trovatore seinen Rivalen hinrichten lässt, den eigenen Bruder? „Er ist finster und bitter, aber er liebt“, sagt Ludovic ernst. „Er liebt wirklich. Er hat menschliche Seiten. Jago hat dagegen nichts Menschliches an sich, er ist wie ein schwarzer Stein. Faszinierend.“ Wie kommt es eigentlich, dass wir über diese fiktiven Gestalten aus einem anderen Jahrhundert fast so sprechen können, als wären sie Menschen, die hier in der Stadt herumlaufen? „Das ist die Stärke des Mythos“, sagt Ludovic, ohne zu zögern. „Das ist wie mit den Gestalten der Ilias, der Odyssee. Den Mythos kann man zu jeder Zeit benutzen, er ist die reine Wahrheit, der Subtext des Lebens.“

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Er hat Homer in der Schule lernen müssen. „Zwanzig Jahre später war ich superfroh, das zu kennen.“ Ludovic bedauert es, dass für Schüler heute alles „erleichtert“ wird, so, wie er es als Vater eines Zwölfjährigen (neben zwei erwachsenen Töchtern)  mitbekommt. Dafür hat er schon den Achtjährigen in eine Generalprobe zur Walküre in Salzburg mitgenommen und ihm immer flüsternd erzählt, was und wer als nächstes kommt und warum. So ähnlich hat sein Vater das auch gemacht, nur ohne Opernhaus. Dafür reichte das Geld nicht in der Familie Tézier. Man hörte leidenschaftlich Radio und Platten, „es gab immer Musik, ich habe immer Melodien so für mich gesungen.“ Und irgendwann gab es eine Vinylplatte mit Vorspielen zu Wagneropern, auf der ihn Parsifal faszinierte. Dieses Werk wollte der Zwölfjährige unbedingt ganz und wirklich erleben.

„Mein Vater wollte mir die Chance geben, die Show zu genießen, er hat nur für mich eine Karte für 80 Franc gekauft, was 80 Euro von heute entspricht. Das war schon was: Erster Rang Mitte, erste Reihe. Das war ein Schock, ein Wunder. Ich habe danach Wagner, Wagner, Wagner mit Kopfhörern gehört.“ Und deswegen Sänger werden wollen? „Nein, das ist nicht so gewesen. Mit siebzehn, achtzehn habe ich Arien für mich zum Spaß gesungen und gedacht, vielleicht kann ich das mit einem Professeur verbessern.“ Claudine Duprat, der er in Marseille vorsang, sagte: „Es lohnt sich, daran zu arbeiten.“ „Wirklich?“ „Ja, wirklich.“ Und so arbeitete Ludovic mit ihr, „ungezielt“, wie er sagt, ohne Karriere im Sinn, aber passioniert. „Sie hat nie einen Franc gewollt. Sie hat gesagt, du hast eine Stimme und die anderen haben Geld. Die haben sozusagen für mich bezahlt.“ Er lacht, wie er oft lacht, glucksend, halb in sich hinein, fast genießerisch.

„Und plötzlich“, fährt er fort, „machst du einen Wettbewerb und bekommst einen Preis, ein paar Leute fragen, willst du mal in einem Konzert mitsingen, Schrittchen, Schrittchen, plötzlich bist du auf der Bühne für eine kleine Partie, dann kommt ein seriöses Engagement in Luzern…“ Dort war Don Giovanni die erste Partie des 25-jährigen, dieselbe Rolle, in der er ein paar Jahre später in Liège seine Frau kennenlernte. Cassandre Berthon sang die Zerlina. „Wenn du unbewusst mit jemandem zusammen atmest, wenn Don Giovanni sie verführt…“, er singt andeutungsweise, „…das war einfach Gewissheit, musikalisch, menschlich auch. Noch heute, wenn wir zusammen singen, das ist…“ Er schnippt mit den Fingern. „So! Ohne zu üben. Es geht von selbst.“

