Kategorie-Archiv: Essay

Himmel mit und ohne Menschen

Gebrochene Blicke in die Ewigkeit: Strawinskys „Psalmensinfonie“ und Mahlers Vierte Sinfonie ergänzen einander über eine weite Distanz

Ich habe seit zwanzig Jahren nicht gefastet, und ich tue es nun aus größter geistiger und spiritueller Notwendigkeit heraus“, schreibt Igor Strawinsky am 6. April 1926 aus Nizza an den Freund und Impresario Serge Diaghilev. Er werde zur Beichte gehen. „Serjoscha“ ist tief gerührt und begrüßt den 44-jährigen als Bruder im Schoß der russisch-orthodoxen Kirche, die für Strawinsky kaum noch eine Rolle spielte, seit er in Paris zum shooting star wurde. Doch im späteren Paris der 1920er, Strawinskys geistigem Lebensmittelpunkt, liegt das (Re-)Konvertieren in der Luft, gerade bei Intellektuellen. Im Vorjahr ist Jean Cocteau katholisch geworden, mit dem der Komponist eng zusammenarbeitet. Man liest Jacques Maritain, den katholischen Philosophen auf den Spuren des Thomas von Aquin, dessen Schriften auch in Strawinskys Bibliothek stehen, man ist fasziniert von mittelalterlicher Demut und Anonymität, von neuer Spiritualität.

Für Strawinsky, mutmaßt sein amerikanischer Assistent Robert Craft, kommen noch Schuldgefühle dazu: Er hat mit dem Wissen seiner an Tuberkulose erkrankten Frau Katia eine anhaltende Beziehung mit Vera Sudeikina. Zudem soll es im Frühjahr 1926 ein Erweckungserlebnis gegeben haben. Auf dem ersten, kurzen Flug seines Lebens, von Triest nach Venedig, ist der Komponist einer Pilgergruppe begegnet und ihr zum 700. Geburtstag des Heiligen Antonius nach Padua gefolgt, so will es sein Biograph Eric Walter White von ihm gehört haben, und dort habe es „den wirklichsten Moment meines Lebens“ gegeben. Kein Zweifel besteht jedenfalls daran, dass der Mann tief gläubig ist, der sich Anfang 1930 an die Arbeit macht, eine Psalmensinfonie zu schreiben.

Das ist nicht gerade das Werk, mit dem Auftraggeber Sergej Kussevitzky rechnet, Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra, dessen 50-jähriges Bestehen mit der Novität gefeiert werden soll. Ist es überhaupt eine Sinfonie, dieses Oratorium in drei Sätzen, in denen ein gemischter Chor Verse aus den Psalmen 38 und 39 (nach vorlutherischer Zählung), „Erhöre mein Gebet, Herr“ und „Ich harrte des den Herrn“ sowie den ganzen Psalm 150 („Halleluja“) singt? Auf jeden Fall, so der Komponist, ist es „keine Sinfonie, die auch das Singen von Psalmen umfasst. Im Gegenteil, ich mache das Singen von Psalmen zur Sinfonie.“ Gleichzeitig macht er die Sänger zu Instrumenten des Orchesters. Den lateinischen Text hat er auch gewählt, „um die Stimme vom Ausdruck zu distanzieren.“ Nichts Subjektives!

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Igor Strawinsky ist noch nie ein Subjektivist gewesen, mit Hector Berlioz etwa konnte er überhaupt nichts anfangen, und sein berühmtestes Werk, Le sacre du printemps, ist bei aller Heftigkeit frei von individueller Emotion. Schon zur Uraufführung 1913 erklärte er, warum das Stück ohne Streicher beginnt: Sie seien mit ihrem Crescendo und Diminuendo „zu anregend, zu sehr die menschliche Stimme repräsentierend“. In der „Psalmensinfonie“ von 1930 dürfen keine Geigen und Bratschen mitspielen, dafür aber zwei Klaviere. So entsteht ein herber, kantiger Klang, dem gerade am Anfang eine ebensolche Struktur entspricht: absolut vertikal. Unmelodiös repetierende Bögen von Flöte und Fagott, Schläge dazwischen. Aber so maschinell, wie der Zweivierteltakt eingeführt wird, bleibt er nicht. Das Solocello bereitet mit einem Legato den Einsatz der Altstimmen vor, die freilich, wenn sie „lacrimas meas“ singen, „Schweige nicht zu meinen Tränen“, ungerührt bei ihrem Wechsel zwischen f und e bleiben, während das Orchester unbekümmert Achtel pocht und vom Text nichts zu wissen scheint. Das soll auch so sein. Strawinsky wollte in der Psalmensinfonie den „lyrisch-sentimentalen ,Gefühlen‘ vieler Komponisten“ etwas entgegensetzen, wie er im Gespräch mit Robert Craft erklärte.

Aber warum wird dann die Bitte an Gott „Ne sileas“, „Schweige nicht“, gleich zweimal im Forte gesungen, mit Nachdruck also, während aus den umgebenden Achteln Sechzehntel werden und Dringlichkeit ins Geschehen kommt? Die währt bis zum Schluss des blendend getimten kurzen Satzes, immer gesteigert bis zu einem gleißenden G-Dur. Schon 1923 erklärte Strawinsky zu seinem Oktett, die Form eines „musikalischen Objekts“ sei bestimmt vom Material, 1935 verschärfte er das: „Musik genügt sich selbst. Suche nicht nach irgendetwas hinter dem, was sie schon enthält.“ 1967: „Die Noten selbst sind das Ende der Straße.“ Wenn das so wäre, bräuchten sie keine Hörer mehr.

Das Spannende an der „Psalmensinfonie“ ist gerade ihr Widerspruch zu Strawinskys Vorstellung einer absoluten, objektiven Musik. Der zweite Satz beginnt mit der „objektivsten“ Form nach dem Kanon, einer Fuge, einem wunderschönen Bläsergespinst, aber er gipfelt in einer Katastrophe. Ihr geht ein stilistischer Rückblick voraus, vielleicht die einzige Passage in Strawinskys Œuvre, die an Mahler denken lässt. Zu den Worten „Er stellte meine Füße auf einen Fels…“ hören wir umarmende Harmonik im Sonnenuntergang der Diatonik. Nun könnte es noch schöner werden: „Er gab mir ein neues Lied in meinen Mund…“ Doch es ist blankes Entsetzen, das wir da hören – auf dem Wort „novum“ wird ein Maximum an siebentöniger Dissonanz erreicht. Das kann hier nur programmatisch verstanden werden. Wenn das das neue Lied für Gott ist, dann wird ihm darin mitgeteilt, wie es um seine Welt beschaffen ist.

