Kategorie-Archiv: Essay

Einsame Gipfel

In Schumanns Klavierkonzert und Mahlers 5. Sinfonie stecken auch Liebeserklärungen an Ehefrauen, die als Komponistinnen verstummen

Immer wohler. Eine Phantasie angefangen (m. Orch.).« Dienstag, 4. Mai 1841, Robert Schumann sitzt in der Leipziger Inselstraße in der Wohnung, die er im September 1840 mit seiner Frau bezog, nach der auf dem Rechtsweg erkämpften Hochzeit mit der um neun Jahre jüngeren Clara Wieck. Die 22-jährige Pianistin hat jetzt wieder mit dem Üben begonnen, »eine Stunde Tonleitern und Uebungen zu spielen, damit ich nur wenigstens nicht Alles verlerne«, wie sie halb entschuldigend ins gemeinsame Ehetagebuch schreibt, »aber mit dem Componieren ist doch auch gar nichts mehr — alle Poesie ist aus mir gewichen.« Da geht es ihm anders. Seine »Frühlingssinfonie« hat Robert im Januar desselben Jahres in wenigen Tagen hingeworfen, während dieser Zeit allerdings durfte Clara keinen Ton spielen, die Wände hier sind zu dünn. Inzwischen ist sie im fünften Monat schwanger. Was wird bleiben von der europaweit gefeierten Virtuosin?

Weit mehr, wie wir wissen, als nur das »Chiara«-Motiv in der Fantasie für Klavier und Orchester, die Robert an diesem Tag begonnen hat und die später den ersten, den bahnbrechenden Satz seines Klavierkonzerts bilden wird. Ein Konzert für Clara, ohne sie nicht denkbar, nicht ohne die Frau, die Pianistin und die Komponistin. Schon mit 14 Jahren hat auch sie ein Klavierkonzert geschrieben, ebenfalls in a-Moll. Und als sie 19 Jahre alt ist, fordert sie Robert heraus, »dass Du doch auch für Orchester schreiben möchtest. Deine Fantasie und Dein Geist ist zu groß für das schwache Klavier. Sieh doch, ob du es nicht kannst?«

Schon lange teilen sich die beiden eine poetische Parallelwelt, in der Clara Chiara heißt, und die Ton-Buchstaben daraus bilden das Motiv, auf das die ganze neu entstandene Fantasie zurückgeht: C, H, A, A. Man hört es zuerst von der Oboe vorgetragen, von Klarinette, Horn, Fagott sanft sekundiert. Doch davor noch beginnt das Stück mit einem Tuttischlag des Orchesters und einer Klavier-Eruption wie aus einem Beifall erheischenden Virtuosenkonzert, das Schumann eben gerade nicht schreiben wollte. Eine Akkordkaskade, von oben nach unten stürzend, ein von Energie platzendes »Da bin ich«. Das könnte Clara sein. Aber auch im »Chiara«-Thema ist sie gegenwärtig, so sanft wie wandelbar.

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Dieses Thema trägt alles, es gibt kein anderes, umso mehr daraus abgeleitete Motive und Varianten, eine davon nach As-Dur entrückt im Sechsvierteltakt. Das ist der latente langsame Satz in dieser Fantasie, mit der Schumann ein Konzept von 1836 realisiert. Da dachte er in seiner Neuen Zeitschrift für Musik über eine neue Konzertform nach, »die aus einem größeren Satz in einem mäßigen Tempo bestände, in dem der vorbereitende Theil die Stelle eines ersten Allegros, die Gesangsstelle die des Adagio und ein brillanter Schluß die des Rondo vertreten.« In so einen Schluss geht es mit dem Kaskadenmotiv, mit dem sich Klavier und Orchester ablösen – ohrenfälliges Beispiel für eine weitere Novität: die dichte Verzahnung von Solopart und Orchester. Die fiel Clara Schumann bereits auf, als sie das Stück probehalber mit dem Orchester des Gewandhauses durchspielte: »Das Clavier ist auf das feinste mit dem Orchester verwebt – man kann sich das Eine nicht denken ohne das Andere.«

Obwohl Schumann die Fantasie noch überarbeitete, kam es vorerst weder zur Aufführung noch zur Drucklegung. Zu stark war die Konvention des Konzerts in drei Sätzen, der Schumann allerdings erst 1845 nachgab. In vier Sommerwochen – inzwischen ist die Familie nach Dresden umgezogen – wird der Finalsatz fertig, dessen Thema wiederum als Variante des »Chiara«-Themas startet, in A-Dur und im rasanten Dreivierteltakt. Den nutzt der Komponist für einen Verlangsamungseffekt: Je zwei Dreivierteltakte werden streckenweise zu einem Takt aus drei halben Noten umgedeutet, was zwar schon ein älterer Trick ist, hier aber so raffiniert eingesetzt, dass bis heute manche Dirigenten an dieser Stelle aus der Kurve fliegen. Weniger gewagt ist der »neutrale, von Schumanns sonstigem Klavierstil abweichende etüdenhafte Klaviersatz« im Finale, dem Analytiker Markus Waldura zufolge ein »Einlenken in Gattungskonventionen«, das aber auch den Kontrast zur Poesie des ersten Satzes unterstreicht.