„Singen Sie immer noch Mozart?“ „Gern. Morgen, wenn Sie möchten. Ich bete! Mozart ist das Alpha und Omega. Es ist alles drin, was es vor ihm gibt und alles danach. Man kann Verdi wie Mozart singen, wirklich.“ „Aber Wagner ist nicht auch schon drin…“ „Wir haben die schlechte Angewohnheit zu denken, er trage Größe XXL, eine bestimmte Vorstellung von germanité steckt dahinter, von deutschen Wurzeln, einfach blöd. Dieser dicke, steile Klang muss nicht sein. Es gibt eine Aufnahme mit Max Lorenz aus dem Krieg, Winterstürme, frisch, jung, phänomenal, kein Fett, moderner als heute. Das ist cavalerie légère, keine Panzerdivision. Électrisant, wie wir sagen – das ist Wagner für mich.“

Und dann schwärmt Ludovic, der Verdi liebt und Berlioz und Gounod, von der deutschen Sprache. „,Blade‘ im Englischen, ,lame‘ im Französischen sprechen nicht für sich. Aber ,Klinge‘! Man hört, was es bedeutet. Das Deutsche ist so vielfarbig. Es ist wie Malerei, die man singen und sprechen kann. Es gibt viele Akzente, es ist nicht immer süüüß, es ist manchmal stark, manchmal super eeedel – man kann die Sprache wie eine Palette benutzen. Stimmlich nicht einfach, man braucht dazu eine Mozarttechnik…“ Gut, aber so viel von Gefühlen wie Verdi versteht Wagner nicht, oder? „Amfortas!“ ruft Ludovic, der diese Rolle jüngst im Wiener Parsifal sang. „Ein Panorama von Emotionen!“

Zurück nach Paris. Stimmt es, dass das Opernpublikum hier sich immer nur wohlfühlen will, wie Gérard Mortier klagte? „Pariser genießen la belle vie, das Angenehme, aber auch den Schock, Gérard als Intendant konnte das, ich habe ihn geliebt. Wenn es ein Riesenbronca gibt, einen Empörungssturm, ist niemand zufriedener als die Pariser, le tout-Paris en parle, alle reden darüber.“ Aber zur Zeit ist man vor allem glücklich, dass wieder vor vollem Haus gespielt wird. Mit seinem engen Freund Jonas Kaufmann hat sich Ludovic im Vorjahr per Petition dafür eingesetzt, dass im Lockdown die Kunst unterstützt wird, besonders die fragile Theaterkunst. „Nicht wegen uns. Wir Sänger aus der ersten Reihe mussten Lärm machen für die im Mittelbereich, für die es ein Tsunami war. “

Madrid, wo man mitten in der Pandemie mit größter Umsicht das Opernhaus öffnete und spielte, ist für ihn seitdem „eine heilige Stadt“. Es gehe auch um die Verantwortung Europas für seine Kultur. „Deutschland, England, Frankreich, wir sind im vergangenen Jahrhundert durch die Hölle gegangen. So haben wir eine Mission, wir müssen vorwärts. Jeder trägt dabei sein Steinchen.“ Aber nicht ins Museum. „Wir brauchen Oper live. Katharsis geht zu Hause nicht. Wenn du das Publikum hörst und spürst, bringt es dich dazu, mehr als dich selbst zu geben auf der Bühne. Es ist eine Herausforderung. Das ist sexy, wirklich!“ Er lacht wieder. Dann muss er los, zum Covid-Test für den nächsten Auftritt.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 87, dem Magazin der Oper Zürich, im November 2021. Ludovic Tézier ist im Züricher “Simon Boccanegra” ab 12. Dezember zu erleben. Die musikalische Leitung hat Marco Armiliato, Regie führt Andreas Homoki. Das Foto zeigt Ludovic Tézier als Germont in der Wiener “Traviata” 2021

“Mit Diktatur funktioniert gar nichts”

Konzertmeister und Solist, Schweizer und Pole: Ein Gespräch mit dem 47-jährigen Geiger Bartłomiej “Bartek” Nizioł, der jetzt in Zürich das concerto doppio von Krzysztof Penderecki spielt

