Gebrochene Blicke in die Ewigkeit: Strawinskys „Psalmensinfonie“ und Mahlers Vierte Sinfonie ergänzen einander über eine weite Distanz
Ich habe seit zwanzig Jahren nicht gefastet, und ich tue es nun aus größter geistiger und spiritueller Notwendigkeit heraus“, schreibt Igor Strawinsky am 6. April 1926 aus Nizza an den Freund und Impresario Serge Diaghilev. Er werde zur Beichte gehen. „Serjoscha“ ist tief gerührt und begrüßt den 44-jährigen als Bruder im Schoß der russisch-orthodoxen Kirche, die für Strawinsky kaum noch eine Rolle spielte, seit er in Paris zum shooting star wurde. Doch im späteren Paris der 1920er, Strawinskys geistigem Lebensmittelpunkt, liegt das (Re-)Konvertieren in der Luft, gerade bei Intellektuellen. Im Vorjahr ist Jean Cocteau katholisch geworden, mit dem der Komponist eng zusammenarbeitet. Man liest Jacques Maritain, den katholischen Philosophen auf den Spuren des Thomas von Aquin, dessen Schriften auch in Strawinskys Bibliothek stehen, man ist fasziniert von mittelalterlicher Demut und Anonymität, von neuer Spiritualität.
Für Strawinsky, mutmaßt sein amerikanischer Assistent Robert Craft, kommen noch Schuldgefühle dazu: Er hat mit dem Wissen seiner an Tuberkulose erkrankten Frau Katia eine anhaltende Beziehung mit Vera Sudeikina. Zudem soll es im Frühjahr 1926 ein Erweckungserlebnis gegeben haben. Auf dem ersten, kurzen Flug seines Lebens, von Triest nach Venedig, ist der Komponist einer Pilgergruppe begegnet und ihr zum 700. Geburtstag des Heiligen Antonius nach Padua gefolgt, so will es sein Biograph Eric Walter White von ihm gehört haben, und dort habe es „den wirklichsten Moment meines Lebens“ gegeben. Kein Zweifel besteht jedenfalls daran, dass der Mann tief gläubig ist, der sich Anfang 1930 an die Arbeit macht, eine Psalmensinfonie zu schreiben.
Das ist nicht gerade das Werk, mit dem Auftraggeber Sergej Kussevitzky rechnet, Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra, dessen 50-jähriges Bestehen mit der Novität gefeiert werden soll. Ist es überhaupt eine Sinfonie, dieses Oratorium in drei Sätzen, in denen ein gemischter Chor Verse aus den Psalmen 38 und 39 (nach vorlutherischer Zählung), „Erhöre mein Gebet, Herr“ und „Ich harrte des den Herrn“ sowie den ganzen Psalm 150 („Halleluja“) singt? Auf jeden Fall, so der Komponist, ist es „keine Sinfonie, die auch das Singen von Psalmen umfasst. Im Gegenteil, ich mache das Singen von Psalmen zur Sinfonie.“ Gleichzeitig macht er die Sänger zu Instrumenten des Orchesters. Den lateinischen Text hat er auch gewählt, „um die Stimme vom Ausdruck zu distanzieren.“ Nichts Subjektives!
Igor Strawinsky ist noch nie ein Subjektivist gewesen, mit Hector Berlioz etwa konnte er überhaupt nichts anfangen, und sein berühmtestes Werk, Le sacre du printemps, ist bei aller Heftigkeit frei von individueller Emotion. Schon zur Uraufführung 1913 erklärte er, warum das Stück ohne Streicher beginnt: Sie seien mit ihrem Crescendo und Diminuendo „zu anregend, zu sehr die menschliche Stimme repräsentierend“. In der „Psalmensinfonie“ von 1930 dürfen keine Geigen und Bratschen mitspielen, dafür aber zwei Klaviere. So entsteht ein herber, kantiger Klang, dem gerade am Anfang eine ebensolche Struktur entspricht: absolut vertikal. Unmelodiös repetierende Bögen von Flöte und Fagott, Schläge dazwischen. Aber so maschinell, wie der Zweivierteltakt eingeführt wird, bleibt er nicht. Das Solocello bereitet mit einem Legato den Einsatz der Altstimmen vor, die freilich, wenn sie „lacrimas meas“ singen, „Schweige nicht zu meinen Tränen“, ungerührt bei ihrem Wechsel zwischen f und e bleiben, während das Orchester unbekümmert Achtel pocht und vom Text nichts zu wissen scheint. Das soll auch so sein. Strawinsky wollte in der Psalmensinfonie den „lyrisch-sentimentalen ,Gefühlen‘ vieler Komponisten“ etwas entgegensetzen, wie er im Gespräch mit Robert Craft erklärte.
