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“Das 17. Jahrhundert war vorher für mich ein bisschen unterbelichtet”

Deutschlandfunk, Musikjournal am 31. Mai 2016: Christoph Schmitz spricht mit Volker Hagedorn über das Buch „Bachs Welt“

> Christoph Schmitz: „Bachs Welt – Die Familiengeschichte eines Genies“, so lautet der Titel eines vor kurzem erschienenen Buches über die Familie des Johann Sebastian Bach. Genauer, seines Vaters, seiner Onkel und Tanten, Großväter und Ur- und Ururgroßväter. Mitunter hat man beim Lesen aber vor allem den Eindruck, nicht nur die Biografie einer Musikerfamilie zu lesen, sondern einen Epochenroman des 17. Jahrhunderts. Die Lebensverhältnisse in dieser Zeit werden erzählt, die Lebensgewohnheiten, der 30jährige Krieg, die politisch-konfessionellen Verhältnisse, die Pestepidemien, wie die Musiker der Familie Bach in verschiedenen Generationen ihren Lebensunterhalt verdienten, welchen musikalischen Einflüssen sie unterlagen, was sie von der italienischen Musikszene rezipierten undsoweiter undsoweiter. War Ihr Porträt der Familie von Anfang an als Panorama gedacht? Das habe ich den Autor des Buches zuerst gefragt, Volker Hagedorn.

Volker Hagedorn: Als Panorama von der Ausdehnung, die sie jetzt skizziert haben, nicht. Dann hätte ich mich womöglich nicht da rangewagt. Von Anfang an konzipiert war, der Familie nicht nur in der Musik nachzugehen, sondern auch in den Lebensumständen, unter denen diese Musik entstand, unter denen diese ganze Dynastie gelebt hat. Und ich muss sagen, dass ich dabei mehr und mehr von diesem 17. Jahrhundert entdeckt habe, das zumindest für mich vorher ein bisschen unterbelichtet war. Und natürlich auch, je näher ich diesen Musikern und ihren Familien kam, je mehr hat sich mir der Alltag erschlossen, soweit das von heute aus machbar ist.

CS: Ich sprach eben von einem Panorama, das haben Sie bestätigt. Das Buch beginnt wie ein Roman und hat auch etwas Romanhaftes. Also nicht nur eine Familiengeschichte, sondern ein Familienroman über mehrere Generationen, würde ich sagen. Die Überschrift des ersten Kapitels lautet „Die Ankunft. Wie ein Bäckermeister aus Pressburg nach Thüringen flieht und eine Wirtstochter sich in einen Musiker verliebt“. Ich will es kurz weiter skizzieren, dann die ersten Sätze: „Die Männer kommen eine Meile hinter Nürnberg aus einem Feld, zwei Wegelagerer mit spärlichem Bartwuchs, mittelgroß, der eine bewaffnet mit einer Radschloss-Arkebuse, der Hahn ist gespannt. Er richtet sie auf Veit.“ * Soweit die ersten Sätze, mit diesem Veit Bach geht’s also 1591 los, Veit Bach ist der Ururgroßvater von Johann Sebastian Bach, wenn ich das richtig gesehen habe im Familienstammbaum am Ende des Buches. Im Jahr 1700 endet die Familiengeschichte, geht also über 100 Jahre. Nämlich wenn Johann Sebastian – der Zenith der Bachfamilie möglicherweise – sich als 15-jähriger zur Ausbildung nach Lüneburg aufmacht. Was hat Sie bewogen, Ihre Bach-Familiengeschichte so erzählerisch, ja so romanhaft anzugehen?

VH: Das Konzept ist im Wesentlichen so entstanden über das 4. Kapitel, mit dem ich begonnen habe, das der Hochzeit gilt. Denn das läuft zu auf ein ganz grandioses Vokal- und Instrumentalstück von Johann Christoph Bach, der es zu einer Bachschen Hochzeit komponiert hat. Das ist so authentisch wie auch das Uraufführungsdatum 29. April 1679, der Ort, und dieses Stück ist mir sehr vertraut, das hab ich auch als Musiker häufig gespielt…

CS: Sie sind Bratschist…

VH: Ja. Und von diesem Stück ausgehend hab´ ich beschlossen, die Uraufführung zu rekonstruieren. Das heißt, ich musste überlegen, wer kann dabei gewesen sein. Darum herum habe ich dann diese Ohrdrufer Situation entworfen, rekonstruiert, bis hin zu dem, was man gegessen haben könnte, bis hin zu den Predigtworten, und das hat meinen Lektor Uwe Naumann beim Rowohlt Verlag sehr überzeugt – ich hätte mir auch denken können, dass er sagt, also Entschuldigung, wir sind ´ne Sachbuchabteilung. Aber er fand das legitim, und das setzte dann den Maßstab für die restlichen Kapitel, wobei dieses Hochzeitskapitel das mit dem höchsten – in Anführungsstricheln – fiktionalen Anteil ist.