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Im Oktober 1991 tauchte in Hannover, beim frisch gegründeten, höchstdotierten Geigerwettstreit der Welt, Joseph Joachim gewidmet, ein siebzehnjähriger Pole auf, der Paganini so spielte, als habe er die Capricen mit dem Komponisten selbst erarbeitet. Nicht als Wettbewerbsmusik. Er ließ die Effekte wegperlen, als schaue er einem Spielzeug zu, er zeigte Stimmungen und Charaktere. Und er war der erste Kandidat, der einer kleinen Romanze von Joseph Joachim etwas abgewinnen konnte. Die Hannoveraner schlossen diesen Bartłomiej Nizioł schnell ins Herz, nicht zuletzt seine Gastgeber bis zum Finale, meine Eltern.

„Wie geht es ihnen? Leben sie noch?“, fragt er gleich. „Und ob!“ Das freut ihn. Der 47-jährige, der gerade aus einer Opernprobe kommt, hat immer noch viel Jungenhaftes mit seinem Dreitagebart, ein bisschen Silbergrau im Haar, blaue Augen, rostrotes Hemd. Sein Deutsch ist natürlich fließend inzwischen, trotzdem entschuldigt er sich lachend: „In der Schweiz lernt man nicht richtig Deutsch!“ In einem Opernhaus ist das ohnehin nur eine Sprache von vielen. Seit 2004 ist Bartłomiej Nizioł – leichter gesagt, Bartek Nischou, mit weichem „sch“ – Erster Konzertmeister in der Philharmonia Zürich.

Er ist früh bei den Helvetiern gelandet, der Geige wie der Liebe folgend, Zufällen auch, die den Wunsch seines Vaters zu erfüllen schienen. „Er hat immer gesagt, ,Bartek, du musst in der Schweiz leben, das ist das Beste.‘ Dabei war er nie dort!“ Aber Gründe gab es in Polen um 1990 genug, vom westlichen Ausland zu träumen. Das Land hatte eines seiner dramatischsten Jahrzehnte hinter sich. Im Dezember 1981, als Bartek sieben Jahre alt war, wurde das Kriegsrecht verhängt, um die demokratische Bewegung zu stoppen; erst acht Jahre später war Polen eine autarke Republik, aber noch lange keine stabile. In Stettin geboren – er spricht die Orte deutsch aus, vielleicht damit ich nicht in die Verlegenheit komme, an der Aussprache zu scheitern -, war der Vierjährige fasziniert von der Geige, auf der seine ältere Schwester spielte. „Meine Eltern hatten Musik gern und kauften ein Klavier, darauf hat sie angefangen. Dann kam die Geige dazu, und ich wollte auch Geige spielen.“ Mit fünf Jahren bekam Bartek Unterricht. „Ich habe immer gern gespielt, meine Eltern haben mich nie zum Üben gezwungen. Es war nicht wahnsinnig viel am Anfang, ich habe auch immer Fußball gespielt!“ Vieles flog ihm zu. Aber gute Geigensaiten waren knapp: Die brachte ein befreundeter Lastwagenfahrer aus dem Westen mit.

Barteks Begabung war so offenkundig, dass der Dreizehnjährige nach Poznań geschickt wurde, in ein Musikinternat. Und während dort das Essen rationiert wurde – „wir waren hungrig, für alles brauchte man Lebensmittelmarken“ – ermöglichten die Behörden ihm Reisen nach Folkestone zum Menuhin-Wettbewerb. 1987 wie 1989 kam er als Preisträger zurück. Es folgten London, Adelaide, Hannover… Wettbewerbe, sagt Bartek, waren für ihn eine Chance, anderswo Kontakte zu knüpfen, andere Lehrer kennenzulernen, überhaupt sich „im Ausland zu präsentieren. Meine Eltern konnten so etwas nicht bezahlen.“ Der erste Karriereschub begann dennoch in Polen, in Poznań, wo er nach dem dritten Preis in Hannover den ersten bei einem der renommiertesten Geigergipfel errang, dem Wieniawski-Wettbewerb, gefolgt von zahlreichen Konzerten. Nachdem er 1993 auch noch beim Long-Thibaud-Wettbewerb in Paris abgeräumt hatte, „da dachte ich, ich glaube, das reicht.“ Er folgte dem Solisten und Geigendozenten Pierre Amoyal an die Hochschule von Lausanne – und war mit neunzehn bereits Vater. Mutter seines ersten Sohnes war die Pianistin, die er mit fünfzehn Jahren im Internat kennengelernt hatte, nun seine Frau. „Darum entschied ich mich, eine feste Stelle zu suchen.“