Dann ist auch klar, warum im „Halleluja“ nicht gejubelt wird. Das „Lobet ihn“ gleicht einem Kondukt, dumpf und schleppend. Danach kippt das Orchester in rasende Motorik, ein hypervirtuos komponierter Rummelplatz, mitreißend, wahlweise kann man verselbstständigtes Material oder hysterisch gute Laune hören, und darin wird das „laudate Dominum“ zu eiligen Silben verkleinert. Es folgen 50 Takte in schwerem langsamem Dreiermetrum, ganz frei vom Jubel, den der Psalm umfasst, statisch, endlos scheinend, fast wie eine Welt vor oder nach den Menschen. Auf jeden Fall: Viel Raum und Zeit, um nachzudenken.

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Dauernd bleibt Mahler zurück, um sich etwas zu notieren. Er kommt beim Spazierengehen kaum seinen Einfällen hinterher, geschweige denn den drei Menschen, mit denen er im Sommer 1899 in der Steiermark Urlaub macht – seine Schwester Justine, der Geiger Arnold Rosé, der ihr nahe ist, und Natalie Bauer-Lechner, die geduldig hofft, dass Gustav Mahler sich doch noch in sie verliebt. Aber der 39-jährige, seit zwei Jahren Direktor der Wiener Hofoper, hat endlich Ideen für seine Vierte Sinfonie, drei Jahre nach der Dritten, und nur jetzt Zeit, das Nötigste festzuhalten. In der vorigen Spielzeit hat er an der Oper 97 Aufführungen dirigiert, dazu acht Konzerte außerhalb, und genauso wird es weitergehen. Außerhalb der Ferien hat Mahler im Schnitt alle drei Tage einen Auftritt, wozu man sich noch ein paar Proben denken darf. Aber Erholung im Urlaub kommt nicht in Frage, wenn sich ein Werk im Kopf abzeichnet.

Die Grundidee ist immerhin entstressend: Für das Finale wird er den Satz nehmen, der 1892 für die Dritte entstand und ihm dann nicht gewaltig genug war, die Vertonung eines fromm-verrückten Gedichts aus Achim von Arnims und Clemens Brentanos Sammlung Des Knaben Wunderhorn. Nun muss der Rest dazu passen, dort hinführen, was Folgen für Proportionen und Instrumentierung hat: Die Sinfonie wird so kurz wie keine andere von Mahler, also immer noch doppelt so lang wie eine von Haydn, aber nicht länger als beide Ecksätze der Dritten zusammen. Und es gibt weder Posaunen noch Tuba, es wird alles so licht und blau wie ein Sommertag… scheinbar jedenfalls und dem zufolge, was Natalie von Gustav dazu erfährt: „Stell dir das ununterschiedene Himmelsblau vor, das schwieriger zu treffen ist als alle wechselnden und kontrastierenden Tinten.“ Das ewige Blau könne aber „plötzlich grauenhaft“ werden, „wie einen am schönsten Tage in einem lichtübergossenen Wald oft ein panischer Schreck überfällt.“

Das lässt an Strauss´sche Tondichtungen denken, ist aber in jeder Hinsicht das Gegenteil: Eine Sinfonie mit klassischen vier Sätzen, ganz ordentlich aufgebaut, mit einem zugänglichen, überschaubaren ersten Thema. Aber das ist ein bisschen schräg, mit einem wienerischen Glissando darin, Kitschgefahr, und ihm gehen drei Takte Flötenachtel mit Schelle voraus. Eine „Narrenschelle“, befand Theodor W. Adorno 1960, „die, ohne es zu sagen, sagt, was ihr nun vernehmt, ist alles nicht wahr.“ Aus seiner Interpretation der Vierten als „Als-ob von der ersten bis zur letzten Note“ hat sich geradezu ein Dogma der Rezeption entwickelt – die Musik gilt vielen als „ironisch“, passend zum Bild von Mahler als dem Komponisten kommender Katastrophen, für den so etwas wie Ungebrochenheit oder, schlimmer noch, gute Laune, nicht in Frage kommt.

Die Vierte zeigt aber besonders im ersten Satz, dass sich auch in echt guter Laune etwas „Gebrochenes“ schaffen lässt, im Vollgefühl der Beherrschung des Metiers, von der Mahler selbst fand, sie habe hier ein neues Niveau erreicht. Das erste Thema mutet nicht nur trivial an, es klingt dazu noch eher wie die zweite Hälfte eines Themas. Mit insgesamt sieben Themen entsteht dann eine so raffinierte wie lichte Konstruktion, in der das wunderbar sehnsüchtige Cellothema (das fünfte) um so emphatischer wirkt, kein bisschen ironisch. Es geht um Spiel wie um Ernst, und aus dem einen kann das andere werden.

In der Durchführung werden unterschiedlichste Motive so gegeneinander geschnitten, dass sich geradezu szenische Perspektivwechsel ergeben, dann verselbstständigt sich das Material zu einer kleinen Walpurgisnacht mit grausigem Höhepunkt im dreifachen forte, dem nach 14 Takten „einer der genialsten Momente überhaupt bei Mahler“ folgt, wie der Dirigent Michael Gielen den Übergang zur Reprise nennt. Ordnungsgemäß kommt das erste Thema wieder zum Einsatz – aber dem fehlen die ersten beiden Takte! So als wären sie ohnehin gerade erst gespielt worden, dann kam etwas dazwischen, und nun geht´s weiter. So kann man „Reprise“ auch definieren. Das ist Dekonstruktion innerhalb der Konstruktion. „Es scheint, als ob hier die bedeutende Kombinationsgabe des Tonsetzers lediglich um ihrer selbst willen ihre Kräfte versprühe“, zürnte der Uraufführungskritiker Theodor Kroyer 1901.