CS: Also die Hochzeit imaginieren sie, auch die Ankunft mit dem Überfall, immer wieder Lebensszenen, Hochzeiten, vor allem diese eine, Geburten, Beerdigungen, Szenen von Krankheiten, wie bei einem der Bachs die Pest ausbricht und wie der Mann reagiert, das Vergnügen des Komponierens und Musizierens erzählen Sie auch, Sie zitieren zudem sehr viele Originaldokumente jener Zeit und lassen sich von der barocken Sprache, die ja mit vielen lateinischen Begriffen nur so gespickt ist, inspirieren. Steckt in Volker Hagedorn auch ein Schriftsteller, jedenfalls ein Musikhistoriker mit großer Fabulierlust?

VH: Fabulierlust hat leicht was von Besinnungslosigkeit, ich würde  von Imaginierlust sprechen und vor allem davon, dass die Erfahrung, diese Musik selbst zu spielen, einen sehr nah an die ´ranbringt, die sie geschrieben und auch schon mal gespielt haben. Was eben ein weit größeres als das nur das musikhistorische Interesse erzeugen kann. Ich war sehr daran interessiert, Genres zu verbinden. Fachliteratur gibt es genug, und historischen Romanen misstraue ich ein bisschen, weil sie die Lizenz haben, überhaupt alles zu fabulieren. Da kann man sich dann drin verlieren und so´n bisschen das Bewusstsein abgeben. Ich wollte gerne alles mögliche zusammenkriegen und einfach auch Nichtmusiker da reinziehen können.

CS: Das ist für meine Begriffe ausgezeichnet gelungen. Der Musikhistoriker Hagedorn hat sämtliche Orte, in denen sich die Geschichte der Bachs in Thüringen abspielt, in der Gegenwart, also 2013, 14, 15, glaube ich, das wird öfters genannt, zur Recherche besucht. Wechmar, wo alles beginnt, Arnstadt, Ohrdruf, Erfurt, Eisenach, um nur wenige Orte zu nennen. Die Erfahrungen, Ihre Begnungen und Beobachtungen dieser Recherche fließen in den Text permanent ein. Ein roter Faden, eine zweite Erzählebene, so als wollten sie die Vergangenheit in die Gegenwart ziehen ? Oder umgekehrt in der Gegenwart eine Ahnung von der Vergangenheit bekommen? Wie sehen Sie das?

VH: Es ging mir darum, dass man sich bei aller Nähe, die ich versuche herzustellen mit dem 17. Jahrhundert, man sich nicht sozusagen in eine Epoche einkuscheln kann und aus unserer fliehen, sondern immer wach bleibt. Was das Ganze legitimiert, ist ja, dass die Musik aus dieser Zeit und eben nicht nur die von Johann Sebastian Bach uns auch heute noch wahnsinnig viel zu sagen hat. Allein das ist schon eine Verbindung über 400 Jahre hinweg. Und es gab eben etwas, was mir bei Musikliteratur, Sekundärliteratur immer gefehlt hat, nämlich diese Verbindung mit der Gegenwart: Was hat das mit uns zu tun? Und dann ist es auch so, dass ich vor allem Journalist bin und die Form der Reportage schätze, aus der hier viele Elemente einfließen. Was dann im Nachhinein mich darin bestätigt hat, diese Ebenen zu verbinden, und zwar auch oft fließend – also nicht, dass man eine linke und eine rechte Spalte hat, damit auch jeder Bescheid weiß, in welcher Zeit man grade ist – das weiß man sowieso -, war, dass bestimmte Sachen sich dann gespiegelt haben.

CS: Es läuft ja alles auf den Johann Sebastian Bach hinaus, mit ihm endet es. Man könnte nun das Ganze so verstehen, diesen Blick auf die Generationen ab dem Ururgroßvater von Johann Sebastian Bach, als ob Sie sagen wollten: Damit so ein Ereignis wie Johann Sebastian passiert, braucht es eine lange familiäre Vorgeschichte mit einem extrem tief, ja fast genetisch verankerten Musikleben.

