Kategorie-Archiv: Essay

Das Leuchten ferner Worte

Wie Carl Orff in „Carmina Burana“ das Mittelalter zu uns holt

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Sie erinnern sich noch an den blinden Bibliothekar, der im Jahr 1327 sechs Mönche vergiftete? Der so lange sein Unwesen trieb, bis seine labyrinthische Bibliothek samt Abtei in Flammen aufging? So endet Umberto Ecos Roman Der Name der Rose, 1980 erschienen, 1986 verfilmt, ein Welterfolg. Der Bibliothekar war zum Mörder geworden, weil er die Klosterbrüder von der Lektüre eines Buches abhalten wollte, dessen positive Einstellung zum Lachen und zur Freude er für gefährlich hielt. Während es dieses Zweite Buch der Poetik von Aristoteles wohl nie gegeben hat, existierte zur selben Zeit, im späten Mittelalter, eine Handschrift von solcher Brisanz, voller Lebensfreude, Gesellschaftskritik, Ironie und Erotik, dass wohl mehr als sechs Mönche dafür ihr Leben riskiert hätten: Der Codex Buranus, verwahrt im Kloster Benediktbeuern, entstanden um 1230, zum Glück nicht verbrannt.

Diese Sammlung von mehr als 200 Texten und Liedern gilt als eine der wichtigsten Quellen für das europäische Mittelalter – eine Fundgrube für lateinische Lyrik, zugleich die früheste Sammlung mittelhochdeutscher Minnelieder, dazu mit vielen Melodien in Neumen – Notenzeichen ohne Linien – versehen. Der Codex Buranus beschäftigt zunehmend Wissenschaftler vieler historischer Fachrichtungen von der Handschriftenkunde bis zur Mediävistik, außerdem Musiker von Alter Musik bis hin zu Metal Bands. Und er verdankt seine Erschließung in den letzten 50 Jahren tatsächlich dem Werk, das aus gerade mal 23 Texten dieser Sammlung einen Welterfolg machte – Carmina Burana von Carl Orff.

So hieß auch das Buch, das der Komponist 1934 in einem Antiquariatskatalog entdeckt und gleich bestellt hatte. Carmina Burana – Lateinische und deutsche Lieder und Gedichte einer Handschrift des XIII. Jahrhunderts aus Benediktbeuern. Herausgegeben hatte sie 1847 der Münchner Bibliothekar Johann Andreas Schmeller. Die Handschrift war 1803 bei der Säkularisierung des Klosters entdeckt und in die Münchner Hofbibliothek gebracht worden. Sie passte bestens in die Zeit nach 1806, nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches, als in den deutschen Ländern das Mittelalter in Mode kam, zum goldenen Zeitalter zurechtidealisiert. Mit bürgerlichem Anstand ließ sich die Handschrift voller Liebes- und Trinklieder und deftiger Satiren auf die Verderbtheit der Kirche allerdings weniger vereinbaren. Es war ein studentisches Publikum, das Schmellers Edition bis 1904 vier Auflagen bescherte. Und es war ein Publikum, das – wie Carl Orff selbst – Latein beherrschte.

„O Fortuna / velut luna / statu variabilis“

las Orff als erstes, „Oh Fortuna / wie der Mond wandelst du dich“. „Bild und Worte überfielen mich“, erinnert er sich. Am selben Tag noch, am 29. März 1934, habe er den ersten Chor entworfen und schon ein ganzes Bühnenwerk vor sich gesehen. Orffs Begeisterung für die Bildkraft und den Rhythmus dieser 800 Jahre alten Verse kam nicht von ungefähr. Seitdem er den Ersten Weltkrieg als Soldat knapp überlebt hatte, hatte er sich Musik der Epochen vor dem Barock zugewandt und mit 30 Jahren – damals eine Pioniertat – Claudio Monteverdis Oper L’Orfeo für das Mannheimer Nationaltheater bearbeitet. Auch mit der Musik des Mittelalters beschäftigte er sich. Parallel dazu entwickelte er seine Idee einer „elementaren Musik“: Einfache, kindgerechte Klangbausteine für die Arbeit an der „Ausbildungsstätte für freie und angewandte Bewegung“, die Orff mit der Musikpädagogin Dorothee Günther in München gründete.

