“Ein Stück Seele, das schon berührt wurde”

Ludovic Tézier, 53, gilt als bester Verdi-Bariton der Gegenwart, jetzt singt er den Boccanegra in Zürich. Zuvor bejubelte man ihn als Rigoletto in Paris, wo wir uns unfern der Tuilerien trafen.

Zwischen all den schicken Passanten im ersten Arrondissement, zwei Minuten von denTuilerien entfernt, kommt ein Typ über die Rue des Pyramides gelatscht, der nicht direkt aussieht, als käme für ihn ein Café Crème à 5,20 Euro in Frage. Groß, bärig, schlabbrige Hose, quergestreifter Strickpulli, auf dem Kopf eine  zerbeulte Schirmmütze aus hellgrauem Stoff. Naja, die Statur könnte stimmen, aber… Er verlangsamt, bleibt einen Meter neben meinem Tischchen vor La Rotonde stehen, dann klingelt mein Telefon. Ich blicke mich um. Der Typ hat ebenfalls sein Telefon in der Hand. Er grinst. Das ist also der Mann, den sie gestern als Rigoletto in der Bastille bejubelt haben, das ist Ludovic Tézier.

53 Jahre alt, in Marseille geboren, wohnhaft in Paris. Er gilt als bester Verdi-Bariton der Gegenwart. An der Seine steht er derzeit als Rigoletto auf der Bühne, in Zürich wird er den Simon Boccanegra singen, und auf diese ungewöhnliche Oper kommen wir auch gleich zu sprechen, drinnen im Café, wo seine tiefe, körnige Sprechstimme umbrandet wird vom Tassenklappern, dem Zischen der Kaffeemaschine, den Gesprächen. Die Kappe behält er auf, vielleicht als Marseiller Requisit. Er liebt das Mittelmeer und den sanft wogenden Anfang von Boccanegra, „man spürt die Grandezza“, sagt Ludovic, auf Deutsch.

Der Doge, seine Rolle, sei als Charakter „am Ende fast heilig“, ganz anders als der negative Rigoletto, der den Tod der eigenen Tochter mitverschuldet. Gemeinsam hätten die beiden, dass sie Väter von Töchtern sind – was sie wiederum mit dem Sänger vereint. „Damit, dass ich Vater bin, kann ich spielen,“ meint er, „auch wenn mir die Erfahrungen eines Dogen fehlen.“ Besonders für einen wie Rigoletto brauche es Lebenserfahrung, „ein Stück Seele, das schon berührt wurde, ohne das geht es einfach nicht, sonst wird der Eindruck zu leicht sein.“ Und welche Erfahrung kann er aufbieten für eine grundböse Gestalt wie Jago in Otello? „Interessante Frage. Mit diesem Charakter habe ich als Mensch hoffentlich nichts zu tun. Für superböse Partien muss man eine Idee finden, einen Gag sogar, ein bisschen nachdenken.“

Und Graf Luna, der im Trovatore seinen Rivalen hinrichten lässt, den eigenen Bruder? „Er ist finster und bitter, aber er liebt“, sagt Ludovic ernst. „Er liebt wirklich. Er hat menschliche Seiten. Jago hat dagegen nichts Menschliches an sich, er ist wie ein schwarzer Stein. Faszinierend.“ Wie kommt es eigentlich, dass wir über diese fiktiven Gestalten aus einem anderen Jahrhundert fast so sprechen können, als wären sie Menschen, die hier in der Stadt herumlaufen? „Das ist die Stärke des Mythos“, sagt Ludovic, ohne zu zögern. „Das ist wie mit den Gestalten der Ilias, der Odyssee. Den Mythos kann man zu jeder Zeit benutzen, er ist die reine Wahrheit, der Subtext des Lebens.“

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Er hat Homer in der Schule lernen müssen. „Zwanzig Jahre später war ich superfroh, das zu kennen.“ Ludovic bedauert es, dass für Schüler heute alles „erleichtert“ wird, so, wie er es als Vater eines Zwölfjährigen (neben zwei erwachsenen Töchtern)  mitbekommt. Dafür hat er schon den Achtjährigen in eine Generalprobe zur Walküre in Salzburg mitgenommen und ihm immer flüsternd erzählt, was und wer als nächstes kommt und warum. So ähnlich hat sein Vater das auch gemacht, nur ohne Opernhaus. Dafür reichte das Geld nicht in der Familie Tézier. Man hörte leidenschaftlich Radio und Platten, „es gab immer Musik, ich habe immer Melodien so für mich gesungen.“ Und irgendwann gab es eine Vinylplatte mit Vorspielen zu Wagneropern, auf der ihn Parsifal faszinierte. Dieses Werk wollte der Zwölfjährige unbedingt ganz und wirklich erleben.