Sieben Jahre lang spielte er als Zweiter Konzertmeister im Zürcher Tonhalle-Orchester, wo man ihm eine Stradivari zur Verfügung stellte. Als Bartek dann im Orchester der Oper Zürich Erster Konzertmeister wurde, fragte er den damaligen Intendanten Alexander Pereira nach einem vergleichbaren Instrument. Der ließ seine Kontakte zur Welt derer spielen, die gern viel Geld in Kostbarkeiten investieren. Ein Small Talk beim Pferderennen soll eine Rolle gespielt haben… „Nach ein paar Monaten rief er mich an: ,Kommen Sie in mein Büro´. Er hat eine Geige aus dem Schrank geholt und nicht gesagt, welche es ist.“ Es war die Guarneri del Gesù von 1727, mit der Bartek Niziol noch immer glücklich ist.„Dieses Instrument hat so viel Geschichte erlebt, so viele haben darauf gespielt, man spürt das. Es ist auch eine geistige Beziehung. Und diese Feinheit des Klanges – man hat das Geheimnis noch nicht entdeckt. Man kann das nicht kopieren. Aber die Geige klingt nicht von selbst so. Die Beziehung zwischen Spieler und Instrument ergibt den Klang, die Symbiose ist wichtig.“

Als Symbiose sieht er auch die Beziehung zwischen Orchester, Solisten und Dirigenten. „Als Solist versuche ich immer, ganz eng mit dem Orchester zu musizieren. Und als Konzertmeister versuche ich, die Energie vom Dirigenten auf das Orchester zu übertragen. Es ist enorm wichtig, nicht einfach nur die eigene Partie zu spielen, man ist Teil des Organismus. Auch die besten Dirigenten sind das. Mit Diktatur funktioniert nichts.“ Für den autoritären Stil, meint er, sei inzwischen auch das Niveau der Orchestermusiker zu hoch. Er sieht sich als Konzertmeister, der auch Solokonzerte spielt, um „in Form zu bleiben“.

Als Solist hat er mit Krzysztof Penderecki zusammengearbeitet, zwei Jahre vor dessen Tod. Der 84-jährige Komponist leitete selbst die Einspielung seines concerto doppio für Violine, Viola und Orchester, die in Warschau entstand. „Er hat nur ein paar tutti dirigiert, er war schon ein bisschen krank“, sagt Bartek. „Er konnte streng sein und hat zum Orchester auch mal sarkastische Bemerkungen gemacht, wenn ihm zuwenig Klang da war. Aber war sehr zufrieden mit uns Solisten. Er hatte es gern, wenn man ohne Show, ehrlich und natürlich spielt.“ Sprach er auch über seine eigene Arbeit? „Ja, er hat gern betont, dass er auch Geiger war und eine klare Vorstellung habe, wie die Geige klingen muss.“ In Zürich wird das einsätzige Werk in der Version für Violine und Violoncello zu hören sein, Bartek selbst schlug es vor. „Es liegt nicht einfach, ist aber angenehm zu spielen. Die Stimmung ist das wichtigste. Auch wenn es sehr atonal klingen kann, mit vielen Dissonanzen, ist es nicht aggressiv, sondern melodisch. Der Rhythmus kommt erst an zweiter, dritter Stelle. Es gibt mehrere Kadenzen, die man sehr frei gestalten kann, und jeder Spieler hat Momente für sich allein. Das Orchester spielt nicht sehr viel, ist dann aber ebenso wichtig wie die Soli. Ich spiele es genau so gern wie das Doppelkonzert von Brahms!“