VH: Wenn das das wäre, was nach der Lektüre bleibt – also: das alles ist nur geschehen, damit Johann Sebastian Bach auf die Welt kommen konnte -, wäre es eigentlich nicht das, was mich zu ganz wesentlichen Teilen motiviert hat. Natürlich würde man so ein Buch nicht schreiben ohne Johann Sebastian. Man möchte wissen: Aus welcher Welt kommt der eigentlich? Der ist ja nicht vom Himmel gefallen, obwohl manches wirklich so klingt und obwohl auch manche sagen, Entschuldigung, den muss man außer Konkurrenz betrachten, der ist extraterritorial. Ich finde, es wird zu wenig über die Bedingungen nachgedacht, gesprochen, geschrieben, unter denen Musik entsteht, und das war ein Motiv für mich, zu gucken: aus welcher Welt kommt Johann Sebastian Bach?

Anmerkung VH: Die Interviewabschrift bietet eine von mir leicht gekürzte Fassung des Gesprächs.

*in der ungeschnittenen Fassung kam u.a. auch zur Sprache, dass dieser Anfang bis ins Detail einem Brief von Claudio Monteverdi folgt, der 1613 sehr präzise einen Raubüberfall in Norditalien schilderte. Überhaupt stützen sich die fiktiven „Nahaufnahmen“ des Buchs überwiegend auf zeitgenössische Quellen.

 

Ein Ausweg aus dem Jammertal

Im 17. Jahrhundert verbanden sich Todesangst und Heilserwartung in einer Musik, deren Potential dieser Kunst auch unserer Gegenwart gewachsen ist. Die Geschichte eines Chorals

Der Mann krallt sich in den Dreck, der Bettler, Zuhälter, Zukunftslose, der jung ist und doch keine Chance mehr hat. Helles Geröll, auf dem er sich vor einem Wohncontainer krümmt, dieser Accattone. In einer gigantischen Industrieruine erlebte man das im vergangenen Sommer: Für die Ruhrtriennale wurde aus Pier Paolo Pasolinis Film „Accattone“ von 1961 ein Theaterereignis, und wie der italienische Regisseur setzte auch Johan Simons Musik von Bach dazu ein, neben dem Schuttfeld gesungen und gespielt. Zu Accattones tiefster Verzweiflung hörte man die Choralstrophe „Wer hat dich so geschlagen“.

Das Erstaunliche war dabei nicht etwa der Kontrast zwischen barocker Sakralmusik und modernem Elend, sondern die Zuständigkeit der Musik. Sie schien sich dem Loser zuzuwenden, sein Elend zu verstehen. Hier, wo weder das Ritual einer kirchlichen Passion noch ein Bühnenportal Distanz gewährten, wo man im Abendwind fröstelte, wirkte dieser Choral (wie andere geistliche Stücke) sehr direkt, lebenserfahren, geerdet – und zugleich so tröstend, das auch aufgeklärte Gottesdienstvermeider nicht umhin konnten, die Heilserwartung der Musik ernst zu nehmen. Beides liegt, bei aller Achtung, nicht nur an Bach.

Innsbruck, ich muss dich lassen

Wer sich auf die Spur dieses Chorals begibt, stößt auf eine lange Geschichte. Sie zeigt, wieviel „Accattone“ von Anfang an, vor allen Glaubensworten, dabei war; und wie dann, schon lange vor Bach, Musik und Religion so zusammen kamen, dass uns diese zwölf Takte so sehr berühren können. Die Melodie geht auf ein weltliches Lied zurück, Jahrzehnte vor der Reformation von Heinrich Isaac notiert – als Kopie oder eigene Erfindung – zu den Zeilen „Insbruck, ich muß dich laßen / ich far dohin mein straßen, / in fremde land dohin, / mein freud ist mir genomen, / die ich nit weiß bekummen, wo ich im elend bin.“

Ein Migrantenlied, könnte man sagen, zudem eines über den Verlust der Geliebten, die zurückgelassen werden muss. Nichts Metaphysisches, eine Leidenserfahrung. Martin Luther, der musikalischste unter den Religionsbewegern, hat sich für seine Choräle mehrfach bei solchen weltlichen Überlieferungen bedient, aber es war ein Anonymus, der Isaacs Lied anno 1555 zuerst vergeistlichte und in Nürnberg drucken ließ: „O Welt, ich muß dich lassen / ich fahr dahin mein Straßen / ins ewig Vaterland. / Mein’ Geist will ich aufgeben,/ dazu mein’ Leib und Leben / legen in Gottes gnädig Hand.“