Was ja auch schön sein kann, wenn auch eher im Sinne des Neoklassizisten Strawinsky. Mahlers Sinfonie hat aber ein ungeschriebenes Programm, und man hört es sogar gleich anfangs. Die Schellentakte sind kein Narrensignet, sondern vorwegnehmendes Zitat aus dem Finale, wo dieser Klang mehrfach eingesetzt wird zur Ausmalung der „himmlischen Freuden“. „Diese Metallinstrumente“, sagte dazu der Dirigent (und Archäologe) Guiseppe Sinopoli, „waren immer ein Ausdruck der Freude, auch in den alten Kulturen, wenn wir zum Beispiel an Mesopotamien denken, oder an Ägypten oder Griechenland.“ Mahler hat den Himmel, der sich im „Wunderhorn“-Gedicht so prall entfaltet mit lauter Heiligen, die Lämmer und Ochsen schlachten und Fische fangen, mit brotbackenden Engeln und einer lachenden St. Ursula, gleichsam wie ein Kind vertont, mit höchster Kunst Einfachheit geschaffen und zum Gesang angemerkt: „mit kindlich heiterem Ausdruck; durchaus ohne Parodie!“

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Kindheit war für Mahler eine große Welt. Die Spielleute und Klezmorim, die er in Iglau gehört hatte, tauchen überall in seiner Musik auf, auch die Militärkapellen; zur Sphäre des „Trivialen“ musste er sich nicht herablassen. Der klezmernahen Solovioline in seiner Achten geht die voraus, die „wie eine Fidel“ im diabolischen Scherzo der Vierten zu hören ist und wie eine Trösterin nach einer dramatischen Entwicklung im langsamen Satz erscheint. Am Ende des Finales deuten Englischhorn und Harfe Bordunklänge an, wie sie in Mahlers Kindheit von Dudelsäcken und Drehleiern zu hören waren. Dass ein Knabe aus jüdischer Familie, der als Berufswunsch „Märtyrer“ geäußert haben soll, sich im katholischen Mähren für katholische Heilige interessierte – möglich.

Unzweifelhaft war aber schon für Gustav Mahler als Komponisten der Auferstehungssinfonie, seiner Zweiten, „die Herrlichkeit Gottes“. „Ein wundervolles, mildes Licht durchdringt uns bis an das Herz“, hatte er dazu notiert. Im Finale der Vierten nähert er sich diesem Licht aus artifizieller Kindersicht, und ihre gutgelaunten Heiligen haben sicher auch ihren Platz in Mahlers „Privatreligion“, wie Jens Malte Fischer die undogmatische Perspektive zwischen Goethes Pantheismus und Naturreligiosität nennt. Dass der Komponist sich in Hamburg nur deswegen katholisch taufen ließ, weil er im antisemitischen Wien sonst nicht den Hauch einer Chance auf seinen Traumjob gehabt hätte, ist bekannt. Dass er aber einen Sinn für die Heldinnen und Helden dieser Konfession hatte, nicht erst für die Goethe´sche „Himmelskönigin“ der Achten, das darf man seinen „Himmlischen Freuden“ auch mal ironiefrei zugestehen.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Programm “Hinauf”, das vom Gürzenich-Orchester Köln unter der Leitung von François-Xavier Roth  am 27. August 2023 um 11 Uhr in der Kölner Philharmonie aufgeführt wird, mit der Sopranistin Sioban Stagg und dem Bürgerchor Köln. Illustrationen: Strawinsky, nachkolorierte Fotografie, um 1930 (Gürzenich-Programmheft), Grafik und Textausschnitt der Erstausgabe von “Des Knaben Wunderhorn”, 1806 (Deutsches Textarchiv)

Was ist eigentlich »modern«?

Ein Streifzug durch Umbruchsmomente, Epochen, Ideologien, Wörterbücher und Partituren, bei dem ein vielschichtiger Begriff und eine vielschichtige Kunst einander beleuchten

Eine Bar etwas außerhalb von Los Angeles, Mitte der Sechziger, sehr cool, alle tragen Sonnenbrillen am frühen Abend, die meisten sind schon angezecht. Da bricht aus einer Art Jukebox ein wildes Pfeifen und Keuchen los. Sofort sind alle still. »Was ist los?«, flüstert eine, die zum ersten Mal hier ist. »Das ist von Stockhausen«, erklärt der Barkeeper. »Die Leute, die früh hier sind, stehen mehr auf den Radio-Köln-Sound …« Es könnte »Mikrophonie I« sein, im Juni 1965 vom WDR ausgestrahlt, was Thomas Pynchon in seinem 1966er Romanerstling »Die Versteigerung von Nr. 49« in der (fiktiven) Elektronikbar Scope erklingen lässt: Ein Tamtam wird mit diversen Gegenständen in Schwingung versetzt, zugleich mit Mikros wie mit Stethoskopen abgehorcht, deren Signale mit Filtern und Reglern transformiert werden. Screetch…

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Noch immer sind das Klänge, mit denen man Hörer aus der Fassung bringen kann – moderne Klänge, dürfte man sagen, wäre der Begriff in der Musik nicht schon ab etwa 1965 »obsolet geworden«, wie das Lexikon »Musik in Geschichte und Gegenwart« erklärt. Tatsächlich wäre jeder heute lebende Komponist ziemlich befremdet, würde man ein neues Stück »moderne Musik« nennen. Aber rundherum ist das Wort längst nicht aus der Mode, und hilfreich bleibt es auch, wenn man nach Umbruchsmomenten in der Musik sucht, in denen etwas ganz Neues Folgen hatte, ohne dass immer gleich von »Fortschritt« gesprochen wurde. »Obsolet«, veraltet ist an »modern« allerdings die Ideologisierung des »Progressiven« in der Musik, die in den 1960ern ihren Gipfel erreichte.

