Mit Wolfgang Rihm ist einer der größten Komponisten der Gegenwart gestorben. Die Fülle und Vielfalt seines musikalischen Schaffens sind geradezu beispiellos
Später, viel später macht man sich ja gern lustig über die Kritiker, die es nicht gleich verstanden haben. “Fast eine halbe Stunde lang dröhnende Wirbel auf vier Pauken, fettes Blechbläser-Geschrei, tiefes Schnarchen von Kontrafagotten und sich aufplusternde Munterkeit. Ein Fäkalienstück. Da hilft nur anschließend ein Schnaps.” So heftig wurde er selten, der ZEIT-Kritiker Heinz Joseph Herbort, wie 1976, als er in Donaueschingen Sub-Kontur gehört hatte, das Orchesterstück eines damals 24-Jährigen, Wolfgang Rihm. Aber Herborts Zeilen spiegeln eben auch die Heftigkeit dieser Musik, die da hineingekracht war in eine Szene der Ausgewogenheit, der verhaltenen Klänge. Auch die Musiker fanden Sub-Kontur zuerst schrecklich. “Mein Stück”, erinnert sich Rihm 20 Jahre später, “wird erst einmal vom Blatt durchgespielt. Schon im letzten Klang bricht Wutlärm aus, Noten fliegen durch die Luft …”
Aber dann näherte man sich einander gegenseitig in der Probe. Wolfgang Rihm änderte einiges, die Musiker begannen, ihn zu verstehen, und dann, so schreibt der Komponist, “klang es wieder so hervorragend, daß die Kritiker jetzt weinen vor Wut und sich betrinken müssen”. Die Schelte in der ZEIT steckte er weg. “Ich konnte dem immer nur noch mehr entgegensetzen”, sagte er im Gespräch vor zwölf Jahren und funkelte dabei so kämpferisch heiter wie ein Junge, der es allen zeigen wird. Dabei hatte er es da längst allen gezeigt und blickte mit 60 Jahren auf rund 350 gedruckte (und aufgeführte!) Werke zurück, denen dann noch mal 40 folgten. Mit 53 Jahren war Rihm schon zum bis dahin jüngsten Träger des Siemens-Musikpreises geworden, dem Nobelpreis der Musik.
Damit war nicht unbedingt zu rechnen, als am 13. März 1952 in Karlsruhe das erste Kind einer gelernten Modezeichnerin und eines Angestellten zur Welt kam. Man ging sonntags in die Kunsthalle, und die Mutter hatte einmal Klavierspielen gelernt. Entscheidend war, dass die Eltern dem Sohn seine Wünsche erfüllten: Er bekam eine Blockflöte, dann ein Klavier, das den häuslichen Etat sprengte, er wurde gefördert. Den 12-jährigen Chorsänger Wolfgang beeindruckte zutiefst das Requiem von Hector Berlioz, der 14-jährige Gymnasiast schrieb ein Streichquartett. Was der 18-Jährige dann als Streichquartett Nr. 1 vorlegte, wirkt noch heute wie ein autonomes Wunderwerk. Zu der Zeit studierte Wolfgang Rihm schon Komposition. Abitur machte er, zweimal sitzen geblieben und schlecht in Mathe, erst zwei Jahre später, zeitgleich mit dem Staatsexamen in Komposition. Das alles in Karlsruhe, der Stadt, die immer seine Basis blieb.
Diese Stadt, in deren Nachbarstadt Ettlingen Wolfgang Rihm am vorigen Samstag mit 72 Jahren einer langwierigen Erkrankung erlegen ist, ist die heimliche kleine Hauptstadt eines ganzen Kontinents. “Kontinent Rihm”, so nannten die Salzburger Festspiele einen Schwerpunkt, den sie dem Komponisten im Jahr 2010 widmeten, und der Titel war keine Übertreibung. Tatsächlich umfasst Rihms Œuvre alle Klimazonen und Vegetationen. Es gibt Gipfelketten wie die Klangattacken der Hamletmaschine von 1987, es gibt die Wüste, in die ein Klavier erratische Blöcke klotzt, die Dschungel an den Ufern von Vers une Symphonie Fleuve und die labyrinthische Geografie der dreizehn Streichquartette. Es gibt eine solche Diversität von Formen und Mitteln (nur Elektronik kommt nicht vor), dass man sich fragt, warum und woran denn eigentlich dieser Komponist immer so gut zu erkennen ist.