„O Welt, sieh hier dein Leben“

Knapp hundert Jahre später waren Melodie und Zeit reif für einen anderen Text. Der führt zu einem konkreten historischen Hintergrund jener Tröstlichkeit, die man bei „Accattone“ erleben konnte: Als Paul Gerhardt 1647 in Berlin seine fünfzehn Strophen „O Welt, sieh hier dein Leben“ publizierte, währte der Krieg schon 29 Jahre, mit dem er wie alle in Mitteldeutschland groß geworden war. Den Hof seiner früh gestorbenen Eltern in Gräfenhainichen hatten 1637 mitsamt der ganzen Stadt schwedische Truppen niedergebrannt, zu den Überlebenden gehörte Pauls Bruder Christian, der dann an der Pest starb.

Das war für die Zeit kein außergewöhnliches Familienschicksal. Es gibt auch in der Familie der Bachs in jenen Jahren keinen, der nicht Zeuge von Gewaltexzessen geworden wäre, wenn nicht gar deren Opfer wie, vermutlich, ein hochbegabter Sohn des gräflichen Musikers Caspar Bach in Arnstadt. Der Junge wurde zu Heinrich Schütz in die Lehre geschickt – und verschwand 1625 spurlos. Wenn nicht Söldnerheere und ihre gigantischen Trosse das Land plünderten, Ansässige folterten, schändeten, töteten, dann sorgten massive Kontributitionszahlungen für Armut der Kommunen und ausbleibende Gehälter. Dazu verbreiteten die „Völcker“, die Heere, Infektionskrankheiten, gegen die es kein Mittel gab.

„Wer hat dich so geschlagen?“

In diesen Jahrzehnten wandelten sich die Texte, die zu alten (oder neuen) Choralmelodien geschrieben wurden. Aus dem „wir“ oder dem allgemeinen „ich“ in den protestantischen Chorälen des 16. Jahrhunderts wurde ein „ich“ als leidendes Subjekt, das sich mit der Inbrunst der Liebenden auf den Tod und auf Jesus freut (wie im 1653 erstmals gedruckten „Jesu meine Freude“ von Johann Franck) oder vor die Ergebenheit noch die Fassungslosigkeit setzt: „Wer hat dich so geschlagen, mein Heil, und dich mit Plagen so übel zugericht?“ Choräle und Kirchenmusik wurden in dieser Zeit geradezu ein Überlebensmittel.

Als Heinrich Schütz 1636, im September der Schlacht bei Wittstock mit 6000 Toten, seine „Kleinen Geistlichen Konzerte“ vorlegte, wies er darauf hin, „welcher gestalt vnter andern freyen Künsten / auch die löbliche Music / von den noch anhaltenden gefährlichen Kriegs-Läufften in vnserm lieben Vater-Lande / Teutscher Nation / nicht allein in grosses Abnehmen gerathen / sondern an manchem Ort gantz niedergeleget worden“. Die minimale Besetzung mit einer bis fünf Singstimmen und Basso continuo ohne weitere Instrumente war gleichsam ein „survival kit“, pragmatisch auf die Realität zugeschnitten.

Übung der Gottseligkeit

Ein anderes war die „Übung der Gottseligkeit in christlichen und trostreichen Gesängen“ des Berliner Komponisten und Kantors Johann Crüger, 1598 geboren. Die erste Ausgabe dieser Liedersammlung erschien 1640, mit alten und neu komponierten Melodien, die zweite, 1647, enthielt schon Texte von Paul Gerhardt, der inzwischen Hauslehrer in Berlin war und zu Isaacs Melodie gleich zwei Gedichte vorlegte – neben „O Welt, sieh hier dein Leben“ auch „Nun ruhen alle Wälder“, das geistliche Abendlied. Das mehrfach erweiterte Gesangbuch wurde mit 44 Auflagen zum meistgedruckten in der Geschichte der Protestanten.

Indessen hat nicht erst der lange Krieg Musik und Glauben der deutschen Protestanten existentiell und weit über die Kirche hinaus verbunden. Luther, ein exzellenter Sänger und Bewunderer des Josquin Desprez, dessen Polyphonie er in Rom kennenlernte, sah Musik als „Geschenk Gottes“, das anspruchsvoll realisiert werden sollte. Während vor der Reformation die Kantoreien an Klöster, Hofkirchen, bischöfliche Kirchen angeschlossen waren – wie die traditionsreichen Leipziger Thomaner und der Dresdner Kreuzchor – sollte nun jede Stadt ihren „chorus musicus“ haben, den ein Schulkantor trainierte.