Aber warum wird dann die Bitte an Gott „Ne sileas“, „Schweige nicht“, gleich zweimal im Forte gesungen, mit Nachdruck also, während aus den umgebenden Achteln Sechzehntel werden und Dringlichkeit ins Geschehen kommt? Die währt bis zum Schluss des blendend getimten kurzen Satzes, immer gesteigert bis zu einem gleißenden G-Dur. Schon 1923 erklärte Strawinsky zu seinem Oktett, die Form eines „musikalischen Objekts“ sei bestimmt vom Material, 1935 verschärfte er das: „Musik genügt sich selbst. Suche nicht nach irgendetwas hinter dem, was sie schon enthält.“ 1967: „Die Noten selbst sind das Ende der Straße.“ Wenn das so wäre, bräuchten sie keine Hörer mehr.
Das Spannende an der „Psalmensinfonie“ ist gerade ihr Widerspruch zu Strawinskys Vorstellung einer absoluten, objektiven Musik. Der zweite Satz beginnt mit der „objektivsten“ Form nach dem Kanon, einer Fuge, einem wunderschönen Bläsergespinst, aber er gipfelt in einer Katastrophe. Ihr geht ein stilistischer Rückblick voraus, vielleicht die einzige Passage in Strawinskys Œuvre, die an Mahler denken lässt. Zu den Worten „Er stellte meine Füße auf einen Fels…“ hören wir umarmende Harmonik im Sonnenuntergang der Diatonik. Nun könnte es noch schöner werden: „Er gab mir ein neues Lied in meinen Mund…“ Doch es ist blankes Entsetzen, das wir da hören – auf dem Wort „novum“ wird ein Maximum an siebentöniger Dissonanz erreicht. Das kann hier nur programmatisch verstanden werden. Wenn das das neue Lied für Gott ist, dann wird ihm darin mitgeteilt, wie es um seine Welt beschaffen ist.
Dann ist auch klar, warum im „Halleluja“ nicht gejubelt wird. Das „Lobet ihn“ gleicht einem Kondukt, dumpf und schleppend. Danach kippt das Orchester in rasende Motorik, ein hypervirtuos komponierter Rummelplatz, mitreißend, wahlweise kann man verselbstständigtes Material oder hysterisch gute Laune hören, und darin wird das „laudate Dominum“ zu eiligen Silben verkleinert. Es folgen 50 Takte in schwerem langsamem Dreiermetrum, ganz frei vom Jubel, den der Psalm umfasst, statisch, endlos scheinend, fast wie eine Welt vor oder nach den Menschen. Auf jeden Fall: Viel Raum und Zeit, um nachzudenken.
Dauernd bleibt Mahler zurück, um sich etwas zu notieren. Er kommt beim Spazierengehen kaum seinen Einfällen hinterher, geschweige denn den drei Menschen, mit denen er im Sommer 1899 in der Steiermark Urlaub macht – seine Schwester Justine, der Geiger Arnold Rosé, der ihr nahe ist, und Natalie Bauer-Lechner, die geduldig hofft, dass Gustav Mahler sich doch noch in sie verliebt. Aber der 39-jährige, seit zwei Jahren Direktor der Wiener Hofoper, hat endlich Ideen für seine Vierte Sinfonie, drei Jahre nach der Dritten, und nur jetzt Zeit, das Nötigste festzuhalten. In der vorigen Spielzeit hat er an der Oper 97 Aufführungen dirigiert, dazu acht Konzerte außerhalb, und genauso wird es weitergehen. Außerhalb der Ferien hat Mahler im Schnitt alle drei Tage einen Auftritt, wozu man sich noch ein paar Proben denken darf. Aber Erholung im Urlaub kommt nicht in Frage, wenn sich ein Werk im Kopf abzeichnet.