Auch die weniger bekannten polnischen Komponisten liegen ihm am Herzen. Er nimmt sämtliche (guten) Violinsonaten auf, die in seinem Land geschrieben wurden, und er hat Entdeckungen gemacht. Etwa Sigismund Stojowski, dessen Violinkonzert er für die BBC aufnahm, Julius Zarębski, dessen Quintett er mit Martha Argerich spielte – „unvergesslich!“ -, oder das Violinkonzert, dessen Partitur die Komponistin Grażyna Bacewicz versteckte – zu Unrecht, wie der Mitschnitt der späten Uraufführung in der Warschauer Philharmonie beweist. Wegen solcher Projekte gibt es für den Geiger immer etwas vorzubereiten, und der Lockdown, gesteht er, war für ihn keine schlechte Zeit, „auch wenn ich das Zusammenspielen und das Spielen vor Publikum vermisst habe.“ Er hat mit den Joggen begonnen. Und sich zugleich, mit Blick auf die sonst so randvollen Terminpläne gefragt: „Muss man immer so rennen?“ Die Entschleunigung kam aber auch aus einem besonderem Grund passend. „Wir sind Großeltern geworden! Unsere Enkelin wurde vor vierzehn Monaten geboren, Ophelia.“ Bartek dürfte einer der jüngsten Großväter weit und breit sein. Was er ja auch dem Talent verdankt, das ihn einst ins Internat von Poznań führte…

bartek 1991Bartłomiej Nizioł mit der Mutter des Autors, 1991 beim Violinwettbewerb in Hannover

Dieser Text erschien im MAG 85, Magazin der Oper Zürich, im September 2021, und ist urheberrechtlich geschützt. Der Abend mit Pendereckis Doppelkonzert (Violoncello: Lev Sivkov), der Ouvertüre zur Zauberflöte und Schostakowitschs Zehnter beginnt am Sonntag, 26.9. 2021, um 19.30 in der Oper Zürich.

 

“Ich möchte keinen Takt missen”

Sechs Wochen vor der Salome-Premiere in Zürich saß die berühmteste Dirigentin der Welt, Simone Young, noch in australischer Einzelhaft. Es wurde ein vergnügliches Quarantäne-Zoom-Treffen…

Irgendwo hinter den beigen Vorhängen muss die Tür sein, vor der die Polizei sitzt. Ja, die Dirigentin wird bewacht. Wir können uns nur digital treffen, denn Simone Young befindet sich in ihrer Geburtsstadt Sydney in einem Quarantäne-Hotel, fertig geimpft, zigmal getestet, darf das Zimmer seit elf Tagen nicht verlassen und freut sich, dass ein Balkon dazu gehört. «Luxuriös», sagt sie heiter, «beim letzten Mal konnte ich nicht mal ein Fenster aufmachen.» Ist die Corona-Lage denn so dramatisch in Australien? «Hundert bis hundertfünfzig neue Fälle am Tag, wahnsinnig wenig, mit Europa gar nicht zu vergleichen. Aber sie wollen das Virus im Land eliminieren.» Weswegen drei der vier Konzerte ausfallen, für die Simone Young nach Australien geflogen ist, die neue Chefdirigentin des Sydney Symphony Orchestra.

Kürzlich in Paris war das noch anders! «Das kann man wohl sagen», sagt die Dirigentin lachend, «ich bin von hundert auf null gegangen seit dem vierzehnten Juli.» Am französischen Nationalfeiertag hat sie auf dem Marsfeld das bombastische Concert de Paris dirigiert, eine der populärsten Konzertveranstaltungen des Landes. «Diese unglaubliche Umgebung mit dem Eiffelturm als Kulisse und fünfzehntausend Leute im Gras vor der Bühne!» Als «Maestra» hat sie der Moderator dort angekündigt, denn in Paris kennt natürlich kein Mensch den deutschen Podcast, in dem Simone Young vor einiger Zeit erklärte: «Nennt mich nicht Maestra!» Vom Gendern hält sie nicht so viel. Aber das Thema lassen wir aus, das Thema «weibliche Dirigenten» ist keines mehr. Was freilich auch dieser berühmten Künstlerin zu verdanken ist.