„Lesen, schreiben, rechnen, singen / muss man aus der Schule bringen“, empfiehlt um 1600 der Mageburger Rektor Georg Rollenhagen, und ein Schulplan für Gotha von 1642 enthält eine ganze Liedordnung zur Einübung in das Kirchenjahr – wobei ausdrücklich auf den „Contrapunct des Vulij, Calvisij, Gesij oder Scheins“ verwiesen wird. Singen nach Noten ist dabei nichts Elitäres: Zu den größten Geschäften der „Galaxis Gutenberg“ schon im 16. Jahrhundert zählten Lieder, verbreitet in abertausenden Flugschriften, Einblattdrucken oder mehrseitigen Heftchen, die für die meisten erschwinglich waren.

Bauern singen besser als „Federhansen“

Mehrstimmig sangen an Sonntagen sogar die Thüringer Bauern: „Es ist sonderlich heut bey Tage in Thüringen / da die Bawren Knechte und Jungen / ob sie schon die Woche lang hinder dem Pfluge hergehen / doch Sonn- vnd Festtage vor das Polt treten / und so wol Instrumentis als vocibus vivis musicieren / machen Federhansen / wo nicht pronunciatione jedoch arte weit zuvor thun…“ 1626 wird mit solchen Worten die musikalische Praxis jenseits der Profis beschrieben, betrieben wird sie so schon länger. Viele Bauern in Thüringen singen und spielen demnach besser als mancher Musikgelehrte.

Das also ist die Basis, auf der sich im 17. Jahrhundert verbindet, was uns widersprüchlich erscheinen kann: Differenzierte Kunst und die tiefe Gläubigkeit von Menschen, die ihr Leben nicht nur in philosophischen Mußestunden „vom Tod umfangen“ sehen. Noch am Ende des Jahrhunderts kommen sie mit einer Lebenserwartung von 33 Jahren zur Welt, die, falls sie den sechsten Geburtstag erleben, auf 50 steigt – das Alter, in dem Bachs Eltern starben. Dem Choral – dem alten wie dem neuen, der aus dem Reich der Kirchentonarten in die gespanntere Dur-Moll-Tonalität gerät – wächst dabei große Kraft zu.

Versuchsanordnung mit Choral

Er bildet sogar das Rückgrat für Experimente, deren Gegenstand er zugleich ist. Denn Weisen, die jeder kennt, können auseinandergenommen werden, ohne zu zerbrechen. Johann Michael Bach, neben seinem Bruder Johann Christoph der bedeutendste Komponist der Familie in der Generation vor Johann Sebastian, ist ein Meister in der Kunst, einen Choralsatz in Fragmenten mit einem anderen musikalischen Geschehen abwechseln zu lassen in doppelchörigen Motetten. Wenn er etwa „Jesu meine Freude“ und „Halt, was du hast“ verschränkt, erlebt man in dieser Multiperspektivik weiten Raum und größte Geborgenheit.

Der „gebrochene“ Choral als Gegenüber, als Gewißheit, ein Ewiges, auf das man wie durch Fenster blickt, und zugleich als Stabilisator gewagtester Versuchsanordnungen ist dann bei Johann Sebastian Bach in letzter Entfaltung zu erleben. Parallel dazu verdichtet er den ungebrochenen Choral nach innen, durch eine Harmonisierung und Linienführung, der man nicht beikommt, wenn man sie spannungsreich oder schlicht „bachisch“ nennt. Dass jeder ihrer Töne unverzichtbar erscheint, liegt daran, dass diese Linien Schicksale haben, vor allem in den Mittelstimmen. Hier wird auch etwas beschrieben.

Gespeicherte Lebenserfahrung

Was in einem Choral wie „Wer hat dich so geschlagen“ schon lange vor Bach an Erfahrungen, Ängsten, Gewissheiten gespeichert ist, scheint dabei auf neuer Ebene Ausdruck zu finden – und natürlich durch seinen Platz innerhalb einer Passion. Dass aber all die Musiker und Dichter, Kantoren und Gemeinden, die sich allein hinter diesen zwölf Takten erkennen lassen, in einer völlig anderen Wahrnehmung lebten als wir, das zu erkennen ist durch die Vertrautheit der Musik nicht leicht. Sie waren von Religiosität so durchdrungen, wie man es heute eher im islamischen Vorderen Orient erlebt.