Danach erst entsteht der kleine Mittelsatz, das Intermezzo. Wie beiläufig schließt es an den Kopfsatz an, indem die aufsteigenden Achtel aus dessen Thema isoliert werden – als Andantino-Sechzehntel, die sich sofort zu einem Dialog zwischen Klavier und Orchester entwickeln. Die drei Töne zitieren aber ebenso das Thema aus der Romanze in Clara Schumanns eigenem a-Moll-Klavierkonzert. Für den Übergang aus dieser verträumten Innenwelt zum vitalen Finale wird unversehens in den Holzbläsern wieder ein Teil des »Chiara«-Themas zitiert. Auch das trägt zu dem Eindruck bei, man habe hier ein Konzert wie aus einem Guss vor sich.

Als Schumann seiner Frau die Noten übergibt, hat sie wieder kaum Zeit zum Üben – im März 1845 ist das dritte Kind der beiden zur Welt gekommen, ein viertes ist bereits unterwegs. Trotzdem schafft es Clara Schumann, das Werk am 4. Dezember zur Uraufführung zu bringen, im Dresdner Hôtel de Saxe. Das Presse-Echo ist glänzend, entscheidend aber ist die Leipziger Erstaufführung am Neujahrstag 1846. Felix Mendelssohn Bartholdy leitet die Proben, während – vermutlich – Niels Wilhelm Gade die Aufführung im Gewandhaus dirigiert. Im Juli des Jahres erscheint das Opus 54 beim Verlag Breitkopf & Härtel. Dass es bald zu den beliebtesten Klavierkonzerten zählt, ist Clara Schumann zu verdanken: In den etwa 190 Aufführungen in Europa bis 1900 ist sie mehr als 100mal die Solistin. Selbst komponiert hat sie allerdings nur noch wenig, und ein weiteres Klavierkonzert aus ihrer Hand kam nicht über den ersten Satz hinaus.

Ganz großes Kino: Mahlers Fünfte

»Wie stellst du dir so ein componierendes Ehepaar vor? Hast du eine Ahnung, wie lächerlich und herabziehend vor uns selbst so ein eigentümliches Rivalitätsverhältnis werden muss?« Im November 1901 hatten sich Gustav Mahler und Alma Schindler ineinander verliebt, im Dezember stellte der Komponist der 19 Jahre jüngeren Frau schon Bedingungen für die Zukunft. Sie ließ sich darauf ein. Vielleicht hatte er ihr da – die ersten drei Sätze seiner 5. Sinfonie waren seit dem Sommer fertig – bereits jenes Adagietto überreicht, in dessen Partitur der Dirigent Willem Mengelberg später schrieb: »Dieses Adagietto war Gustav Mahlers Liebeserklärung an Alma! Statt eines Briefes sandte er ihr dieses im Manuskript, weiter kein Wort dazu. Sie hat es verstanden u. schrieb ihm: er solle kommen!!! (beide haben mir dies erzählt!)«

Mahler reichte Alma dann doch noch Worte zu den Tönen nach, die die Violinen in den ungewissen Anfang hineinsingen: »Wie ich dich liebe, du meine Sonne / Ich kann mit Worten dir’s nicht sagen …« Wie Mengelberg, der mit Mahler die Sinfonie erarbeitete, dessen Vorstellungen von Phrasierung bis Tempo umsetzte, kann man in seiner Aufnahme von 1926 hören, mit gut sieben Minuten die wohl kürzeste dieses Satzes, über dem »sehr langsam« steht. Die meistgehörte von weit über 200 Aufnahmen bis heute ist zweifellos die mit dem Orchestra Dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia von 1971: Einfach deswegen, weil Franco Mannino hier den Soundtrack für Tod in Venedig dirigierte, Luchino Viscontis meisterhafte Verfilmung der gleichnamigen Novelle von Thomas Mann. Das Adagietto geht da keineswegs in der Lagune unter, es trägt perfekt die morbide Atmosphäre, das verbotene Verlangen des alternden Hauptprotagonisten. Die Einstellungen und Schnitte zu Beginn des Films folgen dabei subtil, wie eine gute Choreografie, den Ereignissen in der Musik.

Zum allerersten Mal war die ganze Sinfonie am 18. Oktober 1904 im Kölner Gürzenich zu hören. Der 44-jährige Gustav Mahler hatte mit dem Cölner Städtischen Orchester (dem späteren Gürzenich-Orchester) sieben Tage lang geprobt. Es wurde keineswegs ein rauschender Erfolg. »Nur zu einem schwachen Beifall, der von Opposition nicht frei blieb« sei es gekommen, vermerkte ein Kritiker, der ohnehin nur »eine große Reihe von Absurditäten« gehört hatte. Mahlers Wiener Assistent Bruno Walter, der auch anwesend war, hatte eher ein Problem mit der Umsetzung: »Es war das erste und, ich glaube, einzige Mal, dass mich die Aufführung eines Mahlerschen Werkes unter seiner Leitung unbefriedigt ließ.« Der Komponist selbst kabelte aus dem Domhotel an seine Frau: »auffuehrung gut publikum gespannt erst befremdet zum schluss begeistert.« Indessen hatte er bereits zuvor nicht mit allzu viel Verständnis gerechnet: »O, könnt’ ich meine Symphonien fünfzig Jahre nach meinem Tode uraufführen!«, schrieb er Alma schon nach der Generalprobe.