Da hatten sich Lager gebildet, Arroganz war im Spiel und Kampf um Wirkungsmacht. Das Schöne an Pynchons Romanszene ist auch, dass sie davon gar nichts weiß. Diese kalifornischen Hipsters, die auf Stockhausen abfahren, haben garantiert nicht Adorno gelesen. Sie mögen diese Musik, weil sie krass und technisch auf der Spitze der Zeit ist, auf der sie sich selbst gefallen. Sie hören den »Köln-Sound« unbekümmert um den Diskurs dahinter, sie eignen ihn sich zur Distinktion ihrer Partykultur an. Sie sind uns nahe, weil wir in einer Diversität von Musik leben, in der die Lagergräben nur noch Schatten sind.

Von Riesen und Zwergen

Aber was ist »modern«? Das Wort ist mindestens 1500 Jahre alt, wie sich dank moderner Recherchemittel in Sekunden herausfinden lässt. In seiner 32. Epistel stellt im 5. Jahrhundert Papst Gelasius in Rom den »Regeln der Väter« die »Ermahnungen aus jüngster Zeit« zur Seite, »admonitiones modernas«, abgeleitet vom Adverb »modo« für »gerade erst«. 700 Jahre später prägt Bernhard von Chartres, ein Gelehrter an der Domschule von Chartres, wo der Bau der schönen Kathedrale erst noch bevorsteht, den Satz: »Wir sind Zwerge auf den Schultern von Riesen sitzend, um mehr und weiter als sie sehen zu können« – wobei er mit den Zwergen die »moderni« meint, die zeitgenössischen Gelehrten gegenüber denen der Antike, in deren spätester Sprache Latein er das mitteilt. Ein Schüler schreibt es 1159 nieder.

Die Bewunderung der Kultur der Antike führt um 1600 zur Erfindung der Oper in Italien (ursprünglich ein Versuch, das antike Theater zu rekonstruieren) und am Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich zu einem Kunststreit, in dem ausdrücklich »die Modernen« eine Partei bilden. Anlässlich der Genesung des Sonnenkönigs hat es 1687 Charles Perrault in einem Gedicht gewagt, die »Riesen« kleiner zu machen: Die »Anciens«, die Menschen der Antike, seien »Menschen wie wir«. Man müsse nicht vor ihnen in die Knie gehen, das Zeitalter Louis’ XIV. lasse sich ohne weiteres dem des Augustus an die Seite stellen. Darüber regen sich Kollegen auf, die, wie der Fabeldichter Jean de la Fontaine, mit antiken Vorlagen arbeiten und auch fürchten, es könne auf eine katholische Literatur hinauslaufen – immerhin ist die Antike »heidnisch«.

Da sich hier Fragen der Autonomie der Kunst mit politischen verbinden, findet die »Querelle des Anciens et des Modernes« auch in England und Deutschland Beachtung. Im Alltag gebildeter Deutscher landet aber nicht nur darum ein französisches Adjektiv: »moderne« steht 1736 als Neuzugang in Nehrings »Historisch-Politisch-Juristischem Lexicon«, das auch den lateinischen Paten vermerkt: »neu, neulich, nach der jetzigen Mode, Façon, Dracht, Manier, Art, Weise, Gewohnheit …«

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Vom lediglich »Modischen« ist das nicht weit entfernt, und hundert Jahre später nimmt ein Musikwissenschaftler eine Abgrenzung vor. Der bereits geläufige Ausdruck »moderne Musik«, findet Gustav Schilling 1837 im »Universal-Lexicon der Tonkunst«, müsse sich »an gewisse Principien knüpfen«, auch chronologisch: Modern könne nicht »die Musik seit Christus« meinen. Die »Epoche des Contrapuncts« zählt Schilling nun zum »Antiken«; »modern« sei erst die Kunst danach und auch nur bei »höherer Bedeutung«. Da ist er sich einig mit Robert Schumann, der 1840 vom »Ideal einer modernen Sinfonie« spricht, die nach Beethoven eine »neue Norm« brauche.

Fragwürdig, flüchtig, fantastisch

Für Richard Wagner ist »moderne Kunst« dann schon 1849 etwas Fragwürdiges. Ihr »moralischer Zweck« sei der Gelderwerb. Hinter den Zeilen aus »Die Kunst und die Revolution« steckt Wagners zutiefst antisemitische Positionierung gegenüber seinem großen Förderer Giacomo Meyerbeer, die 1850 in »Das Judenthum in der Musik« offenkundig wird: »Wir müssen die Periode des Judenthums in der modernen Musik geschichtlich als die der vollendeten Unproductivität, der verkommenden Stabilität bezeichnen«, schreibt Wagner da, ehe er Mendelssohn eine »ausdrucksunfähige moderne Sprache« attestiert und dem überaus erfolgreichen Meyerbeer die »modern pikante Aussprache« von »Trivialitäten« zur Last legt. Stilkritik ist hier verklebt mit den antisemitischen Superioritätsfantasien eines emporstrebenden Künstlers.

Wagners Bewunderer Baudelaire hatte von »Modernität« einen anderen Begriff. Für ihn war sie »das Flüchtige, das Transitorische, das Ungewisse, die Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unveränderliche ist«, wie er 1863 schrieb – nicht über Musik, sondern über zeitgenössische Kunst. In seinem großen Essay zum »Tannhäuser« verwendet Baudelaire den Begriff nicht. Ganz sachlich setzt Hector Berlioz ihn in seiner »Großen Abhandlung moderner Instrumentation und Orchestrierung« ein, 1843 erschienen und bis heute ein Grundlagenwerk, so klar geschrieben, dass einem die Klangmöglichkeiten, die er auf rund 400 Seiten in allen Facetten beschreibt, tatsächlich »modern« vorkommen. Das fand schon Richard Strauss, der 1905 eine erweiterte Fassung erscheinen ließ.

Für Berlioz fängt die Orchestermoderne mit Mozart an – also etwa mit der Zeit der Französischen Revolution, in der Jürgen Habermas den »philosophischen Diskurs der Moderne« beginnen sieht – und reicht bis zu Berlioz selbst: bis zu dem, was wir avantgardistische Spieltechniken nennen würden (auf seine Zeit bezogen), etwa das col legno der Violinen in der »Symphonie fantastique«, die zum Hexensabbat mit dem Holz ihrer Bögen auf die Saiten schlagen. Diese Sinfonie ist eine jener Kompositionen, die, egal aus welcher Epoche, nie ihre Treibkraft von Durchbruch, Aufbruch, neuer Freiheit verlieren. Im Finale der »Fantastique« könnte man auch an eine rappelvolle Straßenkreuzung von heute denken, neben der ein Avantgardist am Tablet sein Klangmaterial durchcheckt.