Das alles kommt zusammen, als Orff die Welt der Carmina Burana zum Klingen bringt – und noch mehr. Früh schon hat er sich für Claude Debussy begeistert, von Schönbergs komplexer Kammersymphonie einen Klavierauszug hergestellt. Es ist also kein Gegenwartsflüchter, der hier ans Werk geht, sondern ein Komponist der Weimarer Republik – nach deren Ende. Wie der gleichaltrige Paul Hindemith, wie der jüngere „shooting star“ Kurt Weill, der schon 1933 vor den Nazis nach Frankreich fliehen musste, blickt er kritisch bis ironisch auf die Gesellschaft. Auch Brecht hat er schon vertont und entdeckt in den mittelalterlichen Texten wohl auch den „fernen Spiegel“, wie die Historikerin Barbara Tuchmann diese Epoche nannte.

Ein Thema ist ihm dabei besonders nahe: Die Erotik. Der Hit, den alle kennen, ist zwar “O Fortuna”, die Schicksalsmusik des Anfangs und des Endes, verwendet von Boxweltmeister Henry Maske genauso wie von Popstar Michael Jackson und bei der Fußball-WM 2006. Doch vor allem sind die Carmina Burana eine Feier der sinnlichen Liebe in all ihren Facetten, von allegorisch bis unverhüllt. Schon im Codex Buranus dominiert sie, mehr noch in Orffs Auswahl: 18 der 23 Texte erzählen von Erotik und Begehren. Nach “O Fortuna” folgen Frühling, Tanz und Sehnsucht; ein Mädchen erscheint, das sich für die Männer schminkt („Chramer, gip die Farve mir“); eine Apotheose des Begehrens gilt gar der „chünegin von Engellant“. Nach dem Absturz in eine versoffene Männerwelt rund um einen gottlosen Abt – vier Stücke umfasst der Teil “In Taberna” – eröffnet Orff den eigentlichen “Cours d´amour”, den Hof der Liebesabenteuer. Der Einsatz eines Kinderchores dort ist dadurch begründet, dass die Kinder den Liebesgott Amor verkörpern („Amor volat undique“), der seit der späten griechischen Antike meist als Kind mit Pfeil und Bogen dargestellt wird.

Ehe es dann zur Sache geht,

beklagt ein Bariton das eisige Herz der Ersehnten, dann übergibt Orff den knisternden Text „Stetit puella“ einer Sopranistin, um aus einer Männerfantasie eine selbstbestimmt attraktive Frau zu machen. Die 1920er haben Folgen, auch da, wo Orff den Blick ins Liebesnest („Si puer cum puella“) wie eine schnelle Nummer der Comedian Harmonists klingen lässt. Im selben Tempo singen gleich darauf Frauen und Männer „Veni, veni“, „Komm, komm…“ Die schwärmerischen Lobpreisungen von der Schönheit von Augen, Haaren, des Körpers sind gerade nicht in schmelzende Linien umgesetzt, sondern in ein sportliches, perkussives, akzentreiches Allegro. Das bringt – wie immer auch hier der lateinische Text – etwas Abstraktion hinein und steigert die Wirkung, die gleich danach der krasseste Stilwechsel des ganzen Werkes hat: Das betörende Sopransolo einer Frau, die sich entschließt, das „süße Joch“ auf sich zu nehmen („In trutina mentis“), könnte aus einer Oper von Giacomo Puccini stammen.

Das ist gewagt und genial plaziert. Denn an dieser Stelle kann die Klangwelt nicht mehr zerbrechen, die Orff neu geschaffen hat. Sie erschöpft sich ohnehin nicht darin, die markanten Blöcke und Repetitionen des Beginns zu immer neuen Mustern zu ordnen. Der Frühling beginnt wie ein Gemeindegesang, der Tanz lässt an eine Dorfkapelle denken, die mit Taktwechseln verblüfft, der surreale Klagegesang eines gebratenen Schwans verbindet Ironie mit Raffinesse: Fagott in höchstem Register, verknüpft mit gedämpften Trompeten und gezupften Cellosaiten, dann der Schwan selbst, ein Tenor in noch höherer, sozusagen verzweifelter Lage, während Bläser in Achteln den Bratspieß drehen und die Bratschen das Herdfeuer impressionistisch glühen lassen.

Kontrapunktik und thematische Entwicklung gibt es in den Carmina Burana nicht. Zusammengehalten werden all die Facetten – von mitreißender Motorik und kinderleichten musikalischen Themen über Karikaturen bis zur Elegie des Begehrens – durch die Anordnung der Texte und den Umgang mit ihrer Sprache. Sie wird zur Klangfarbe, zum Gestus, zum Rhythmus, wie in Ritualen einer Beschwörung. Dadurch beginnen die Worte aus der alten Handschrift zu leuchten. Das Publikum der (szenischen) Uraufführung am 8. Juni 1937 in Frankfurt am Main war begeistert, die Reaktionen der nationalsozialistischen Presse und Kulturpolitik gerieten ambivalent – genau wie Carl Orffs eigenes Verhalten und seine Haltung im „Dritten Reich“: Parteimitglied war er nie, aber in den Widerstand ging er nur gegenüber der Forderung, in den Carmina Burana verständliches Deutsch singen zu lassen statt Latein, Mittelhochdeutsch und sogar Altfranzösisch.