Militärfanfaren und Klezmer-Melancholie

Im Trauermarsch, dem ersten Satz, hören wir zuerst zwölf Takte lang nur Trompeten, Auftakttriole, langer Ton. Zum einen ist das ein Gruß von der einen Fünften zur anderen, zu Beethovens »Schicksalsmotiv«. Dass diese Takte aber auch in Mahlers Gegenwart führen, schreibt er selbst dazu. Die Triolen »müssen stets etwas flüchtig (quasi accel.) nach Art der Militärfanfaren vorgetragen werden.« Militärtrompeter, so der Dirigent Michael Gielen dazu, »spielen nicht rhythmisch, sie können nur einfach stoßen und sie können nicht sehr schnell spielen: Sie spielen ZU schnell.« Und was sie spielen, ist dasselbe k. u. k.-Signal, das schon Joseph Haydn zitierte und das Mahler als Kind, von Militärmusik zutiefst fasziniert, in Iglau beim Spielen auf dem Kasernengelände hören konnte.

Noch vor dem amerikanischen Komponisten Charles Ives hat Gustav Mahler Trivialmusik nicht mehr oder weniger herablassend zitiert, sondern als grundlegendes Material in seine Kompositionen integriert: Mal quasi realistisch wie die Militärfanfaren, mal an Brahms erinnernd eingekleidet[H6]  wie das zweite Thema, ein schwelgerisch-melancholisches, in dem Musik des jiddischen Schtetl anklingt. Iglau war freilich kein Schtetl, in Mahlers Familie sprach man deutsch, »eine Klezmer-Gegend war es nicht«, schreibt der Publizist Jens Malte Fischer über das mährische Städtchen. Allerdings schließt er nicht aus, dass den Spielleuten dort »das Klezmer-Idiom nicht fremd war.« Bis heute rühren Autoren und Wissenschaftler den Aspekt des „Jüdischen“ in Mahlers Musik mit eher spitzen Fingern an, anders als Musiker von Leonard Bernstein bis Uri Caine, der 1997 mit seinem Ensemble in einer eigenwillig verjazzten Interpretation die ganze Klezmer-Melancholie des Trauermarschs freilegte.

Aus demselben Bereich scheint das »molto cantando«-Thema zu kommen, das im zweiten Satz der Fünften einem furiosen Ausbruch folgt. »Der Satz hat kein erstes Thema im gewohnten Sinne«, schreibt Paul Bekker in seinem 1921 erschienenen, heute noch lesenswerten Buch Gustav Mahlers Sinfonien. »Eine Art motivischen Ausrufes steht dafür, zuerst ganz knapp gefasst: fünf Bassnoten, wild und leidenschaftlich hervorgestoßen, fast geschleudert, rauh, gebieterisch, auffahrend…« Es bleibt unerzählbar, was im Weltroman dieses Satzes alles aufeinandertrifft, verzahnt und entwickelt wird und in größter Spannung so verfolgbar bleibt, dass eine große Erzählung mit Zuspitzungen, Abstürzen, mit Plateaus von gleißendem Glück entsteht.

Zugleich ist dieser zweite Satz ein kontrapunktisches Ereignis. Intensiv hat sich Gustav Mahler mit Bach beschäftigt, die Gesamtausgabe seiner Werke stand in Mahlers Komponierhäuschen in Maiernigg. Vollkommen kontrapunktisch durchgearbeitet ist dann der dritte Satz, das längste Scherzo, das je geschrieben wurde – nach dem Weltroman des zweiten Satzes ein beinahe kosmischer Walzer. Der Tanzrhythmus hält alles zusammen, auch da, wo er in Fugati, apokalyptischen Bläser-Aufschreien, Paukenschlägen untergeht. Und mittendrin erklingt ein echter Walzer, pur und schön, wie ein Rückblick oder eine Liebeserklärung. Nichts stört den sanften Schwung der Streicher, für 23 Takte verschwindet die Kontrapunktik, man spürt die Sinnlichkeit dieses Tanzes. Wie ein Separée hat  Mahler ihn in die riesige Partitur gesetzt, intim instrumentiert. Es ist eine der erotischsten Passagen, die er je geschrieben hat.

Insofern nimmt  der  Walzer die Liebeserklärung im Adagietto voraus, das dem Scherzo als vierter Satz folgt und in seiner Kürze schon eine Introduktion für das ohne Pause einsetzende Finale ist. Das klingt allerdings zuerst gar nicht nach einem Finale. Ein pastorales Gespräch zwischen drei Bläsern führt auf eine Piste der guten Laune, die aber nicht ganz geheuer ist. Fröhliches Getöse mit jähen Wechseln, drei Fugenthemen, die auch mal gleichzeitig erklingen, Gassenhauer-Anklänge, Siegesmotive wie aus einem Sandalenfilm – ist das ironische Musik? Sind die Fugen nur »Stilmasken« auf einer Party? Freut Mahler sich des Lebens, der Liebe? Dreht er durch? Kein anderer Satz der 5. Sinfonie ist so vieldeutig und disparat. Es gibt darin auch eine Reminiszenz an das Adagietto. Das Tempo an dieser Stelle ist allerdings doppelt so schnell, der Rhythmus tänzerisch, die Liebe wird Koketterie … Man kann sich ihrer eben nie sicher sein.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Programm des Gürzenich-Orchesters Köln am 2., 3. und 4. Februar 2025, dirigiert von Sakari Oramo mit dem Solisten Mao Fujita am Klavier. Das Foto von Clara und Robert Schumann ist eine Daguerrotypie, um 1850.