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Das Werk trägt immer noch die Aktualität seines Entstehens in sich, von einem hellwachen Zeitgenossen komponiert im Vorfeld der Julirevolution 1830 und gleich danach uraufgeführt. Andere radikale Aufbrüche sind durchaus systemkonform: Monteverdis »Orfeo« war zunächst ein Privatvergnügen in Mantuas Herzogspalast, wo am Tag vor der konzertanten Uraufführung im Februar 1607 ein Hofbeamter notierte: »Alle Darsteller werden musikalisch sprechen« – nie da gewesen im Theater! Wie sie das aber tun, mit welchen Linien, zu welchen Harmonien der glückliche Orfeo abstürzt, als er vom Tod der Geliebten erfährt, wie nach einem Jahrhundert mehrstimmiger Madrigale ein einzelner Verzweifelter seine Stimme erhebt – das hat bis heute mehr Unmittelbarkeit als viele Arien, die dieser Erfindung der Oper folgten.

Fast schon ein Gemeinplatz ist die Alterungsresistenz des »Sacre du Printemps«. Auch wenn, wie in aller Kunst, zu erkennen ist, welche Anreger eine Rolle spielten, bleiben Strawinskys Neukonstruieren von Rhythmus und Klang und sein souveränes Beiseitelassen der so lange fast naturgesetzhaft verbindlichen Diatonik bis heute herausfordernd und aufregend.

Zwei Haken und ein Ausweg

»Absolut modern« könnte man Werke wie diese drei mit einer häufig zitierten Zeile von Arthur Rimbaud nennen, 1873 geschrieben: »Il faut être absolument moderne«, »Man muss absolut modern sein«, heißt es in »Eine Zeit in der Hölle«. Aber das hat zwei Haken. Zum einen ist Modernität, egal wie man sie definiert, kein Synonym für Qualität: Wo würde für Bach das Adjektiv »modern« naheliegen? Zum andern hat Rimbaud den Satz gerade nicht in dem Sinn gemeint, in dem er so oft zitiert wird. Mit »modern«, das hat der Übersetzer Tim Trzaskalik gezeigt, meint Rimbaud das Gegenteil von Aufbruchsgeist. An anderer Stelle nämlich findet der Dichter »die Feierlichkeiten (…) der modernen Dichtung belanglos«. Oder: »Nichts ist eitel; heran an die Wissenschaft, und voran!, so schreit’s der moderne Prediger, also Allewelt.« Die Moderne ist für den 19-jährigen Arthur Rimbaud nervtötender Mainstream, von dem er sich zynisch distanziert.

Damit ist er nah bei einem Deutschen, der fast zeitgleich, 1874, der »Moderne« seiner Zeit nichts abgewinnen kann. »Der moderne Mensch«, schreibt dieser Philosoph, leide »an einer geschwächten Persönlichkeit«, weil er zu viel Geschichtsbewusstsein habe: »Der historische Sinn, wenn er ungebändigt waltet und alle seine Consequenzen zieht, entwurzelt die Zukunft, weil er (…) den bestehenden Dingen ihre Atmosphäre nimmt, in der sie allein leben können.« Unschwer ist als Autor Friedrich Nietzsche zu erraten, der in »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« letztlich den enorm gewachsenen Einfluss der Wissenschaften verantwortlich macht für eine innere Leere. Einen Ausweg sieht er in einer Kunst, die »das moderne Bewusstsein dezentrieren und für archaische Erfahrungen öffnen« wird, so Habermas im »Philosophischen Diskurs der Moderne«. Für den jungen Nietzsche ist noch Wagner die große Hoffnung, für den reifen Nietzsche nicht mehr. Aber hätte er den »Sacre« geliebt?

Claude Debussy nannte dieses Werk in respektvoller Ironie »barbarische Musik mit allem Komfort der Moderne«, also auf der Höhe der musikalischen Mittel der Zeit. Der Begriff »modern« meint auch da noch nicht »Avantgarde«. Er schwankt in den Jahren bis 1918 zwischen »zeitgenössisch«, »aktuell« und »traditionsfern«. Der Kritiker Oscar Bie lobt das Libretto der »Salome« von Richard Strauss 1905 als »Muster eines modernen Operntextes«, weil keine Verse mehr gesungen werden wie auch schon 1902 in Debussys »Pelléas et Mélisande« – beides Opern, die heute für den Aufbruch ins 20. Jahrhundert stehen. Man liest aber auch vom »Schrecken und Grausen, das in den modernen Partituren webt«, und zwar bezogen auf die durchaus noch spätromantische Musiksprache, mit der die Komponistin Ethel Smyth 1906 in ihrer Oper »The Wreckers« arbeitet. Wer noch weiter ging, war „ultramodern“.

Unfassbare Vielfalt, reduziert

Wie »modern« noch 1917 verstanden werden kann, zeigt ein Satz in Hermann Hesses Roman »Demian«: »Der Musiker spielte [auf einer Orgel, Anm.] etwas Modernes, es konnte von Reger sein.« Unwillkürlich stutzen wir. Zwar war Max Reger, 1916 gestorben, noch ein Zeitgenosse Hesses, aber einer, der dezidiert Traditionen fortschrieb, mit J. S. Bach als zentraler Gestalt. In den uns geläufigen Begriff einer musikalischen Moderne ab 1900 scheint er nicht zu passen. Ganz gleich, wo man deren Ende vermutet – es besteht Einigkeit darüber, dass in den Jahren 1900 bis mindestens 1914 ein Aufbruch, eine Innovationslust zu erleben sind wie nie zuvor und vielleicht auch nicht danach, was die Kongruenz von Diversität und Substanz betrifft. Debussy, Ravel, Strawinsky, Skrjabin, Szymanowski, Schönberg, Berg, Webern, Mahler, Strauss, Schreker, Bartók, Janáček, Ives – es ist unfassbar, welche Vielfalt neuer Musiksprachen sich in jenen Jahren ballte.