Das enorme Potential solcher Musik, was sowohl die Spiritualität wie auch die Lebenskunde, die Leidenserfahrung angeht, wird in den Kirchen der Industrienationen gern zu besonderen Anlässen und gesponserten Konzerten genutzt, gilt im Alltag aber eher als lästiges Erbe, mit dem sich neue Nutzer, pardon, Gemeindemitglieder schlechter „abholen“ lassen als mit Jazz, Pop und Crossover. Doch wir müssen weder in diese Kirchen gehen noch auch zu fundamentalistischen Lutheranern oder auch nur gläubig werden, um die Sensibilität, Zuversicht, Menschenkenntnis dieser Musik zu erleben.

Sie bewährt sich da, wo sie jenseits entleerter Rituale herausgefordert wird. Es ist kein Zufall und nicht der Innovationsgier von Intendanten zu verdanken, dass Kantaten und Oratorien vermehrt choreographiert und inszeniert oder einfach in Konzertsälen gespielt werden, sondern dem Bedürfnis nach substantieller und nicht ganz hoffnungsloser Auseinandersetzung mit der Gegenwart. In einer Zeit wachsender Spannung und Ungewissheit schließt ein Bachchoral, der sich in einer Industrieruine neben einem zukunftslosen Verzweifelten wie Accattone entfaltet, auf neue Art an viele jener Quellen an, aus denen er gespeist wird.

Dieser Text erschien in “128. Das Magazin der Berliner Philharmoniker” (Dezember 2015, S.26-32) zum Heftthema “Musik und Glaube” und ist urheberrechtlich geschützt.

Galoppierende Reporter

Lange vor der Aufklärung entstand in deutschen Landen eine kritische Öffentlichkeit. Die „Breaking News“ von damals kann jetzt jeder online lesen – in 600 barocken Zeitungen

Die Boten müssen ihre Pferde zu Schanden geritten haben, die Nachricht aus Magdeburg gelangte in sechs Tagen nach Wien, „am Montag / gleich umb Mittagzeit“, am 26. Mai 1631. Samstags ging die Zeitung in Satz, „Neu-ankommender Curier Auß Wienn“ betitelt, und meldete der Welt, dass „die weitberübmte feste Statt Magdenburg / welche biß dahen noch ein Jungfraw ist gewesen / den 20. dises umb 10. Uhr Vormittag / mit Sturm erobert“ worden sei. Näheres habe am noch Donnerstagabend „ein aigner Currier von Ihr Excellens Herrn General Tylli“ gebracht: Die Bürger selbst hätten die eroberte Stadt in Brand gesteckt und seien dann nebst ihren Soldaten „niedergehawet“ worden.

Diese früheste Meldung bot noch die harmloseste Variante dessen, was dann 19 weitere Zeitungen, 41 illustrierte Flugblätter und 205 Pamphlete in Europa verbreiteten: Das Grauen des Krieges, der schon dreizehn Jahre währte, hatte einen Gipfel der Bestialität erreicht. Auch wenn bis heute ungeklärt ist, wer die Brände legte, steht fest, dass von 30.000 Bürgern zwei Drittel starben, dass „alles was Mänlich nieder gehawen / Weiber vnd Jungfrawen geschendet / die Stadt durch alle Winckel geplündert / vnd sey nichts über geblieben / ausser dem Thumb [Dom] vnd darumb bey so 50. Häuser“, wie man es am 6. Juni 1631 im Stettiner „Bericht aus Pommern“ lesen konnte, ebenfalls einer Wochenschrift.

Der Gewaltexzess der kaiserlichen Truppen entsetzte ganz Europa und ist in die Annalen tief eingraviert. Wie zeitnah aber deutsche Leser in jenem Sommer darüber informiert waren, wird erst jetzt in aller Breite deutlich. Mit wenigen Klicks gelangt man mittlerweile auf die meisten der mehr als 350000 Zeitungsseiten aus dem deutschsprachigen Raum, die aus dem 17. Jahrhundert erhalten und in 250 Schubern der Bremer Staats- und Universitätsbibliothek auf Mikrofilm versammelt sind. Ihre Digitalisierung könnte unseren Blick auf jene Epoche verändern.

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Noch immer gilt vielen das 17. Jahrhundert als die dunkle, ja fast schon rückfällige Epoche vor der Aufklärung, besonders in Deutschland ein Chaos von Krieg und Pest, aus dem hier und da ein Dichter der Nachwelt erschütternde Verse reicht. Zur ganzen Wahrheit gehört aber, dass es bereits eine „solide Infrastruktur der Kommunikation“ gibt, wie der Saarbrücker Historiker Wolfgang Behringer feststellt, eine periodische Presse, die nicht nur Eingeweihte auf dem Laufenden hält, thematisch weltpolitisch orientiert ist und verblüffend zuverlässig geliefert wird. Deutschland ist sogar das Entstehungsland der Zeitungen. Ihre Zahl vergrößert sich gerade während des Dreißigjährigen Krieges, bis am Ende des Jahrhunderts allein in Hamburg und Altona acht Blätter mit teils vierstelligen Auflagenzahlen nebeneinander existieren.