Die vielen Wunder der Freiheit

Wo die Musik spielt, da wird auch mit Musik gespielt. Ein Streifzug von der Improvisation bis zur Aleatorik, von der »freyen Fantasie« bis zum Toy Piano

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Ein Kinderspiel, dieser Anfang, was die Technik betrifft. C-Moll, gebrochener Akkord, unisono in rechter und linker Hand, mit Fis und As gewürzt. Was wird er damit machen, werden sich die Hörer in der Mehlgrube gefragt haben, dem ehemaligen Ballsaal, in dem Mozart auftrat, 29-jähriger Star der Wiener Szene. Er wusste es ja selbst nicht. Er improvisierte, sehr frei. Später machte er ein Stück daraus. Er kommt über Des-Dur und es-Moll verblüffend nach H-Dur, immer mit dem ersten, einfachen Bogen von sieben Tönen, bald von Akkorden sanft begleitet. Rhythmisch ändert sich nichts, aber auf einmal, f-Moll, ist es, als sei man zu weit hinausgeschwommen, das Wasser wird kühl, dunkel, man könnte Angst bekommen, wäre man nicht sicher, dass er da herausfindet. Es muss unfassbar spannend gewesen sein, Mozart beim Spielen am Pianoforte zuzuhören, beim Spiel ohne Grenzen. Beim Improvisieren.

Spiel! Zu dem Begriff findet sich mit 39 Spalten einer der längsten Einträge in Grimms Wörterbuch. Etymologisch geht er auf Bewegung, Tanz zurück, ist also schon lange mit Musik verbunden. Ein Instrument wird gespielt (in sehr vielen Sprachen übrigens, von Russisch bis Arabisch, Hebräisch bis Japanisch), ein Stück, und auch da, wo es notiert ist, lassen die Noten Spielraum. Verzierungen und Kadenzen von Barock bis Klassik werden idealerweise improvisiert, wofür es wiederum Regeln, Übungen, Anweisungen gibt, und mit dem Erscheinen virtuoser Solisten wird die Improvisation ganzer Stücke im Konzert so häufig, wie sie heute – außerhalb des Jazz – selten ist. Aber auch beim Komponieren wird gespielt, sogar in der Moderne. Und dass Spielen eine abgründige Sache ist, wusste nicht erst der Erlkönig: »Gar schöne Spiele spiel ich mit dir …«

Ein Knochen mit drei Löchern

Um mal so weit zurückzugehen wie möglich: Vielleicht war schon der Anfang der Musik im wahrsten Sinne ein Kinderspiel. Irgendwer muss ja vor 35.000 Jahren, als neben Menschen wie uns, also dem homo sapiens, noch Neandertaler lebten, herausgefunden haben, dass ein hohler Knochen Töne hervorbringen kann. Welcher Erwachsene hebt schon irgendein Ding auf und pustet hinein? Denken wir uns ein Steinzeitkind in der Gegend, die später Schwäbische Alb genannt wird und wo man in den 1990ern Bruchstücke einer Flöte fand, die aus den Knochen eines Singschwans gefertigt wurde, mit drei Grifflöchern. Aus der Entdeckung einer schwingenden Luftsäule war ein Instrument geworden. Von da an, spätestens, wurde gespielt, und zwar bis etwa zur Zeit der Pharaonen ohne schriftliche Fixierung von Klängen. 30.000 Jahre nur Improvisation!

Und Überlieferung natürlich. Wer improvisiert, greift immer auch auf Muster, Wendungen, Konventionen zurück, zum einen, weil sie gelernt und vertraut sind; zum anderen ist ihr Einsatz eine Grundlage der Kommunikation. Auch Mozart hat beim Fantasieren nicht sein Vokabular verlassen, nur den Formzwang einer Sonate. Wir wissen natürlich nicht, wie viel von dem, was er unter dem Datum vom 20. Mai 1785 als »Eine Phantasie für das klavier allein« in sein »Verzeichnüss« eintrug, ihm schon im März auf dem Podium der Mehlgrube eingefallen war oder auch später bei einem Privatauftritt. Er arbeitete sehr genau an allem, was in den Druck ging. Aber näher können wir dem in jedem Sinne spielenden, formal ungebundenen Mozart nicht kommen als gerade in dieser Fantasie. Ihre harmonische Exzentrik dient »der Expression seelischer Ausnahmezustände«, wie Ulrich Konrad findet, der wohl beste Kenner von Mozarts Werkstatt.

Ganz nah kam Mozart am 12. Mai 1789 ein betagter Leipziger Geiger, von dem Mozarts Zeitgenosse Friedrich Rochlitz erzählt: »Am Abende seines öffentlichen Concerts in Leipzig nahm Mozart den alten Violinisten [Carl Gottlieb, Anm.] Berger bei Seite und sagte zu ihm: ›Kommen Sie mit mir, guter Berger! Ich will Ihnen noch ein Weilchen vorspielen. Sie verstehen’s ja doch besser, als die Meisten, die mir heute applaudirt haben.‹ Nun nahm er ihn mit sich, und phantasirte nach einem kurzen Mahle vor ihm bis Mitternacht, worauf er dann nach seiner Weise rasch aufsprang und rief: ›Nun, Papa, habe ich’s recht gemacht? Jetzt haben Sie erst Mozart gehört. Das Uebrige können Andere auch.‹« Daraus wird ziemlich deutlich, dass für Mozart das Fantasieren alles andere als nebensächlich war.