Wenn man sich fragt, warum die Carmina Burana seither so gut gealtert sind, nämlich gar nicht, hat Umberto Eco eine Antwort. „Müßig zu sagen“, meint er in der Nachschrift zum ,Namen der Rose‘, 1983, „dass alle Probleme des modernen Europa, wie wir sie heute kennen, im Mittelalter entstanden sind, von der kommunalen Demokratie bis zum Bankwesen, von den Städten bis zu den Nationalstaaten, von den neuen Technologien bis zu den Revolten der Armen: Das Mittelalter ist unsere Kindheit, in die wir immer wieder zurückkehren müssen, um unsere Anamnese zu machen.“ In Carl Orffs Musik macht sich diese Kindheit auf den Weg zu uns.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Programmheft des Gürzenich Orchesters Köln zum Festkonzert am 7.9.2025 und ist hier in leicht erweiterter Fassung zu lesen. Die Abbildung ist dem Codex Buranus entnommen, Quelle: archive.org. Eine ausgezeichnete Einführung in Welt und Wirkung des Codex Buranus bietet das Buch Revisiting the Codex Buranus: Contents, Contexts, Compositions, Hrsg. Tristan E. Franklinos und Henry Hope, 2020

Am Anfang war das Lied

Von Kassel nach Wien: Gustav Mahlers Orchesterstück “Blumine”, seine „Wunderhorn“-Lieder und Franz Schuberts Sechste Sinfonie

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Am 23. Juni 1884 werden am Kasseler Hoftheater „Lebende Bilder“ zu Victor von Scheffels beliebtem Versepos Der Trompeter von Säckingen gezeigt. Die Musik dazu hat der junge Musikdirektor Gustav Mahler geschrieben, sieben Orchesterstücke. Das einzige Stück, das davon bleiben wird, ist ein Sommerabendtraum: Sechsachteltakt, über Streichertremoli und Harfenakkorden ein zärtliches Trompetenlied. Ein Idyll entsteht, von sanfter Spannung erfüllt. Man kann sich bei diesen Klängen zwei so behutsam wie bewegt einander näherkommende Liebende denken, und das hat Mahler wohl nicht nur mit Blick auf Scheffels Liebesdrama so angelegt. Der 23jährige entflammte in diesem Jahr für Johanna Richter, eine Sängerin. Diese Liebe wurde nicht erwidert. Doch die Sommerhoffnung des kleinen Orchesterstücks, das er Blumine nannte, nahm Mahler mit, bis in seine Erste Sinfonie, 1888 in Leipzig begonnen.

In deren ersten beiden Fassungen, die Mahler 1889 in Budapest und 1893 in Hamburg dirigierte, war Blumine der zweite Satz. So ganz passte er nicht zu den Extremen, Schärfen, Abgründen der Tondichtung Titan, wie die Erste Sinfonie da noch hieß. Im August 1894 – nach dem eher durchwachsenem Erfolg der Sinfonie in Weimar – nahm Mahler das schöne Andante heraus. Es fiel in einen langen Dornröschenschlaf, erst 1966 wurde es wiederentdeckt. Seitdem hat es einen Extraplatz im Kosmos der Mahler´schen Sinfonik, von der man in Blumine bereits viel findet: Farben von neuer Klarheit, nicht vermischt, sondern konturiert, eine Weitung des Raumes (etwa in einem Zwiegesang von Solo-Oboe und Kontrabässen), dazu eine Innigkeit, die das vermeintlich Triviale nicht scheut und etwas im besten Sinne Naives hat, etwas Zutrauliches.

Heiterkeit und tiefes Leid: Lieder aus „Des Knaben Wunderhorn“

Solche Qualitäten faszinierten Mahler auch an den Volksliedtexten der legendären Sammlung Des Knaben Wunderhorn, veröffentlicht zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Achim von Arnim und Clemens Brentano. Mehr als 700 Lieder hatten sie zusammengetragen, teils auch dichterisch bearbeitet. Manches daraus kannte Mahler schon, aber entscheidend für diesen Lesewütigen war die Gesamtausgabe, die er, mittlerweile 27 Jahre alt und Kapellmeister in Leipzig, im Herbst 1887 bei Carl und Marion von Weber fand.