Presseforscher wissen das seit Jahrzehnten, doch die unschätzbaren Bestände in Bremen blieben ein Korpus, der sich nur mit größter Mühe nebst Reise an die Weser erschließen ließ. Heute klickt man ein Jahr an, einen Monat, und bekommt gezeigt, an welchen Tagen Publikationen erschienen (über 600 Titel!), und kann in denen online bequemer blättern als in manchem Archiv aktueller Zeitungen.

Keiner kennt diese Sammlung so gut wie Holger Böning vom Bremer Institut für Presseforschung. In seinen Reihen erschienen rund hundert Bücher, vor Kurzem ist er als Professor in den Ruhestand gegangen, betreut aber noch zwei Forschungsprojekte. Er hatte sich für die Digitalisierung massiv eingesetzt. Dass man mit Blick auf die Presselandschaft zu Zeiten von Wallenstein bis Ludwig XIV., von Galilei bis Newton, von Rembrandt bis Corelli die Geschichte des 17. Jahrhunderts neu schreiben müsse, „das predige ich seit Jahrzehnten.“ Nicht nur er. Wolfgang Behringer, der mit „Im Zeichen des Merkur“ ein 861seitiges Grundlagenwerk über „Reichspost und Kommunikationsrevolution“ vorlegte, sieht in der Entwicklung sogar eine zweite Medienrevolution nach der Erfindung des Buchdrucks.

„Zeittungen“, also periodische Nachrichten zum Zeitgeschehen, waren zuvor nur handschriftlich oder quartalsweise in „Meßrelationen“ vermittelt worden. 1605 ließ dann der Straßburger Drucker Johann Carolus erstmals seine wöchentliche „Relation“ erscheinen, von der nur Exemplare seit 1609 erhalten sind. Die Erstausgabe wäre ein Sensationsfund. Der „Hochmut von Bibliotheken gegenüber dem Tagesschrifttum“, so Böning, habe viele Blätter ebenso verschwinden lassen wie der Zerfall des billigen Papiers. Doch es war ein Bremer Bibliothekar, der vor rund sechzig Jahren damit begann, einen Katalog der deutschen Presse anzulegen. Daraus entstand das Institut der Presseforschung an der Staatsbibliothek, das dann Teil der neu gegründeten Bremer Universität wurde.

Systematisch sammelte man dort Mikrofilme aller auffindbaren Zeitungen des 17. Jahrhunderts. Deren Rückvergrößerungen auf Papier werden, soweit möglich, in einen „Scamax Durchlaufscanner 403cd color duplex“ gelegt, der für eine Seite im Schnitt drei Sekunden braucht. Allerdings müssen die mehr als 60.000 Zeitungsausgaben des deutschen Barock manuell aufwändig erschlossen werden, ehe sie online nutzbar sind: Herausgeber und Ort, Berichtszeitraum, Erscheinungsdatum, dessen Übertragung in eine graphische Kalenderdarstellung – für all das braucht Projektleiterin Maria Hermes vier Mitarbeiter. Allein die Personalkosten belaufen sich auf fast 300.000 Euro, das ganze Projekt kostet 489.000 Euro,
285.000 kommen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Eines kann dabei nicht geleistet werden. „Die Volltextsuche ist eine Illusion“, sagt Maria Hermes. „Bei der automatischen Texterkennung werden 40 von 100 Zeichen falsch erkannt, denn die Typographie ändert sich mitunter innerhalb einer Ausgabe, und die Schreibweisen sind im 17. Jahrhundert nicht standardisiert.“ Doch wer sich von der Frakturschrift nicht abschrecken lässt, findet sich sprachlich gut zurecht, auch wenn kaum eine Meldung ohne ihren historischen Hintergrund verstanden werden kann. „Diese Blätter“, sagt Böning, „tragen nächst der Lutherbibel ganz wesentlich dazu bei, dass sicheine einheitliche Sprache entwickelt, die wir bis heute verstehen.“

Aber konnten Wochenzeitungen mit nur dreistelligen Auflagen prägend wirken? „Wichtige Meldungen verbreiten sich immer“, meint der Professor. Natürlich konnte sich ein Pfarrer, der vielleicht hundert Gulden im Jahr verdiente, kein Jahresabonnement für vier Gulden leisten. „Aber man konnte sich zusammentun. Auch wenn nur zehn Prozent die Zeitung lasen, war der Informationsstand da. Fragen Sie sich doch mal, woher der Happe seine Informationen hat.“ Volkmar Happe, ein gräflicher Hofrat bei Erfurt, hat handschriftlich eine erschütternde Chronik des 30jährigen Krieges hinterlassen. In ihr zeigt er sich gut unterrichtet auch über Gemetzel fern von Thüringen.