Die Grundidee ist immerhin entstressend: Für das Finale wird er den Satz nehmen, der 1892 für die Dritte entstand und ihm dann nicht gewaltig genug war, die Vertonung eines fromm-verrückten Gedichts aus Achim von Arnims und Clemens Brentanos Sammlung Des Knaben Wunderhorn. Nun muss der Rest dazu passen, dort hinführen, was Folgen für Proportionen und Instrumentierung hat: Die Sinfonie wird so kurz wie keine andere von Mahler, also immer noch doppelt so lang wie eine von Haydn, aber nicht länger als beide Ecksätze der Dritten zusammen. Und es gibt weder Posaunen noch Tuba, es wird alles so licht und blau wie ein Sommertag… scheinbar jedenfalls und dem zufolge, was Natalie von Gustav dazu erfährt: „Stell dir das ununterschiedene Himmelsblau vor, das schwieriger zu treffen ist als alle wechselnden und kontrastierenden Tinten.“ Das ewige Blau könne aber „plötzlich grauenhaft“ werden, „wie einen am schönsten Tage in einem lichtübergossenen Wald oft ein panischer Schreck überfällt.“
Das lässt an Strauss´sche Tondichtungen denken, ist aber in jeder Hinsicht das Gegenteil: Eine Sinfonie mit klassischen vier Sätzen, ganz ordentlich aufgebaut, mit einem zugänglichen, überschaubaren ersten Thema. Aber das ist ein bisschen schräg, mit einem wienerischen Glissando darin, Kitschgefahr, und ihm gehen drei Takte Flötenachtel mit Schelle voraus. Eine „Narrenschelle“, befand Theodor W. Adorno 1960, „die, ohne es zu sagen, sagt, was ihr nun vernehmt, ist alles nicht wahr.“ Aus seiner Interpretation der Vierten als „Als-ob von der ersten bis zur letzten Note“ hat sich geradezu ein Dogma der Rezeption entwickelt – die Musik gilt vielen als „ironisch“, passend zum Bild von Mahler als dem Komponisten kommender Katastrophen, für den so etwas wie Ungebrochenheit oder, schlimmer noch, gute Laune, nicht in Frage kommt.
Die Vierte zeigt aber besonders im ersten Satz, dass sich auch in echt guter Laune etwas „Gebrochenes“ schaffen lässt, im Vollgefühl der Beherrschung des Metiers, von der Mahler selbst fand, sie habe hier ein neues Niveau erreicht. Das erste Thema mutet nicht nur trivial an, es klingt dazu noch eher wie die zweite Hälfte eines Themas. Mit insgesamt sieben Themen entsteht dann eine so raffinierte wie lichte Konstruktion, in der das wunderbar sehnsüchtige Cellothema (das fünfte) um so emphatischer wirkt, kein bisschen ironisch. Es geht um Spiel wie um Ernst, und aus dem einen kann das andere werden.
In der Durchführung werden unterschiedlichste Motive so gegeneinander geschnitten, dass sich geradezu szenische Perspektivwechsel ergeben, dann verselbstständigt sich das Material zu einer kleinen Walpurgisnacht mit grausigem Höhepunkt im dreifachen forte, dem nach 14 Takten „einer der genialsten Momente überhaupt bei Mahler“ folgt, wie der Dirigent Michael Gielen den Übergang zur Reprise nennt. Ordnungsgemäß kommt das erste Thema wieder zum Einsatz – aber dem fehlen die ersten beiden Takte! So als wären sie ohnehin gerade erst gespielt worden, dann kam etwas dazwischen, und nun geht´s weiter. So kann man „Reprise“ auch definieren. Das ist Dekonstruktion innerhalb der Konstruktion. „Es scheint, als ob hier die bedeutende Kombinationsgabe des Tonsetzers lediglich um ihrer selbst willen ihre Kräfte versprühe“, zürnte der Uraufführungskritiker Theodor Kroyer 1901.