Für die 30-jährige Marion entflammte er, und diesmal wurde die Passion erwidert. Es blieb gleichwohl eine von vielen, anders gesagt: „Bald gras ich am Neckar, bald gras ich am Rhein“. So hören wir es in einem der früheren Wunderhorn-Lieder, dem Rheinlegendchen. Mahler komponiert es strophenweise, aber ein Volkslied wird nicht daraus. Er folgt im Tonfall der Doppeldeutigkeit des Textes – „grasen“ für „verführen“, der Ring als Symbol für die „wahre Liebe“ hinter all den Amouren. Die Musik bleibt in der Schwebe, und sie ist leicht und licht instrumentiert: vier Holzbläser, ein Horn, Streicher, die Kontrabässe spielen nur piano oder pizzicato.

Jedes Lied von Mahler hat seinen eigenen Orchesterklang, der dem Komponisten meist schon bei der Klavierfassung vorschwebte. Im selben Sommer 1893 wie das Rheinlegendchen schrieb er Des Antonius von Padua Fischpredigt. Dieselben Blasinstrumente, nun mehrfach besetzt und mit viel Schlagwerk ergänzt, wieder ein Dreiachteltakt. Der ist hier der Motor eines beißend ironischen Stückes. All die Wassertiere vom Krebs bis zum Karpfen lauschen der Predigt gern, dann wird sie vergessen. In den chromatisch geschärften Sechzehntellinien der Klarinetten verbindet sich ohrenfällig der „Humor“ (von Mahler als Spielanweisung notiert) mit dem Fließenden des Wassers. Tatsächlich hat man die Fische nicht nur als Figuren einer Satire auf die selbstsüchtigen Menschen vor sich, sondern eben auch als reale Fische, so plastisch werden die Worte von Mahler mit einfachen Mitteln zum Leben gebracht.

Was er aus demselben Material ohne Worte im Scherzo der Zweiten Sinfonie macht, ist atemberaubend. Umso erstaunlicher, dass die Fischpredigt und der Sinfoniesatz parallel entstanden, im Sommer 1893. Die Verbindungen zwischen den Liedern und den Sinfonien zeigen die Kleinformate als autarkes Genre, in dem wir dem Komponisten besonders nahe kommen. Auch dann noch, als Mahler zum Direktor der Wiener Hofoper aufgestiegen ist und seine riesige Dritte Sinfonie vollendet hat.

Wo die schönen Trompeten blasen, im Juli 1898 komponiert, ist ohne die immense Erfahrung, die der 38-jährige Komponist jetzt hat, wohl kaum denkbar. Nicht, weil hier ein großes Orchester zu bändigen wäre! Nur sechs Holzbläser ohne Fagott, vier Hörner und zwei Trompeten gesellen sich zu den Streichern, die zunächst schweigen. Kammermusikalisch sparsam agieren die Bläser und setzen die Koordinaten für eine berührende Erzählung von Liebe und Tod. Die Ökonomie der Klänge, die Innigkeit und die stoische Schicksalsergebenheit – das hat schon etwas von einem Spätwerk. „Hier ist der Herzallerliebste dein, steh auf und lass mich zu dir ein“ – wenn zu diesen Worten erstmals alle Streicher einsetzen, glaubt man, das schönste Liebesgedicht aller Zeiten zu hören. Doch dann weisen die „schönen Trompeten“ den Weg zum Krieg – in den Tod.

Die frühesten Wunderhorn-Lieder hat Mahler im April 1892 als „Humoresken“ geschrieben. Wer hat dies Liedlein erdacht und Verlorene Mühe sind beide, bis hin zur Triangel, identisch instrumentiert und im Dreiachteltakt, den Mahler für das Spaßige bis Ironische bevorzugt. Landliebeleien mit Dialekt-Anklang: Einmal wird ein Mädchen ersehnt, einmal verschmäht. Das Liedlein hat etwas von Patchwork und Karikatur – die erste Silbe von „Heide“ etwa wird auf ein Melisma über elf Takte gestreckt, das an Figurationen einer Bach-Arie erinnert. In Verlorene Mühe schreibt Mahler ein Operettchen in drei Minuten.