Dass er nie eine Zeitung erwähnt, deutet auf die Selbstverständlichkeit des wöchentlich gelieferten Mediums im postkartengroßen Quartformat hin, ehe es 1650 eine erste Tageszeitung gab – natürlich in Leipzig, der Messestadt, wo mehrere Postrouten sich kreuzten. Um 1700 hatte Sachsen das dichteste Postnetz Europas, die Zustellfrist zwischen Wien und Hamburg hatte sich von 19 Tagen auf sieben reduziert, und der erste Medientheoretiker war auf den Plan getreten. „Wer die Zeitungen nicht achtet“, schreibt 1695 Kaspar Stieler in „Zeitungs Lust und Nutz“, „der bleibet immer und ewig ein elender Prülker und Stümper in der Wissenschaft der Welt.“

„Es gab wirklich eine Qualitätspresse“, sagt Holger Böning, „in den Zeitungen wurden Dinge gewusst, die man auch in den diplomatischen Kreisen verhandelte.“ Da es keine Anzeigen gab, zählten nur die Käufer, und die wollten Zuverlässigkeit. Auch Politiker jener Großmächte, deren Auswärtige Ämter besonders ergiebig sind: In ihren Archiven, in Stockholm, St. Petersburg, Moskau und London, wurden die meisten Exemplare barocker Zeitungen aus Deutschland gefunden. Politisch wirksam wurden die Blätter auch dadurch, dass sich so jeder, der lesen konnte, über das Weltgeschehen informieren konnte.

Wie begehrt die Zeitungen waren, wird deutlich, wenn sich schon 1666 ein Hamburger Verleger gegen Raubkopierer wehrt, „weilen durch einige Nachdrucker meine Novellen vielen Jungen untergeben und fast wie die Muscheln auff allen Strassen außgeruffen auch unter meinem Nahmen verkauffet werden…“ Georg Greflinger war das, Gründer des „Nordischen Mercurius“, der ab 1664 wöchentlich zweimal mit zwölf Seiten erschien und als erstes Blatt auch Kommentare und Ansätze zu Feuilleton und Unterhaltung brachte. Hinter dem Wikipediaeintrag für dieses Blatt steckt übrigens die „SuUB“, die Bremer Staats- und Universitätsbibliothek, die so auch interessierte Laien zum Archiv locken will.

Das Bremer Projekt schließt eine große Lücke und liegt dabei im Trend, ein ganzes Jahrhundert neu zu entdecken. Da ist die Datenbank VD17, die alle im deutschen Sprachgebiet gedruckten Werke jener Epoche verzeichnet, auch die Bremer Sammlung, da ist die MDSZ-Plattform der Uni Jena, die Chroniken wie die von Volkmar Happe genau erschließt. Und da ist ein Gefühl der Melancholie, denn die frühe Blüte der Zeitungen erlebt ihren digitalen Sommer just zu einer Zeit, in der die „Talfahrt der Tagespresse“ auch durch die gleichnamige Studie von Andreas Vogel nicht gestoppt wird.

Einen wesentlichen Grund der Printkrise sieht Vogel weniger in der digitalen Revolution als im Verlust journalistischer Qualität. Man könnte da, so scheint es, vom 17. Jahrhundert lernen, als kein Anzeigenkunde die Einkünfte der Verleger sicherte, sondern die Qualität der Beiträge. Wer aber erkunden will, „was bey deren Lesung zu Lernen / zu Beobachten und Bedencken sey“, wie Kaspar Stieler schrieb, sieht das Institut für Deutsche Presseforschung vor düsterer Zukunft. Die Einrichtung hat aufgrund massiver Kürzungen vom kommenden Januar an nur noch eine halbe Stelle.

Die digitalisierten Zeitungen sind frei verfügbar unter http://brema.suub.uni-bremen.de/zeitungen17

Dieser Text erschien in der ZEIT, Ressort Geschichte, am 22. 10.15 und ist urheberrechtlich geschützt