Warum aber werden Komponisten wie Reger, Fauré, Elgar, Smyth, Sibelius, Nielsen in diesem Kontext kaum je genannt? Nicht »modern« genug? Die Vielfalt wird in der Rückschau gern reduziert, was im deutschen Sprachraum besonders drastisch geschah. Als maßgeblich wurde dort im öffentlichen Diskurs seit Theodor W. Adornos einflussreicher »Philosophie der neuen Musik« (1949) nur die »Zweite Wiener Schule« anerkannt, also Schönberg und seine Schüler und der Abschied von der Tonalität. Strauss’ »Rosenkavalier« galt nach »Salome« und »Elektra« bereits als Rückfall, die Franzosen liefen als »Impressionisten« gleichsam außer Konkurrenz, Elgar und Sibelius schrumpften zu Lokalgrößen, selbst der »Sacre« galt Adorno nur als »Virtuosenstück der Regression«: »Die ästhetischen Nerven zittern danach, in die Steinzeit zu regredieren.«

Allein Schönbergs »Schule«, schrieb Adorno, werde »den gegenwärtigen objektiven Möglichkeiten des musikalischen Materials gerecht«. Die maßlose Arroganz dieser Position ist auch eine Reaktion auf das Verbot »entarteter« Musik im »Dritten Reich«, das dem organisierten Massenmord an Juden vorausging (vor dem sich etwa Schönberg und Adorno in die USA retten konnten). Dieser Hintergrund verlieh der Ideologisierung einer durch Progressivität definierten Moderne nach 1945 eine enorme Wirkung, unabhängig vom Desinteresse eines größeren Publikums. Sie traf auch Werke jener überlebenden oder ermordeten jüdischen Komponisten, die nicht den Weg zum Serialismus gegangen waren: Goldschmidt, Laks, Schreker, Krása, Ullmann …

Und sie wurde übernommen von einem Kreis enorm begabter Komponisten, dessen brillantes Haupt, Pierre Boulez, sich als Kreuzritter mit einer Mission verstand – der Musikbetrieb begrüßte die Avantgarde ja nicht gleich mit offenen Armen. »Jeder Musiker, der die Notwendigkeit der zwölftönigen Sprache nicht erkennt, ist unnötig«, erklärte Boulez 1952. »Sein ganzes Werk platziert sich damit jenseits der Notwendigkeiten seiner Epoche.« Dabei ging ihm Schönberg gar nicht weit genug; die Aufhebung der Hierarchie der Töne müsse auf sämtliche Parameter angewandt und subjektiven Emotionen entzogen werden, fand Boulez. Den Popmusikern, deren Publikum exponentiell wuchs, konnte das egal sein, aber nicht den Komponisten, nicht einmal den amerikanischen.boulez im auto

»Als ich studierte«, sagte der 1936 geborene Steve Reich im Gespräch mit dem Autor, »gab es zwei Möglichkeiten, Musik zu schreiben. So wie Boulez und Stockhausen oder so wie Cage. Für alles andere wurde man ausgelacht, ins Gesicht oder hinter dem Rücken. Es war wie eine Wand.« Reich durchbrach diese Wand mit seiner Minimal Music, unter Verwendung von Metren und tonalen Zentren, in denen die ganze Energie seiner Heimatstadt New York vibriert – absolut modern, könnte man sagen. Das war übrigens etwa zu der Zeit, in der Pynchons Barbesucher Stockhausen ganz anders hörten, als das geschichtsphilosophisch vorgesehen war. Aus Spaß.

Unendlich viel ist seitdem passiert. Die Vielfalt der jetzigen Musiksprachen, alle eingeschlossen, von ethnischen über Jazz und Rock bis zu jeglicher Formation, die sich aufs Podium und ins Netz stellt, ist vielleicht so groß wie die vom Gregorianischen Gesang bis zu Stockhausens »Mikrophonie I« und ein Wort wie »modern« vielleicht doch etwas zu klein dafür. Seine Definition im aktuellen Online-Duden geht über die von 1736 kaum hinaus; der musikgeschichtliche Horizont reicht dort aber immerhin bis zum 19. Jahrhundert. Als Beispiel für den Einsatz des Wortes liest man: »modern (im modernen Stil) komponieren«.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im Magazin der Elbphilharmonie im Januar 2023, Ausgabe “Modern”, S. 4-9, und wurde für diese Website neu illustriert. Das Foto einer Aufführung von Stockhausens “Mikrophonie I” ist ein Screenshot aus dem gleichnamigen Film von 1966. Die Seite aus Johann Christoph Nehrings Historisch-Politisch-Juristischem Lexicon von 1736 findet sich online an der Uni Freiburg. Wie die orchestralen Innovationen von Hector Berlioz auf viele Zeitgenossen wirkten, zeigt der Kupferstich aus der Wiener Theaterzeitung, 1846. Pierre Boulez am Steuer der Moderne, in Darmstadt: ein Foto aus den 1960ern (Bildarchiv Internationales Musikinstitut Darmstadt (IMD), Fotograf: Seppo Heikinheimo).

Eine Wahrnehmende

Die Musik von Younghi Pagh-Paan für Flöte, Gitarre, Sopran führt durch ein ganzes Leben zwischen Identitätssuche und Offenheit

Was ist das für ein Fluss, an dessen Ufer diese Flöte spielt? Der in ihren Tönen funkelt, sprudelt, über dessen Fließen die Töne atmen, Gedanken werden oder Vögel oder Blicke? Freiburg in allen Ehren, aber das brave badische Flüsschen, das mit dem Titel Dreisam-Nore geehrt wird – Nore ist das koreanische Wort für Lied -, verweist eher auf den Entstehungsort als auf den Horizont dieser Musik. An diesem Horizont erscheint eine andere Stadt, 8500 Kilometer weiter gen Sonnenaufgang und 70 Jahre zurück, Kindheit der Komponistin: Cheongju im Süden Koreas, mit einem Fluss, einem Markt. Geruch von Tieren, Gewürzen, Klänge von Spielleuten, bei denen Ton und Geräusch zusammengehören.