Gleich nebenan finden wir das nackte Elend. Möglicherweise kurz nach den Humoresken entstand Das irdische Leben, und wer bei diesem Titel zuerst an pralle Daseinslust denkt, verliert mit den ersten Tönen schon den Boden unter den Füßen. Ist die erste Achtel Auftakt oder Taktbeginn? In welcher Tonart? Es gibt zunächst nur einen Tonvorrat ohne Basis, ebenso spärlich wie der Klang. Trockene Staccati der Flöten und Oboen, in den Streichern gedämpfte Pizzicati und motorische Sechzehntel, spinnradartig, tretmühlenhaft, wie das Leben armer Leute. „Mutter, ach Mutter, es hungert mich!“ „Warte nur…“ Zuerst muss das Korn geerntet werden, dann gedroschen, dann wird das Brot gebacken. Drängender wird die Klage des Kindes von Strophe zu Strophe, von Tag zu Tag. Die Mutter kann nicht hören, dass den Hungerrufen bald ein Warnsignal folgt, ein Trompetenton, zuerst gedämpft, dann gestoßen, und dass die immer laufenden Sechzehntel sich chromatisch verfärben. Sie macht es wie alle Eltern in Bedrängnis, wie schon der Vater im Erlkönig, wie unzählige Eltern bis heute: Sie versichert, dass gleich alles wieder gut sein wird. Und dann ist es zu spät.

Eine so existentielle Textvertonung lässt ans 17. Jahrhundert denken, wo zwischen Pest und Krieg das Elend des irdischen Lebens nur in Erwartung des Lebens im Jenseits, bei Gott auszuhalten war. Und Das himmlische Leben mit brotbackenden Engeln hat Mahler ja auch komponiert. Es war in einer frühen Fassung der Vierten Sinfonie die Antwort auf Das irdische Leben, das als zweiter Satz geplant war und später entfiel.

In unserem Programm öffnet sich der Himmel mit dem Lied Urlicht, am 19. Juli 1893 unabhängig von der Zweiten Sinfonie vollendet, in die Mahler diesen Gesang dann als vierten Satz einfügte. Auf dem Weg zu Gott erinnert da ein Leierkastenmotiv an die Mühen des Lebens, und tatsächlich muss erst noch ein widerstrebendes „Englein“ den Weg freigeben. Ist ihm der Neuzugang etwa nicht christlich genug? Wie gut, dass es einen Vorgesetzten hat. Und dass Gustav Mahler weiß, wo der zu finden ist.

Suche nach dem Ich – Franz Schuberts 6. Sinfonie

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Vom Erlkönig war eben schon die Rede. Ein erst 18-jähriger Hilfslehrer aus dem 9. Wiener Bezirk hatte die Ballade von Johann Wolfgang von Goethe 1815 an nur einem einzigen Tag in Töne gesetzt. Sehr früh schon hat sich Schubert als Komponist gefunden und ein ganzes Genre quasi neu erfunden, das Lied. Am Ende von Schuberts nur 31 Jahre währendem Leben waren mehr als 600 Lieder zusammengekommen. Sie hatten größten Einfluss auf Robert Schumann und Felix Mendelssohn Bartholdy, später auch auf Hugo Wolf und Gustav Mahler. Es gäbe Mahlers Lieder nicht ohne die von Schubert. Als er 1828 starb, waren gut 170 seiner Lieder im Druck erschienen, von den Kammermusikwerken wenige, von der Orchestermusik keine einzige Note.

Der Weg zu den beiden Sinfonien, die heute zu den Gipfelwerken des 19. Jahrhunderts zählen, Unvollendete und Große C-Dur-Sinfonie, die Franz Schubert selbst nie gehört hat, verlief völlig anders als der von Schubert als Liedkomponist. Die sechs Sinfonien, die er im Alter von 16 bis 21 Jahren schrieb, hielt er selbst nicht für erwähnenswert, als er in seinem letzten Lebensjahr ein Verzeichnis seiner „fertigen Compositionen“ schrieb. Sie zeigen, so der Musikwissenschaftler Robert Winter in Grove’s Dictionary of Music and Musicians, „einen begabten Lehrling“, der „mit einem Schuss Rossini […] das erhabene Erbe von Haydn, Mozart und, in geringerem Maße, Beethoven“ fortschreibe. Angesichts dessen, was der Komponist im Lied im Lied in so jungem Alter und später dann als Sinfoniker erreichte, herrscht immer eine gewisse Verlegenheit, wenn es um seine ersten sechs Sinfonien geht. Wo ist da das Genie, wo ist überhaupt Schubert? Er sucht sich noch selbst.