Verblüffend ist die Parallele zu dem von ihm bewunderten Carl Philipp Emmanuel Bach, der 1772, ebenfalls nach dem Abendessen, in Hamburg stundenlang für seinen Besucher, den Musikhistoriker Charles Burney, am Clavichord improvisierte. »Während dieser Zeit geriet er dergestalt in Feuer und wahre Begeisterung, dass er nicht nur spielte, sondern die Miene eines außer sich Entzückten bekam.« Das ganze Schlusskapitel von CPE’s »Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen« handelt »Von der freyen Fantasie«. Ähnlich exzessiv und faszinierend wie er hat auch Friedemann, sein um vier Jahre älterer Bruder, fantasiert – und beide lernten das »Extemporieren« schon als Kinder, so wie nach ihnen Mozart. Es wurde im 18. Jahrhundert von professionellen Tastenspielern sogar erwartet, dass sie ganze Fugen improvisierten.

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Spätestens jetzt muss natürlich die Legende erzählt oder vielmehr bestätigt werden, die Johann Nikolaus Forkel überliefert hat. Friedrich der Große hat anno 1747 den Thomaskantor zu einem Besuch in Potsdam ermuntert und dort dem 62-Jährigen ein selbst geschriebenes Thema überreicht, über das der zuerst eine Fuge improvisierte, um, zurück in Leipzig, sein elfteiliges, grandioses »Musikalisches Opfer« daraus zu komponieren. In dem wiederum auch improvisiert werden muss, wie überall da, wo in barocker Zeit ein Generalbass notiert ist, ein basso continuo – in diesem Fall in der Triosonate des »Opfers«. Der Cembalist hat ja nicht Akkorde vor sich, sondern nur Basstöne mit kleinen Zahlen, die deren Funktion bezeichnen (ob es der unterste Ton eines Sextakkords ist, eines Quintsextakkords …), und die offen lassen, in welcher Weise diese Harmonien gespielt, arpeggiert, verbunden werden. Noch 1911 forderte der Leipziger Musikwissenschaftler Hermann Kretzschmar, es müsse »ins Aussetzen der Bässe wieder die alte Freiheit und Leichtigkeit kommen, wir müssen es wieder zum Improvisieren auch bei schwierigen Vorlagen bringen.«

Heute sind wir sehr viel weiter. Als die Wiederentdeckung der Musik Johann Sebastian Bachs auch das Interesse an der Musik der Jahrhunderte zuvor geweckt hatte, kam ein Kontinent ans Licht, auf dem es von Spielräumen und Freiheiten nur so wimmelt, von Herausforderungen. Schon früh wurde von Sängern erwartet, dass sie zu einer Linie eine oder mehrere kontrapunktische Gegenlinien improvisierten. 1573 gibt ein italienisches Lehrwerk Tipps für spontane zweistimmige Kanons über einem Cantus firmus. Parallel dazu floriert die Ornamentierung. Wer zwei halbe Noten zu singen oder zu spielen hat, macht Bögen aus acht Achteln daraus, oder kleinteilige Rhythmen, in polyphonen Werken natürlich mit Rücksicht auf die weiteren Stimmen. Hätte jemand den Sängern an einem Fürstenhof wie Ferrara gesagt: »Singt doch, was da steht«, hätten sie ihn mit Recht für einen Ignoranten gehalten.

Flamboyant und fancy

Die neue Emotionalität ab 1600 wurde im Gesang mit Verzierungen unterstrichen, mit passaggi, deren berühmtestes Beispiel keinem Lehrwerk entstammt, sondern der ersten Oper. Claudio Monteverdi lässt 1607 seinen Orfeo vor Caronte singen, dem Fährmann in die Unterwelt, und notiert für den Solisten genauestens, was sonst improvisiert wurde, die flamboyanten Tonrepetionen und Wechselnoten, mit denen Orfeo den possente spirito, den »mächtigen Geist« beeindrucken will. Doch sonst kommt man auch bei Monteverdi als Interpret nicht weit, wenn man die Verzierungstechniken der Zeit nicht kennt, besser noch, sie so verinnerlicht hat wie schon seit Jahrzehnten die Profis der historischen Aufführungspraxis. Wenn gute Zinkenbläser in der »Marienvesper« loslegen, ist man vom Jazz nicht mehr weit entfernt.