Was ja auch schön sein kann, wenn auch eher im Sinne des Neoklassizisten Strawinsky. Mahlers Sinfonie hat aber ein ungeschriebenes Programm, und man hört es sogar gleich anfangs. Die Schellentakte sind kein Narrensignet, sondern vorwegnehmendes Zitat aus dem Finale, wo dieser Klang mehrfach eingesetzt wird zur Ausmalung der „himmlischen Freuden“. „Diese Metallinstrumente“, sagte dazu der Dirigent (und Archäologe) Guiseppe Sinopoli, „waren immer ein Ausdruck der Freude, auch in den alten Kulturen, wenn wir zum Beispiel an Mesopotamien denken, oder an Ägypten oder Griechenland.“ Mahler hat den Himmel, der sich im „Wunderhorn“-Gedicht so prall entfaltet mit lauter Heiligen, die Lämmer und Ochsen schlachten und Fische fangen, mit brotbackenden Engeln und einer lachenden St. Ursula, gleichsam wie ein Kind vertont, mit höchster Kunst Einfachheit geschaffen und zum Gesang angemerkt: „mit kindlich heiterem Ausdruck; durchaus ohne Parodie!“
Kindheit war für Mahler eine große Welt. Die Spielleute und Klezmorim, die er in Iglau gehört hatte, tauchen überall in seiner Musik auf, auch die Militärkapellen; zur Sphäre des „Trivialen“ musste er sich nicht herablassen. Der klezmernahen Solovioline in seiner Achten geht die voraus, die „wie eine Fidel“ im diabolischen Scherzo der Vierten zu hören ist und wie eine Trösterin nach einer dramatischen Entwicklung im langsamen Satz erscheint. Am Ende des Finales deuten Englischhorn und Harfe Bordunklänge an, wie sie in Mahlers Kindheit von Dudelsäcken und Drehleiern zu hören waren. Dass ein Knabe aus jüdischer Familie, der als Berufswunsch „Märtyrer“ geäußert haben soll, sich im katholischen Mähren für katholische Heilige interessierte – möglich.
Unzweifelhaft war aber schon für Gustav Mahler als Komponisten der Auferstehungssinfonie, seiner Zweiten, „die Herrlichkeit Gottes“. „Ein wundervolles, mildes Licht durchdringt uns bis an das Herz“, hatte er dazu notiert. Im Finale der Vierten nähert er sich diesem Licht aus artifizieller Kindersicht, und ihre gutgelaunten Heiligen haben sicher auch ihren Platz in Mahlers „Privatreligion“, wie Jens Malte Fischer die undogmatische Perspektive zwischen Goethes Pantheismus und Naturreligiosität nennt. Dass der Komponist sich in Hamburg nur deswegen katholisch taufen ließ, weil er im antisemitischen Wien sonst nicht den Hauch einer Chance auf seinen Traumjob gehabt hätte, ist bekannt. Dass er aber einen Sinn für die Heldinnen und Helden dieser Konfession hatte, nicht erst für die Goethe´sche „Himmelskönigin“ der Achten, das darf man seinen „Himmlischen Freuden“ auch mal ironiefrei zugestehen.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Programm “Hinauf”, das vom Gürzenich-Orchester Köln unter der Leitung von François-Xavier Roth am 27. August 2023 um 11 Uhr in der Kölner Philharmonie aufgeführt wird, mit der Sopranistin Sioban Stagg und dem Bürgerchor Köln. Illustrationen: Strawinsky, nachkolorierte Fotografie, um 1930 (Gürzenich-Programmheft), Grafik und Textausschnitt der Erstausgabe von “Des Knaben Wunderhorn”, 1806 (Deutsches Textarchiv)