Die Sechste Sinfonie führt uns in jenes Wien von 1817, in dem die „Klassik“ noch Moderne ist und Beethoven mit 47 Jahren an der Hammerklaviersonate arbeitet, während Gioachino Rossinis Italiana in Algieri und weitere seiner Opern – Rossini ist nur nur fünf Jahre vor Schubert geboren – Furore machen. Von Schuberts Liedern weiß nur ein kleiner Kreis von Freunden, keines ist gedruckt, und die Sinfonie, mit der der 20jährige im Oktober beginnt, wird auch wieder nur ein kleiner Kreis hören können, beim Hauskonzert eines Amateurorchesters. Dass Schubert das Stück groß besetzt, acht Holzbläser, vier Blechbläser, Pauke, und es selbst „Große Sinfonie in C“ nennt, zeigt schon, dass er andere, bedeutendere Aufführungsorte im Blick hat.

Stilmerkmale Rossinis hört man besonders im Finale der Sinfonie, Beethoven im Scherzo – es ist das erste Mal, dass Schubert ein „Scherzo“ schreibt, kein „Menuett“ –, Haydn im Andante, und der erste Satz scheint von allen drei Komponisten etwas zu enthalten. Hier entwickelt Schubert eine Einleitung mit dramatischen Verheißungen, der ein Allegro mit zwei geradezu harmlos munteren Themen folgt. Die Durchführung – den Konventionen entsprechend der Platz für die dramatische Entfaltung des Materials – hält er so kurz wie möglich, dafür gibt es am Ende eine furiose Beschleunigung à la Rossini. Auch wo es im folgenden F-Dur-Andante mit seinem zutraulichen Thema mal etwas „gefährlicher“ zu werden scheint – Fortissimo-Sechzehnteltriolen, As-Dur – währt das nur ein paar Takte und bleibt folgenlos wie ein Spuk.

Für den dritten Satz bedient sich Schubert beim Scherzo aus Beethovens Erster Sinfonie – sein Thema hat dieselbe Rhythmik, nur ohne Sturm und Drang. Dafür gibt es bald überraschende Ausblicke: Rotationen und Liegetöne der Holzbläser, die einfach so von F-Dur nach Fis-Dur rücken – eine Weite entsteht dabei wie in Schuberts später C-Dur-Sinfonie. Etwas Ähnliches passiert im letzten Satz, mitten im opera-buffa-Tonfall. Wieder lassen die Holzbläser aus einem Motiv eine „Fläche“ werden, von punktierten Rhythmen der Streicher unterstützt. Da ist der Horizont deutlich über Rossini hinaus erweitert.

Was aber hinter diesem Horizont liegen könnte, ist für Franz Schubert im Februar 1818, als er die Sinfonie beendet, nicht zu erkennen. Das Handwerk ist für ihn offensichtlich kein Problem. Aber was hat er zu sagen, was will er? In seinen Liedern kann er sich von den Texten führen lassen, für die große instrumentale Form aber fehlt ihm noch eine eigene „Erzählung“, auch ein Ersatz für das „Ich“, das ein Komponist wie Mahler in dem Maße hat, wie es Schubert gerade nicht zur Verfügung steht. Erst 1822 entwickelt es sich aus vielen abgebrochenen Anläufen zur Unvollendeten. In ihr kommen zwei Schuberts zusammen – einer, der sich früh gefunden hat, und einer, der sich lange suchen musste. Diese Suche können wir in seiner Sechsten Sinfonie aus nächster Nähe erleben.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Programm des Gürzenich-Orchesters Köln am 29.6. und 1.7. 2025, mit der Mezzosopranistin Anna Lucia Richter und dem Dirigenten Thomas Guggeis. Illustrationen: Das Kasseler Hoftheater um 1900, Postkartenmotiv, im Original SW; Schuberts “Erlkönig”, Ausschnitt aus der Reinschrift von 16 Goethe-Liedern, die Schubert 1816 dem Dichter nach Weimar sandte und von diesem kommentarlos zurückerhielt. Quelle: Staatsbibliothek zu Berlin

Deutsche Dämonen

Im Künstlerroman “Doktor Faustus” verfolgt Thomas Mann auch den Weg einer Nation vom Kulturvolk zum “Blutstaat”

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Der Hautarzt kommt ihm im Treppenhaus entgegen, klein, mit Hornbrille und Glatze, rötlichem Haar an den Schläfen „und einem nur unter den Nasenlöchern stehengelassenen Schnurrbärtchen, wie es damals in den oberen Klassen Mode geworden war und später zum Attribut einer welthistorischen Maske werden sollte.“ Es ist das Jahr 1906, der Schauplatz Leipzig, der junge Hitler im fernen Linz weiß noch gar nichts von dem Bärtchen, das er mal tragen wird. Aber mit dem Hautarzt stimmt etwas nicht, den der Romanheld Adrian Leverkühn da aufsucht, um eine „lokale Erkrankung“ weiterbehandeln zu lassen. Dieser Mann wird nämlich von zwei Männern an ihm vorbeigeführt, in Handschellen. „Ein andermal!“ sagt er noch zum Patienten. „Ein andermal“, das hallt nach, in vielfacher Hinsicht, im Echoraum des Doktor Faustus.