Schon im 17. Jahrhundert war es auch üblich, aus einem Thema ein ganzes Stück zu fantasieren. In England tritt der Sammelbegriff für improvisierte wie komponierte Freiheiten sogar variiert auf: Von Fantassie über fantazia und fansye bis zum gebräuchlichsten, fancy. Einer der Stars dieser Kunst war ein Import aus Lübeck, der Geiger Thomas Baltzer. Am 4. März 1656 schrieb John Evelyn, englischer Landedelmann, Autor, Europareisender, Politiker, nachts in London in sein Tagebuch: »Ich war eingeladen, um den unvergleichlichen Thomas Baltzer auf der Geige zu hören. Der Einfallsreichtum, zu dessen Anregung ihm wenige Noten genügen, war bewundernswert.«

 Neue Spielregeln

All diese Facetten, der Austausch zwischen Komposition und Improvisation, die Spielräume oder Notwendigkeiten für den Eigensinn von Musikern, sind im 20. Jahrhundert erst mal auseinanderdividiert worden. Man erkundete und erlernte aufs Neue »die alte Freiheit und Leichtigkeit« im Generalbass, während die zeitgenössischen Komponisten längst nicht nur jede Note festlegten, sondern auch Vortragsnuancen. Das Improvisieren wanderte ab in den Jazz und die Alte Musik. Ausbrüche wie der aus der alten Tonalität wurden systematisiert oder, netter gesagt, mit Spielregeln versehen wie denen, die Arnold Schönberg für das »Komponieren mit zwölf aufeinander bezogenen Tönen« ersann, nachdem sein jüngerer Wiener Kollege Joseph Matthias Hauer die zwölf Halbtöne der Oktave in 44 Sechsergruppen gebändigt hatte. Diese »Tropen« wurden die Grundlage von »Zwölftonspielen«, mit denen es Hauer kosmisch ernst war: Die Musik – rund 1000 Stücke entstanden – generiert sich nach bestimmten Regeln praktisch selbst und soll die Harmonie der Welt hörbar machen. Das Gegenteil jener Subjektivität also, die in Improvisationen zum Ausdruck kommt.

Das machte Hauer interessant für John Cage. Der Amerikaner wollte vom »making« zum »accepting« kommen – nichts ausdrücken und nicht Autor sein, sondern sich von den Tönen leiten lassen, von Tonvorräten, die vom Zufall, einer Sternenkarte oder sonst wie, nur nicht subjektiv bestimmt wurden. Weil er dabei auch ein sehr heiterer Mensch war, verdanken wir ihm das erste Stück für ein Spielzeug (von einer „Berchtoldsgaden Musick“ abgesehen, in der um 1765 Kinderinstrumente zum Einsatz kommen) – die »Suite for Toy Piano« (1948), ein Spielzeugklavier mit neun Tönen und aufgemalten schwarzen Tasten. Die denkbar größte Freiheit der Spieler erreichte Cage zehn Jahre später in seinem »Concert for Piano and Orchestra«: Noten auf losen Blättern, die in beliebiger Reihenfolge gespielt werden können. Fast alles ist dem Zufall überlassen.

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Die unfixierbare Komplexität, die dabei herauskommt, war eine Offenbarung für den polnischen Komponisten Witold Lutosławski, als er diese Musik im Radio hörte. Er sah im Zufall eine Technik und zähmte ihn. In seinem Streichquartett (1964) stehen in der Partitur nicht mehr nur vier Stimmen übereinander, sondern immer wieder vier Kästen. Jeder enthält ein Solo. Festgelegt ist, wer wann beginnt – und dass alle so lange spielen, bis, zum Beispiel, die erste Geige die nächste Abteilung erreicht hat. Ein großer Bogen entsteht in diesem Werk, aber es fällt doch auf, dass spielerische Freiheit immer im Kleinen beginnt, im Freiraum einer Kadenz, mit nur einem Motiv wie bei Mozart, der dann einen Abschnitt aus dem anderen entwickelt, mit Lutosławskis Kästchen, den losen Blättern von Cage …

Sogar ein Kontrollfreak wie der amerikanische Komponist Elliott Carter hat auch gern mal mit losen Blättern begonnen, wie er es dem Autor 2008 erzählte, kurz vor seinem hundertsten Geburtstag. »In den ›Night Fantasies‹ [1980, Anm.] schrieb ich einfach jede Menge kleiner Fragmente, die ich für das Klavier interessant fand, und die einem bestimmten harmonischen System folgten. Davon hatte ich dann 20 oder 30. Ich war damals in Rom und klebte sie an die Wand, guckte mir das an, bis ich wusste, wie es zusammenpassen könnte. Zuerst also kleine Versuche, um rauszufinden, was ich wollte.« Dieses Verfahren setzte Carter bei einem seiner großartigsten Werke fort, der »Partita« für Orchester (1993). »Es waren kleine Teile, die zusammengefügt wurden. Wie ein Spiel. Darum nannte ich es Partita. In Italien heißt ein Fußballspiel partita. It has a playful aspect!«

Einfach mal ausprobieren

Es war eine Komponistin, die wieder zum Spielen im einfachsten Sinne kam, zum Ausprobieren unvertrauter Klangerzeuger, ein bisschen wie unser Steinzeitkind mit dem hohlen Knochen. Sofia Gubaidulina, die sich in der Sowjetunion als Filmkomponistin durchschlug, erkundete in den 1970ern mit Kollegen den Klang von Ritualinstrumenten aus Russland, dem Kaukasus, Asiens, des Orients. In der Gruppe Astrea improvisierte man gemeinsam. »Wir beherrschten diese Instrumente nicht, wir berührten sie. Es war eher ein geistiges Gespräch.« Erfahrungen aus dieser »ungeschriebenen Musik« voller Mikrointervalle und voller Spiritualität brachten sie auf den Weg zu ihrem Durchbruchswerk, dem »Offertorium«, jenem überwältigend schönen Violinkonzert, das Gubaidulina 1980 für Gidon Kremer schrieb.