An diesem Horizont erscheint aber auch, dem Europäer näher, ein Stück aus dem Jahr 1913, ebenfalls für Soloflöte, Syrinx von Claude Debussy, und er fragt sich, wie es zugeht, dass Younghi Pagh-Paan 1975 ein Stück schreiben kann, das ebenso frei und schön, so selbstverständlich und natürlich wirkt und dabei auf der Höhe seiner Zeit ist. Flatterzunge, Pizzicato und Glissando mit den Lippen, Klappengeräusch mit Ton, nur Luft ohne Ton, vierteltönige Anhebungen und Senkungen, all das gibt es nicht bei Debussy. Aus all dem hätte freilich auch eine Fleißarbeit werden können, in der jemand den Fundus der westlichen Avantgarde durchbuchstabiert. Stattdessen: Eine Befreiung.

Die fand in der Stadt an der Dreisam statt, in der es der DAAD-Stipendiatin zuerst den Atem verschlagen hatte, wortwörtlich. Als 29-jährige sah sie sich umgeben von Kommilitonen Anfang 20, Hochbegabten wie Wolfgang Rihm, neben denen sie sich, nach immerhin sechs Studienjahren in Seoul, vorkam wie „nichts und nichts“. Younghi bekam Atemnot, und es war auch die Arbeit an dieser Musik für die atmende Flöte, die ihr half – und die Entdeckung, die Entwicklung einer Identität, zu der das Eigene und das Fremde gehören, bis heute. Und es ist auch eine weibliche Identität. Die Frauenstimme, für die Younghi Pagh-Paan gern und überwiegend schreibt, spricht auch für sie selbst.

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Aber nicht unbedingt von ihr selbst. Flammenzeichen, 1983 zur Erinnerung an die Hinrichtung von sieben Widerständlern der „Weißen Rose“ komponiert,  lässt sich hören wie ein fiktiver Monolog von Sophie Scholl, wobei die Textfragmente unterschiedliche Quellen haben – Korrespondenz, Flugblätter, Gerichtsprotokolle, die Bibel. In Abbrüchen des Gesangs und der Sprache , Zerfetzungen, Reduktion auf Konsonanten wird zu Beginn der ungeheure Druck spürbar, gegen den die hier sich Äußernde angeht. Indem manche Worte immer wieder anders gesprochen, gesungen, geflüstert werden, entdecken wir die ganze Kraft, mit der sich Sophie Scholl 1943 vor dem Volksgerichtshof zum Widerstand bekannte: „Einer muss ja doch mal schließlich damit anfangen.“

Den Weg durch den Monolog bis hin zum Tod, den der Abbruch des Wortes „Flugblätter“ vor der letzten Silbe markiert, ist akzentuiert durch kleines Schlagzeug. Diese Kombination geht zurück auf den Pansori, einen volkstümlichen epischen Gesang Koreas, bei dem der Sänger von einem Trommler begleitet wird. Die Sängerin in MA-AM von 1990 hat ihrerseits Claves dabei, Klanghölzer, knapp und sparsam eingesetzt zu einer Liebesklage von archaischer Intensität. Nichts Gebrochenes hier, sondern komprimierter Ausdruck der Trauer um einen Geliebten. Es ist eine jener Opernszenen ohne Oper, wie man sie auch in Schönbergs 2. Streichquartett findet, in der „Litanei“.

Wieder drei Jahre später macht die Komponistin Rast in einem alten Kloster. Anlass ist das Gedenken an John Cage, der 1992 mit 79 Jahren starb, Vorlage ist ein fast 1000 Jahre altes chinesisches Gedicht, das Günter Eich übersetzt hat. Der Komponistin schwebt eine „in Ruhe fließende Klanglichkeit“ vor. Es ist manchmal gut, die Kommentare von Komponisten erst nach dem Hören zu lesen wie der Autor, dem das Stück, mit geschlossenen Augen und Kopfhörern erlebt, überaus aufregend vorkam. Gleichsam vom Ton der Bassflöte aus hörend, sah er die Musik zugleich auf sich zukommen, wie jemand, der in der Dämmerung durch einen Blättertunnel, einen dicht umwaldeten Pfad entlang geht, voller Unberechenbarkeiten – Tiere huschen dicht vorbei, man erschrickt vor einer Fledermaus; „kurz mit Stimme einatmen“ klingt wie ein Schreckatmen.

Diese Spielanweisung ist eine von knapp zwanzig, die seit Dreisam-Nore dazugekommen sind in Pagh-Paans Umgang mit der Flöte. Pfeifen zum Ton, multiphonics, weites und enges Vibrato, Konsonanten, die während des Spiels ins Mundstück geflüstert werden – und das alles in einer extrem differenzierten, quasi sekündlich wechselnden Dynamik. Kein Wunder, dass aus gerade mal vierzehn Takten in knapp vier Minuten etwas Aufregendes werden kann, unabsichtlich im tieferen Sinne, ohne Absicht, ganz im Sinne von John Cage. Die Komponistin selbst scheint die Musik auf sich zukommen zu lassen.

Damit ist man bei einer besonderen Qualität ihrer Musik, ihrer kreativen Position. Pagh-Paan ist auch eine Wahrnehmende. Die Worte, Situationen, Naturphänomene, Gestalten, Gedanken, auf die sie sich einlässt, werden vom Werk nicht vereinnahmt, sondern darin erkundet. „Männer nehmen die Welt nicht wahr, weil sie selber glauben, sie seien die Welt“, so lautet ein Satz von Virginia Woolf, der davon nicht unerheblicher wird, dass er zu ihren meistzitierten zählt. Egozentrik ist zwar weder Männern vorbehalten, noch trübt sie jedem von ihnen den Blick, aber sie sitzt tief in den westlichen Gesellschaften, und mit Pagh-Paans Musik öffnet sich eine andere Perspektive.