Wichtig ist dabei die Unmittelbarkeit seiner Musik. Egal, ob völlig atonale Skulpturen am Klavier gemeißelt werden oder ob der Pfarrer in der Kammeroper Jakob Lenz die Stadionhymne “So ein Tag, so wunderschön wie heute” mit Worten von Georg Büchner singt, ob wir Materialexzesse wie im erwähnten Sub-Kontur erleben (die noch nach fast einem halben Jahrhundert erfrischender und drastischer klingen als vieles, was Jüngere jetzt schreiben) oder das Cellokonzert von 2006, in dem aus verbrauchten Vokabeln des 19. Jahrhunderts sozusagen das allerletzte und allerneueste Cellokonzert der Romantik wird – man kann das voraussetzungslos hören. Rihms Musik muss nicht “zugänglich” gemacht werden, sie kommt unmittelbar auf einen zu. Da ist kein Ego, das sie festhält, auch nicht das Über-Ich einer Dogmatik. Wohl aber ein sehr offener Geist, in dem alles danach drängt, sich in Musik zu verwandeln. So sehr, dass er nie im Etabliertsein versank und man immer gespannt sein konnte, was als Nächstes kommen würde..
“Ich habe eine Utopie”, sagte Rihm als etwa 30-Jähriger, “dass ich, während ich komponiere, der Klang fast selber bin.” Eigentlich denke sich die Musik selbst weiter, wenn ihre Erfindung erst einmal begonnen habe, und idealerweise müsse das “ohne Formgeplänkel und Vorzeigeverlauf” nach außen dringen. In dem Gedanken zeigt sich der Komponist als eine Art Medium, aber zugleich gibt es kaum einen, der so reflektiert und kundig mit der Geschichte seines Metiers umgegangen ist. In seinem wohl meistgespielten Werk, der Kammeroper Jakob Lenz von 1979, werden vorhandene Musiksprachen unablässig zu Werkstoffen – aber nicht, um Bildung vorzuführen, eher schon als Befreiung von den Dogmen der Avantgarde, der Durakkorde da immer noch verdächtig waren.
Auch wenn Rihm eine Zeit lang bei Karlheinz Stockhausen studierte, knüpfte er vor allem an die Frühzeit der Moderne an, jene Jahre, als die kreativen Eruptionen in der Musik noch nicht zu Schulen und Systemen geworden waren. “Die Zeit um 1900″, schrieb er mir vor zwei Jahren, sei für ihn “die Batterie für fast alles, was folgte.” Es war einer jener Briefe, von denen man sich fragt, woher er auch dafür noch die Zeit nahm, neben dem Komponieren und neben dem Schreiben über die Musik, in dem sich ein enormes literarisches Vermögen zeigte – vergleichbar allenfalls mit dem des von ihm so verehrten Hector Berlioz. Dazu kommt noch, dass Rihm als Kompositionslehrer junge Hochbegabungen wie Rebecca Saunders auf ihrem Weg begleitete und sich öffentlich für die Kultur einsetzte. Unvergessen, wie er 1996 – nach knapp abgewendeter Halbierung der staatlichen Zuschüsse an die Donaueschinger Musiktage – erklärte: “Nur Scheiße darf noch teuer sein.” Das war auch deswegen wirkungsvoll, weil Wolfgang Rihm zwar sehr deutlich werden konnte, aber nie unversöhnlich war.
Wer seinen Kopf aus der Menge ragen sah – das außergewöhnlich große Haupt eines Hünen –, sah ein freundliches Gesicht, wer mit Rihm sprach, stieß auf Neugier und hatte zugleich das Gefühl, sich selbst schon auf dem “Kontinent Rihm” zu befinden. Schwerer als bei jedem anderen sind hier Mensch und Werk zu trennen. Das unablässige Neuansetzen im Komponieren, das Suchen nach immer neuen Sprachen, Zeichen, Farben ist ebenso ein Teil dieses Komponistenlebens wie die Kontinuität, mit der Rihm über viele Jahre hinweg sein Orchesterstück Vers une Symphonie Fleuve immer neu schrieb, oder mit der er in seinen Streichquartetten über die Jahrzehnte hinweg zu erkunden schien, wo er sich als Komponist gerade befand, so umfassend wie vor ihm nur Haydn, Beethoven und Schostakowitsch. Er war so sehr Musik, dass die Welt sich jetzt, bei allem Getöse, still anfühlt. Man kann sich vorstellen, Wolfgang Rihm mache einfach trotzdem weiter und sitze jetzt an seinem 14. Streichquartett.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien am 29. Juli 2024 bei ZEIT online Foto: picture-alliance/dpa.