Womit wir, Überraschung, Fernpass, Verwandlung, wieder bei Wolfgang Amadeus Mozart wären, der im Mai 1785 aus seiner Improvisation in der Mehlgrube die Fantasie in c-Moll macht. Die tatarische Komponistin hat ihr Konzert »Offertorium«, »Opfer«, aus jenem Thema entfaltet, über das Bach in Potsdam improvisierte und aus dem dann sein »Musikalisches Opfer« wurde. C‘, es‘, g‘, as‘, h, so fängt das an. Jetzt bringen wir mal Bewegung in diese statischen Töne. Die ersten beiden punktiert verbunden, dann vor das g ein fis und vor das h ein c … Mozart spielt mit Bachs Königsthema! »Das kann kein Zufall sein«, meinte der Pianist András Schiff, als er beide Werke im Konzert verband, Bachs »Opfer« und Mozarts »Fantasie«. Nein, kein Zufall, auch kein Wunder, Mozart war zu der Zeit schon mit vielem aus der Bachfamilie vertraut. Aber ein Wunder ist es eben doch. Eines von den vielen, die sich der Freiheit des Spielens verdanken.

Dieser Text erschien im Magazin der Elbphilharmonie I / 2025, “Spielen”, im Dezember 2024 (S. 22-26) und ist urheberrechtlich geschützt. Illustrationen: Beginn der c-Moll-Fantasie KV 475 von W.A.Mozart; Beginn des “Musikalischen Opfers” von J.S.Bach, Originaldruck zwischen 1740 und 1759, Staatsbibliothek zu Berlin; John Cage beim Präparieren eines Klaviers, in literaturundkunst.net

 

Den Klang von innen nach außen lassen

Mit Wolfgang Rihm ist einer der größten Komponisten der Gegenwart gestorben. Die Fülle und Vielfalt seines musikalischen Schaffens sind geradezu beispiellos

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Später, viel später macht man sich ja gern lustig über die Kritiker, die es nicht gleich verstanden haben. “Fast eine halbe Stunde lang dröhnende Wirbel auf vier Pauken, fettes Blechbläser-Geschrei, tiefes Schnarchen von Kontrafagotten und sich aufplusternde Munterkeit. Ein Fäkalienstück. Da hilft nur anschließend ein Schnaps.” So heftig wurde er selten, der ZEIT-Kritiker Heinz Joseph Herbort, wie 1976, als er in Donaueschingen Sub-Kontur gehört hatte, das Orchesterstück eines damals 24-Jährigen, Wolfgang Rihm. Aber Herborts Zeilen spiegeln eben auch die Heftigkeit dieser Musik, die da hineingekracht war in eine Szene der Ausgewogenheit, der verhaltenen Klänge. Auch die Musiker fanden Sub-Kontur zuerst schrecklich. “Mein Stück”, erinnert sich Rihm 20 Jahre später, “wird erst einmal vom Blatt durchgespielt. Schon im letzten Klang bricht Wutlärm aus, Noten fliegen durch die Luft …”

Aber dann näherte man sich einander gegenseitig in der Probe. Wolfgang Rihm änderte einiges, die Musiker begannen, ihn zu verstehen, und dann, so schreibt der Komponist, “klang es wieder so hervorragend, daß die Kritiker jetzt weinen vor Wut und sich betrinken müssen”. Die Schelte in der ZEIT steckte er weg. “Ich konnte dem immer nur noch mehr entgegensetzen”, sagte er im Gespräch vor zwölf Jahren und funkelte dabei so kämpferisch heiter wie ein Junge, der es allen zeigen wird. Dabei hatte er es da längst allen gezeigt und blickte mit 60 Jahren auf rund 350 gedruckte (und aufgeführte!) Werke zurück, denen dann noch mal 40 folgten. Mit 53 Jahren war Rihm schon zum bis dahin jüngsten Träger des Siemens-Musikpreises geworden, dem Nobelpreis der Musik.

Damit war nicht unbedingt zu rechnen, als am 13. März 1952 in Karlsruhe das erste Kind einer gelernten Modezeichnerin und eines Angestellten zur Welt kam. Man ging sonntags in die Kunsthalle, und die Mutter hatte einmal Klavierspielen gelernt. Entscheidend war, dass die Eltern dem Sohn seine Wünsche erfüllten: Er bekam eine Blockflöte, dann ein Klavier, das den häuslichen Etat sprengte, er wurde gefördert. Den 12-jährigen Chorsänger Wolfgang beeindruckte zutiefst das Requiem von Hector Berlioz, der 14-jährige Gymnasiast schrieb ein Streichquartett. Was der 18-Jährige dann als Streichquartett Nr. 1 vorlegte, wirkt noch heute wie ein autonomes Wunderwerk. Zu der Zeit studierte Wolfgang Rihm schon Komposition. Abitur machte er, zweimal sitzen geblieben und schlecht in Mathe, erst zwei Jahre später, zeitgleich mit dem Staatsexamen in Komposition. Das alles in Karlsruhe, der Stadt, die immer seine Basis blieb.