„Mein Vater wollte mir die Chance geben, die Show zu genießen, er hat nur für mich eine Karte für 80 Franc gekauft, was 80 Euro von heute entspricht. Das war schon was: Erster Rang Mitte, erste Reihe. Das war ein Schock, ein Wunder. Ich habe danach Wagner, Wagner, Wagner mit Kopfhörern gehört.“ Und deswegen Sänger werden wollen? „Nein, das ist nicht so gewesen. Mit siebzehn, achtzehn habe ich Arien für mich zum Spaß gesungen und gedacht, vielleicht kann ich das mit einem Professeur verbessern.“ Claudine Duprat, der er in Marseille vorsang, sagte: „Es lohnt sich, daran zu arbeiten.“ „Wirklich?“ „Ja, wirklich.“ Und so arbeitete Ludovic mit ihr, „ungezielt“, wie er sagt, ohne Karriere im Sinn, aber passioniert. „Sie hat nie einen Franc gewollt. Sie hat gesagt, du hast eine Stimme und die anderen haben Geld. Die haben sozusagen für mich bezahlt.“ Er lacht, wie er oft lacht, glucksend, halb in sich hinein, fast genießerisch.

„Und plötzlich“, fährt er fort, „machst du einen Wettbewerb und bekommst einen Preis, ein paar Leute fragen, willst du mal in einem Konzert mitsingen, Schrittchen, Schrittchen, plötzlich bist du auf der Bühne für eine kleine Partie, dann kommt ein seriöses Engagement in Luzern…“ Dort war Don Giovanni die erste Partie des 25-jährigen, dieselbe Rolle, in der er ein paar Jahre später in Liège seine Frau kennenlernte. Cassandre Berthon sang die Zerlina. „Wenn du unbewusst mit jemandem zusammen atmest, wenn Don Giovanni sie verführt…“, er singt andeutungsweise, „…das war einfach Gewissheit, musikalisch, menschlich auch. Noch heute, wenn wir zusammen singen, das ist…“ Er schnippt mit den Fingern. „So! Ohne zu üben. Es geht von selbst.“

„Singen Sie immer noch Mozart?“ „Gern. Morgen, wenn Sie möchten. Ich bete! Mozart ist das Alpha und Omega. Es ist alles drin, was es vor ihm gibt und alles danach. Man kann Verdi wie Mozart singen, wirklich.“ „Aber Wagner ist nicht auch schon drin…“ „Wir haben die schlechte Angewohnheit zu denken, er trage Größe XXL, eine bestimmte Vorstellung von germanité steckt dahinter, von deutschen Wurzeln, einfach blöd. Dieser dicke, steile Klang muss nicht sein. Es gibt eine Aufnahme mit Max Lorenz aus dem Krieg, Winterstürme, frisch, jung, phänomenal, kein Fett, moderner als heute. Das ist cavalerie légère, keine Panzerdivision. Électrisant, wie wir sagen – das ist Wagner für mich.“

Und dann schwärmt Ludovic, der Verdi liebt und Berlioz und Gounod, von der deutschen Sprache. „,Blade‘ im Englischen, ,lame‘ im Französischen sprechen nicht für sich. Aber ,Klinge‘! Man hört, was es bedeutet. Das Deutsche ist so vielfarbig. Es ist wie Malerei, die man singen und sprechen kann. Es gibt viele Akzente, es ist nicht immer süüüß, es ist manchmal stark, manchmal super eeedel – man kann die Sprache wie eine Palette benutzen. Stimmlich nicht einfach, man braucht dazu eine Mozarttechnik…“ Gut, aber so viel von Gefühlen wie Verdi versteht Wagner nicht, oder? „Amfortas!“ ruft Ludovic, der diese Rolle jüngst im Wiener Parsifal sang. „Ein Panorama von Emotionen!“

Zurück nach Paris. Stimmt es, dass das Opernpublikum hier sich immer nur wohlfühlen will, wie Gérard Mortier klagte? „Pariser genießen la belle vie, das Angenehme, aber auch den Schock, Gérard als Intendant konnte das, ich habe ihn geliebt. Wenn es ein Riesenbronca gibt, einen Empörungssturm, ist niemand zufriedener als die Pariser, le tout-Paris en parle, alle reden darüber.“ Aber zur Zeit ist man vor allem glücklich, dass wieder vor vollem Haus gespielt wird. Mit seinem engen Freund Jonas Kaufmann hat sich Ludovic im Vorjahr per Petition dafür eingesetzt, dass im Lockdown die Kunst unterstützt wird, besonders die fragile Theaterkunst. „Nicht wegen uns. Wir Sänger aus der ersten Reihe mussten Lärm machen für die im Mittelbereich, für die es ein Tsunami war. “

Madrid, wo man mitten in der Pandemie mit größter Umsicht das Opernhaus öffnete und spielte, ist für ihn seitdem „eine heilige Stadt“. Es gehe auch um die Verantwortung Europas für seine Kultur. „Deutschland, England, Frankreich, wir sind im vergangenen Jahrhundert durch die Hölle gegangen. So haben wir eine Mission, wir müssen vorwärts. Jeder trägt dabei sein Steinchen.“ Aber nicht ins Museum. „Wir brauchen Oper live. Katharsis geht zu Hause nicht. Wenn du das Publikum hörst und spürst, bringt es dich dazu, mehr als dich selbst zu geben auf der Bühne. Es ist eine Herausforderung. Das ist sexy, wirklich!“ Er lacht wieder. Dann muss er los, zum Covid-Test für den nächsten Auftritt.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 87, dem Magazin der Oper Zürich, im November 2021. Ludovic Tézier ist im Züricher “Simon Boccanegra” ab 12. Dezember zu erleben. Die musikalische Leitung hat Marco Armiliato, Regie führt Andreas Homoki. Das Foto zeigt Ludovic Tézier als Germont in der Wiener “Traviata” 2021