Mit offenen Haaren sitzt sie da, in dunkelblauer Bluse, eine Lesebrille auf der Nase und ein pinkes Smartphone in der Hand, schwärmt von den Musikern in Paris und vom nächsten Projekt in Europa, der Salome in Zürich. 1995 hat sie die Oper zum ersten Mal dirigiert, in Wien, «seitdem sicher noch sechzig Aufführungen.» Angenähert hat sie sich dem Stoff viel früher. «Als Teenager habe ich versucht, das Stück von Oscar Wilde auf Französisch zu lesen, in seiner Sprache für das Dekadente, was mir damals noch schwer fiel.» Inzwischen spricht sie es fliessend, wie auch Italienisch und Deutsch.

Bei Strauss höre und spüre man alles, «auch wenn man nicht weiss, was die singen, wenn man die Szene nicht sieht. Diese Sinnlichkeit, der Erotismus. Ich habe das Stück schon mit 22 Jahren als Jung-Korrepetitor hier in Australien gespielt und mir dann wirklich angeeignet. Ich glaube, ich kenne jedes Wort auswendig und fast jeden Takt. Ich liebe diese Partitur und finde sie perfekt, es gibt keinen Takt, den ich missen möchte.» Nicht einmal aus dem Tanz der sieben Schleier? Sie lacht. «Der hat den Nachteil, dass er als Konzertstück verdorben wurde durch zu häufiges Spielen. Trotzdem ist die Instrumentation phänomenal – und die ganze Oper fast ein Walzer! Die Frage ist, was macht man mit dem Walzer, mit den Gegenrhythmen, wie findet man die Phrasen, im Text, im Rhythmus, in den unglaublichen Harmonien?»

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Wie kommt es bei Strauss zum Sprung in diese neue Sprache, nach seinen früheren Opern? «Wenn man die Tondichtung Tod und Verklärung kennt, ist Salome kein riesiger Sprung. Der Inhalt könnte nicht weiter entfernt sein, auch das thematische Material. Aber diese Orchesterklänge und Harmonien! Der Sprung zu Salome ist der zur sinfonischen Oper. Die vier Protagonisten sind Salome, Herodes, Jochanaan – und das Orchester. Und ein fünfter, der Mond.» Als sie erklärt, wie viel von Salome sich in Bergs Lulu wiederspiegelt, kommen ihre Hände ins Spiel, ihre Finger formen in der Luft all die Verflechtungen nach.

Sie ist fasziniert von den Jahren, in denen Strauss’ Oper entstand, nach dem Fin de Siècle, «diese Neuerweckung, das Exzessive, die Extravaganz!» Wenn es eine Zeit gäbe, in der sie «gern drin wäre», dann diese, Anfang des 20. Jahrhunderts, und zwar in Wien. «Mahler, Schönberg, Berg, Karl Kraus… nur, als Frau hätte ich da nichts zu suchen. In dieser Zeit war die Frau das Objekt von künstlerischen Fantasien.» Immerhin aber konnte damals die englische Komponistin Ethel Smyth sogar Gustav Mahler ihre Oper vorstellen. «Ja, es gibt ein paar sehr talentierte Frauen aus dieser Zeit! Auch Amy Beach! Aber sie hatten keine den Männern parallelen Chancen. Australien hatte da einen Vorteil…»

Nun stellt Young erstmal klar, dass sie vom Australien seit 1788 spricht, seit dem Eintreffen der britischen First Fleet. «Der Vorteil war die Entfernung von Europa und die geringe Bevölkerungszahl. Ich habe das Gefühl, dass Frauen hier früher Chancen hatten. Peggy Glanville-Hicks und Margaret Sutherland haben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirklich gewichtige Werke komponiert. Aber ich freue mich auf die Zeit, wo wir nur über die Qualität der Werke reden, auch der jetzt geschriebenen, Stilvergleiche, Einflüsse und all das und nicht über das Geschlecht der Komponisten. Wir müssen noch ein Stück dran arbeiten.» Sie hebt ein Glas, rotorange leuchtet es darin, und ruft: «Das ist kein Campari! Das ist grapefruit juice!»