In Hang-Sang II von 1994 geraten wir ganz beiläufig in einen offenen Raum, so transparent wie kohärent. Was Altflöte und Gitarre spielen (wozu perkussive Elemente auf dem Korpus des Zupfinstruments kommen), ist mit solcher Genauigkeit und Sensibilität gewoben, dass die enorme Handwerkskunst in lichte Klarheit umschlägt. Wir lernen ein ruhiges Sehen zwischen ihren Zeichen, unmerklich geführt von Verbindungen. Ein Gitarrenarpeggio etwa (Takt 31 Track 4 ab 3:10) ) endet leise auf dem E, das dann die Flöte über ein Es erreicht – und so etwas erschließt sich nicht erst beim analysierenden Lesen, sondern unmittelbar, ohne dabei doch zu wichtig zu werden. Diese Musik bleibt so offen, dass beim Hören auch zwei Glockenschläge einer nahen Kirchturmuhr – der Autor saß am offenen Fenster – ohne weiteres sich mit ihr verbanden.

Rose Ausländer scheint ihre späte Lyrik für diese Komponistin geschrieben zu haben: „wandelbar / Orte wandelbar / in der Zeit / die alles namhaft macht“, das ist nahe der daoistischen Vorstellung von der Zeit als etwas Stillstehendem, durch das wir ziehen. Ausgerechnet im Medium der Musik, die nur hörbar werden kann, indem sie sich in der Zeit bewegt, ist es möglich, Zeitstille entstehen zu lassen. Es gelingt in Noch…III, weil die Komponistin jedes Wort als Zeichen, als Symbol erkundet. Dieses Gedicht ist kein Redefluss, die Worte stehen einzeln da, in einer Weite, in die mitunter die Gitarre ganz allein aufbricht. Ebenso kann die Gitarre als Gegenüber das Wort „Erde“ auf die einfachste Weise unterstreichen: mit ihrem tiefsten D, durch einen Triller verbreitert.

Aber wie in aller Welt findet man Töne für das Wurzelwerk von Seerosen, und warum? Ein Sprung von mehr als zwanzig Jahren führt uns von Noch…III ins Jahr 2018, zu einer Künstlerin, einer nun 72-jährigen, die erstmals von ihren Gefühlen als junge Frau spricht – im Kommentar zu Seerosen – Wurzelwerke. „Die Blüte war zu schön für mich“, schreibt Younghi Pagh-Paan. „Ich hatte mich selbst fast mit dem Wurzelwerk identifiziert: Es hat keine Gelegenheit, seine ganze Gestalt vor dem Sonnenschein zeigen zu dürfen. Das war sein Schicksal, wie auch viele Frauen in solch einer Situation leben mussten.“

Die zehn Minuten für die koreanische Zither Geomungo, auch auf der Gitarre zu spielen, sind Natur so, wie Claude Debussy sie als „Entwicklungslehre“ empfahl, „mit dem Herzen gesehen“, aber nicht als Folie für ein Bekenntnis. Sparsame Töne, immer wieder auf die beiden tiefen leeren Saiten E und A zurückfallend, Spielarten vom Akzent über Bindungen und Glissandi bis zu Tremoli – es ist, als würde man einem nachdenkenden Sehen zuhören. Man sieht durchaus die Ranken in schattigem Wasser, aber da ist auch so etwas wie eine sinnliche Abstraktion, die Geist und Seele öffnet. Und vielleicht auch eine Blüte.

Zwei Jahre später folgt dann doch eine Art Bekenntnis, ein „Ich“. Zunächst einmal ist es das Subjekt im Gedicht „mein herz“ des österreichischen Dichters HC (Hans Carl) Artmann. Seiner wunderbaren ersten Zeile „mein herz ist das lächelnde kleid eines nie erratenen gedankens“ folgen Metaphern, die an das europäische Fasziniertsein durch fernöstliche Ästhetik um 1900 denken lassen – ein Bogen aus Elfenbein, leuchtend gelbes Wasser aus einer Smaragdschale. Da hinein intarsiert die Komponistin die koreanischen Worte „ne ma-um“ für „mein Herz“. Mit ihnen schreibt sie das Stück auch werkbiografisch auf sich zu, denn in Rhythmik und Linienführung greift sie die Liebesklage von 1990 auf, die ebenfalls mit „ne ma-am“ (dieselbe Bedeutung: „mein Herz“) beginnt.

Während die aber expressiv, zerrissen, fast etwas wütend war, entfaltet die Frauenstimme nun große Bögen in Freiheit und Schönheit, mit – in erster Version – einer Viola als durchaus eigensinnigem Begleiter, aus dem in zweiter Version mit Gitarre, dem Instrument entsprechend, ein zurückhaltenderer wird, eine Art Zeichner, der um den Flug der Stimme herum sparsam die Landschaft des Herzens schraffiert und aquarelliert, der aber auch reagiert und hilft. Von allen Stücken Pagh-Paans ist Mein Herz vielleicht das melodischste, was umso deutlicher wird, wenn am Ende die Worte „mein Herz“ nur geflüstert werden – das hat auch etwas Abschließendes nach dem großen Leuchten.

Der Titel des jüngsten Werkes wegen der Leere, 2022, mag einen da zuerst erschrecken. Es wird aber kein entleertes Herz beklagt. Es geht um zwei Betrachtungen von Laozi, die dem Dao gelten, dem Schöpfungsprinzip, aus dem in der chinesischen Philosophie die Welt entspringt. Eine Leere, die gefüllt wird wie die eines Wagens, eines Kruges, eines Hauses, oder auch nie gefüllt werden kann wie die eines Abgrunds, der gerade deswegen „urahn von allem“ ist. Zum Ermessen dieser Gedanken tun sich drei Akteure eng zusammen, Flöte, Sopran, Gitarre. Keine Seelenbögen hier, kein sinnender Blick auf die Welt, die Töne bilden eher ein Geländer zum Festhalten in ungewisser Zwischenwelt. Der Ambitus erstreckt sich über mehr als fünf Oktaven, final zusammengefasst in einem D-Dur-Akkord. Doch bei seiner statischen „Leere“ bleibt es nicht. Mit letztem Atem neigt die Sopranistin ihr A zum As. Da keimt schon Neues.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für die CD “Listening with the heart – Mit dem Herzen hören”, erschienen bei Kairos im November 2022. Das Foto der Komponistin machte Min Kyu Park 2021. Das Booklet mit der englischen Übersetzung von Laurie Schwarz ist hier zu finden.