Es ist der letzte in jedem Sinne große Roman von Thomas Mann, groß an Umfang wie an Bedeutung, verfasst im Exil an der Westküste der USA und so komplex, dass selbst der Hauptplot auf schwankendem Boden steht. Der erzählt, wie der Titel ahnen lässt, von einem Teufelspakt. Der hochbegabte Tonsetzer Adrian Leverkühn, 1885 als Bauersohn nahe der Saale geboren, infiziert sich bei einer Prostituierten wissentlich mit der Syphilis und bekommt später Besuch vom Teufel, der ihm erklärt, der Krankheitsverlauf werde kreative Höhenflüge mit sich bringen, die allerdings zu bezahlen sind: mit Verzicht auf Liebe und begrenzter Schaffensfrist. Leverkühn wird zum bahnbrechenden Komponisten, bis er 1930 zusammenbricht und noch zehn Jahre dahindämmert.

Mit dieser Geschichte wird auch die deutsche Geschichte der Jahre bis 1930 erzählt, und die führt in den Abgrund. Die Parallele vom individuellen Teufelspakt hier und einem kollektiven da wird vom Autor gar nicht behauptet, stellt sich aber von selbst ein, weil Leverkühns Geschichte von einem fiktiven Biografen erzählt wird, der selbst mitten im deutschen Abgrund sitzt, im „Dritten Reich“ des Jahres 1943.

Der Biograf heißt Serenus Zeitblom und greift zeitgleich mit dem Autor in Los Angeles zur Feder. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, so lautet der Untertitel, und dieser Freund ist ein Altphilologe, wohnhaft im oberbayerischen Freising. Einer, der zwar wie Thomas Mann schreibt, aber doch ein ganz anderer und acht Jahre jünger ist, vorzeitig im Ruhestand, bei Beginn seiner Niederschrift 60 Jahre alt und nicht von vornherein ein Antinazi. Im September 1943 schwärmt Zeitblom sogar noch von „einem neuen Torpedo von fabelhaften Eigenschaften, das der deutschen Technik zu konstruieren gelungen ist“ und glaubt der Propanda. Viel mehr als Skepsis gegenüber „unserem Führer und seinen Paladinen“ bringt er anfangs nicht auf, und die Verfolgung der Juden wird von ihm zunächst zur „Behandlung der Judenfrage“ marginalisiert.

Am Ende ist der fiktive Biograf von Deutschland entsetzt

Im Verlauf seiner Niederschrift, die Zeitblom kurz vor Kriegsende abschließt, ändern sich sein Vorgehen und seine Einsichten, wobei er im ganzen Buch, ziemlich avanciert nicht nur für einen deutschen Altphilologen, die eigene Gegenwart, die letzten zwei Weltkriegsjahre, in die Erzählung einbindet. Sein Entsetzen über den deutschen „Blutstaat“ setzt ihn am Ende ganz dem Autor an die Seite, der seinerseits in den USA bis zum Januar 1947 an seinen 47 Kapiteln, rund 700 Seiten, arbeitet. 1945 hält Mann den Vortrag Deutschland und die Deutschen mit der Erwägung, dass das „Dämonische“ politisch wie musikalisch in den Deutschen stecke. Sie wirkt als Erklärung für das „Dritte Reich“ so schlicht wie schräg, und auch dem Doktor Faustus wird sie nicht gerecht.

Denn da wird zwar viel suggeriert, aber genau gelesen ist nicht mal sicher, ob sich der erkrankte Leverkühn den Teufel nicht selbst ausgedacht hat, dessen Worte er aufzeichnet und die sein Freund und Biograph später mitteilt, während schon Bomben fallen. Dieser Teufel erörtert die Krise der zeitgenössischen Musik ganz so wie Manns Berater im Exil, Theodor W. Adorno – „Die historische Bewegung des Materials hat sich gegen das geschlossene Werk gekehrt“ -, dann wieder altertümelt er frech: „Bist aber auch ein attraktiver Fall, das bekenne ich frei. Von früh an hatten wir ein Aug auf dich, auf deinen geschwinden, hoffährtigen Kopf, dein trefflich ingenium und memoriam…“ Er hat auch selbst den Leipziger Hautarzt aus dem Weg geräumt, der Adrian behandeln sollte und der seinerseits schon ein Teufelszeichen trägt…