Diese Stadt, in deren Nachbarstadt Ettlingen Wolfgang Rihm am vorigen Samstag mit 72 Jahren einer langwierigen Erkrankung erlegen ist, ist die heimliche kleine Hauptstadt eines ganzen Kontinents. “Kontinent Rihm”, so nannten die Salzburger Festspiele einen Schwerpunkt, den sie dem Komponisten im Jahr 2010 widmeten, und der Titel war keine Übertreibung. Tatsächlich umfasst Rihms Œuvre alle Klimazonen und Vegetationen. Es gibt Gipfelketten wie die Klangattacken der Hamletmaschine von 1987, es gibt die Wüste, in die ein Klavier erratische Blöcke klotzt, die Dschungel an den Ufern von Vers une Symphonie Fleuve und die labyrinthische Geografie der dreizehn Streichquartette. Es gibt eine solche Diversität von Formen und Mitteln (nur Elektronik kommt nicht vor), dass man sich fragt, warum und woran denn eigentlich dieser Komponist immer so gut zu erkennen ist.

Wichtig ist dabei die Unmittelbarkeit seiner Musik. Egal, ob völlig atonale Skulpturen am Klavier gemeißelt werden oder ob der Pfarrer in der Kammeroper Jakob Lenz die Stadionhymne “So ein Tag, so wunderschön wie heute” mit Worten von Georg Büchner singt, ob wir Materialexzesse wie im erwähnten Sub-Kontur erleben (die noch nach fast einem halben Jahrhundert erfrischender und drastischer klingen als vieles, was Jüngere jetzt schreiben) oder das Cellokonzert von 2006, in dem aus verbrauchten Vokabeln des 19. Jahrhunderts sozusagen das allerletzte und allerneueste Cellokonzert der Romantik wird – man kann das voraussetzungslos hören. Rihms Musik muss nicht “zugänglich” gemacht werden, sie kommt unmittelbar auf einen zu. Da ist kein Ego, das sie festhält, auch nicht das Über-Ich einer Dogmatik. Wohl aber ein sehr offener Geist, in dem alles danach drängt, sich in Musik zu verwandeln. So sehr, dass er nie im Etabliertsein versank und man immer gespannt sein konnte, was als Nächstes kommen würde..

“Ich habe eine Utopie”, sagte Rihm als etwa 30-Jähriger, “dass ich, während ich komponiere, der Klang fast selber bin.” Eigentlich denke sich die Musik selbst weiter, wenn ihre Erfindung erst einmal begonnen habe, und idealerweise müsse das “ohne Formgeplänkel und Vorzeigeverlauf” nach außen dringen. In dem Gedanken zeigt sich der Komponist als eine Art Medium, aber zugleich gibt es kaum einen, der so reflektiert und kundig mit der Geschichte seines Metiers umgegangen ist. In seinem wohl meistgespielten Werk, der Kammeroper Jakob Lenz von 1979, werden vorhandene Musiksprachen unablässig zu Werkstoffen – aber nicht, um Bildung vorzuführen, eher schon als Befreiung von den Dogmen der Avantgarde, der Durakkorde da immer noch verdächtig waren.

Auch wenn Rihm eine Zeit lang bei Karlheinz Stockhausen studierte, knüpfte er vor allem an die Frühzeit der Moderne an, jene Jahre, als die kreativen Eruptionen in der Musik noch nicht zu Schulen und Systemen geworden waren. “Die Zeit um 1900″, schrieb er mir vor zwei Jahren, sei für ihn “die Batterie für fast alles, was folgte.” Es war einer jener Briefe, von denen man sich fragt, woher er auch dafür noch die Zeit nahm, neben dem Komponieren und neben dem Schreiben über die Musik, in dem sich ein enormes literarisches Vermögen zeigte – vergleichbar allenfalls mit dem des von ihm so verehrten Hector Berlioz. Dazu kommt noch, dass Rihm als Kompositionslehrer junge Hochbegabungen wie Rebecca Saunders auf ihrem Weg begleitete und sich öffentlich für die Kultur einsetzte. Unvergessen, wie er 1996 – nach knapp abgewendeter Halbierung der staatlichen Zuschüsse an die Donaueschinger Musiktage – erklärte: “Nur Scheiße darf noch teuer sein.” Das war auch deswegen wirkungsvoll, weil Wolfgang Rihm zwar sehr deutlich werden konnte, aber nie unversöhnlich war.

Wer seinen Kopf aus der Menge ragen sah – das außergewöhnlich große Haupt eines Hünen –, sah ein freundliches Gesicht, wer mit Rihm sprach, stieß auf Neugier und hatte zugleich das Gefühl, sich selbst schon auf dem “Kontinent Rihm” zu befinden. Schwerer als bei jedem anderen sind hier Mensch und Werk zu trennen. Das unablässige Neuansetzen im Komponieren, das Suchen nach immer neuen Sprachen, Zeichen, Farben ist ebenso ein Teil dieses Komponistenlebens wie die Kontinuität, mit der Rihm über viele Jahre hinweg sein Orchesterstück Vers une Symphonie Fleuve immer neu schrieb, oder mit der er in seinen Streichquartetten über die Jahrzehnte hinweg zu erkunden schien, wo er sich als Komponist gerade befand, so umfassend wie vor ihm nur Haydn, Beethoven und Schostakowitsch. Er war so sehr Musik, dass die Welt sich jetzt, bei allem Getöse, still anfühlt. Man kann sich vorstellen, Wolfgang Rihm mache einfach trotzdem weiter und sitze jetzt an seinem 14. Streichquartett.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien am 29. Juli 2024 bei ZEIT online Foto: picture-alliance/dpa.