Sie selbst hat Komposition als Hauptfach in Sydney studiert, «als einziges Mädchen in einer Gruppe von sieben Studenten des Jahrgangs, das spielte keine Rolle. Aber ich habe schnell erkennen müssen, dass ich keine eigene Musiksprache habe. Alles, was ich schrieb, war ziemlich retrospektiv. Aber höchst kompetent… Ich finde, Komponieren ist eine sehr gute Ausbildung für Dirigenten und nicht, wie man Takte schlägt. Man arbeitet am Denken, am Analysieren, am Umgang mit diesem Instrument Orchester.» War nicht früher jeder Dirigent auch Komponist? «Ja, aber die, die beides wirklich gut machten, waren selten. Gustav Mahler selbstverständlich, Richard Wagner, Leonard Bernstein…»

«Berlioz!», schlage ich vor. «Ich werde mir gleich viele Feinde machen», bekennt sie sofort, «Berlioz verstehe ich nicht! Ich komme ihm gerade Schritt für Schritt näher, indem ich vieles von Liszt studiere. Und ich bewundere viele seiner Werke. Aber sie sind meiner natürlichen Sprache fern, ich fühle mich davon nicht angezogen.» Gut, dass sie das nicht vor dem 14. Juli sagte, als sie am Eiffelturm den Rakoczy-Marsch aus La Damnation de Faust dirigierte.

Also kein Notenschreiben als Quarantänezeitvertreib? «Oh nein. Ich lese. Ich bin eine passionierte Leserin und lese immer zwei oder drei Bücher gleichzeitig. Jetzt lese ich gerade Sand TalkHow Indigenous Thinking Can Save The World, das gibt es leider nur auf Englisch. Es wurde von einem Akademiker in Melbourne geschrieben, der von Ureinwohnern abstammt, Tyson Yunkaporta. Wie die meisten hier weiss ich viel zu wenig über unsere ersten Australier. Ziemlich dichter Stoff! Und dann habe ich da noch ein paar Kochbücher und die kritischen Notizen zur neuen Ausgabe von Tschaikowskis Fünfter

«Darf ich fragen, was Sie da mit Ihren Händen machen? Stricken Sie?» «Nein, das sind Haarnadeln, ich bin immer mit meinen Händen beschäftigt. Aber Sie haben recht, Stricken ist meine Leidenschaft!» Strahlend greift sie neben sich und hält einen hellvioletten Schal hoch. «Ich mache den für meine Mutter. In etwa einer Woche darf ich bei ihr sitzen, sie ist 97 und in einem Pflegeheim.» Ein Schal in Australien? «Der Winter in Sydney ist nicht kalt nach europäischem Massstab, achtzehn Grad, aber für alte Menschen immer noch kalt, und ich kann beim Stricken über Verschiedenes sehr gut nachdenken.»

Drei Tage währt ihre Isolation noch. Dann wird sich herausstellen, ob wenigstens das Konzert in Adelaide stattfinden kann, knapp 1000 Kilometer entfernt im Bundesstaat South Australia. Eine andere Region, die um Brisbane, wurde gerade komplett abgeschottet wegen fünfzehn Neuinfektionen unter drei Millionen Menschen. Wie gut, dass Zürich offen bleibt!

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und erschien im MAG 84 der Oper Zürich, September 2021.Nachzulesen ist er auch auf der Website der Oper Zürich. Das Foto von Simone Young machte Sandra Steh.