Zeitblom nimmt das diabolische Gespräch für bare Münze – eine wilde Mischung, in der Thomas Mann auch seine persönliche Musikphilosophie unterbringt. Unter seinem Zentralgestirn Richard Wagner kreist sie von jeher um Zweideutigkeit, Dämonie, Todesnähe der Musik, die er als besonders „deutsche“ Kunst sieht. Von Wagner übernimmt Mann auch die Technik der Leitmotive, mit denen die Musik wie die Prosa immer mehr verrät, als die Protagonisten selbst wissen. Ein Rätselspiel der Andeutungen. Realitätsgesättigt sind dagegen die Milieus und Personen, die wir auf Adrian Leverkühns Wegen kennenlernen.

Seine Jugendstadt Kaisersaschern ist ein an die Saale versetztes Lübeck, wo man die Atmosphäre des späten 19. Jahrhunderts förmlich schmecken kann, eine Zeit, die ins nächste Jahrhundert viel weiter hineinragt, als uns sonst bewusst ist. Nach Studien in Halle und Leipzig zieht der Komponist 1910 nach München, „das München der späten Regentschaft, nur vier Jahre noch vom Kriege entfernt, dessen Folgen seine Gemütlichkeit in Gemütskrankheit verwandeln und eine trübe Groteske nach der anderen darin zeitigen sollten“. Wie dort in den 1920ern die Lage abschüssig wird, zeigt sich an Personen, die mit ironischer Schärfe gezeichnet sind, oft nach realen Vorbildern – etwa Sixtus Kridwiß, Gastgeber eines präfaschistischen Zirkels, dessen „Scho` enorm wischtisch“ so einprägsam ist wie die meisten der rund 60 buntschillernden Charaktere.

Einen moderneren Roman hat Mann nie geschrieben

Die Inkubationszeit der deutschen Barbarisierung verläuft also chronologisch parallel zu Leverkühns Höhenjahren vor seinem Kollaps anno 1930. Das fasziniert auch ohne Gleichsetzung von genialem Hochmut und nationalem Größenwahn. Der Roman lässt vieles offen, auch die Grenzen zwischen Epochenpanorama, Milieustudie, Künstlerroman, Musikessay, fingiertem Making-of mit Apokalypse in Echtzeit. „Je pluraler der Text ist, desto weniger ist er geschrieben, ehe ich ihn lese“ – was Roland Barthes 1970 über Balzac schrieb, das scheint Doktor Faustus in einer Weise vorauszusetzen, die den Roman zum wohl modernsten Werk aus Manns Werkstatt macht.

Und dank der Leitmotive zum musikalischsten. Der Knabe Adrian etwa hat einen Schmetterling „von durchsichtiger Nacktheit“ bewundert, Hetaera esmeralda. So nennt später der Student auch die Prostituierte Esmeralda, bei der er sich infiziert, obwohl sie ihn warnt. Aus diesem Namen gewinnt er die Tonfolge h-e-a-e-es, die ihn auf einen neuen Gedanken bringt. „Man müsste,“ erklärt er 1910, „von hier aus weitergehen und aus den zwölf Stufen des temperierten Halbton-Alphabets größere Wörter bilden…“ Kurz gesagt, Leverkühn erfindet die Zwölftonmusik elf Jahre vor Arnold Schönberg, Thomas Mann Exilnachbarn in Los Angeles! Der sah, als er 1947 die Erstausgabe las, seine Erfindung als Teufelswerk missbraucht und beendete die Freundschaft.

Dabei hätte diesem Analytiker gefallen können, was da motivisch zu entdecken ist. Der Mann, der im neunzehnten von 47 Kapiteln in Handschellen abgeführt wird – ist er wirklich nur ein Leipziger Hautarzt mit neumodischer Barttracht?  Nicht nur das „Schnurrbärtchen“, das spätere Hitlersche, trägt er, auch rötliches Haar an den Schläfen. Genau wie der Teufel später, ob nun halluziniert oder nicht… Vielleicht steht der einfach für die Verführbarkeit der Menschen? Dann hält er mehr sicher bereit als nur diese eine „welthistorische Maske“, dieses ominöse Bärtchen. Wie vieldeutig wird da „ein andermal!“ Und wie aktuell.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Magazin ZEIT Geschichte “Thomas Mann”, erschienen im März 2025. Für die Edition auf dieser Website hat der Autor Zwischenzeilen ergänzt. Foto: Thomas Mann 1932 in seiner Münchner Villa, Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-R15883