Kategorie-Archiv: Historisch

Ein Julisonnabend in Hannover, 1690

hannover 1689

Hannover 1690: Der Gelehrte und die Herzogin

Sie ist wirklich der einzige Mensch, auf den er sich gefreut hat, als er zurückkam, wohin er nicht zurückkommen wollte. Gut, er hätte in Rom bleiben können, um dort die Vatikanische Bibliothek zu leiten, der neue Papst bot ihm das an. Aber konvertieren, wenn die katholische Glaubenslehre weiterhin die Sonne um die Erde kreisen lässt? Als Wissenschaftler, im Jahre 1690? In Wien wäre er auch gern geblieben, in kaiserliche Dienste getreten, daraus wurde nichts, trotz der Audienz, er sah da förmlich, wie Leopold I. innerlich gähnte, als er ihm darlegte, was man alles reformieren könnte.

Also nach zweieinhalb Jahren Reise wieder hinauf in den Norden, in dieses Nest beschränkter Köpfe, in einer flachen, unspektakulären Landschaft. Hannover ist zehn Mal so klein wie Wien, aber mit einem Herzog, der hoch hinaus will. Sonst hätte er ihm die Reise nicht bezahlt, der Welfe, der versessen auf die Kurwürde ist und seinen Hofrat losschickte, um in europäischen Bibliotheken Dokumente zu sammeln. Es soll belegt werden, zugespitzt gesagt, dass die Welfen praktisch schon bei der Gründung Roms dabei waren. Tausende von Kilometern mit einem Schnitt von 40 Kilometern am Tag, schneller geht es nicht auf den zwei schmalen Bändern aus Steinen, die man Landstraßen nennt. Keine Federung zwischen Achse und Karosse. Die letzten Meilen, bis von Süden das Ägidientor erreicht war, haben geschmerzt.

Was ihm die Rückkehr leichter machte, war Sophies letzter Brief, noch von Ende Februar, „A Monsieur de Leibenitz à Modene“. Sie hatte sich über seine Neujahrswünsche mehr gefreut als über alles, was ihr Könige und Fürsten schickten, und hoffte ihn wiederzusehen, solange ihr Mann mit dem Heer unterwegs war. Etwas hatte ihn erschrocken in dem Brief, was er doch längst wusste, „Vostre bibliotheque cet convertie en theatre“. Sie haben ein ganzes Opernhaus angebaut ans Schloss, und die Hofbibliothek samt Hofrat in der Leinstraße gleich gegenüber untergebracht, zwei Stuben und ein Saal mit mehreren 10.000 Bänden. Da wohnt er nun seit einigen Wochen.

Er kann der Herrschaft jetzt also direkt in die Fenster sehen. Nicht nötig. Er wird Sophie gleich selbst treffen an diesem Julisonnabend, sie ist vorausgefahren nach Häringhusen, wie das mal hieß, ehe die Herzogin dort ihr kleines Versailles einrichtete. Nur ein kleines Versailles? Allein der französische Garten soll mit 50 Hektar so groß werden wie die ganze Altstadt hier. Und während in der Residenz alles nach der französischen Mode geht, nach der Musik, zu der Louis Quatorze tanzt, und nach den Kleidern, die seine mächtige Mätresse trägt, die Martinon, ufert der Krieg aus, den er begann. Der Hofrat faltet auf der kurzen Fahrt die Zeitungen auseinander. Der Norddeutsche Mercurius weiß von einer Seeschlacht, zu der die französische Flotte auslief, Ausgang jetzt unklar, obwohl die Schlacht schon zehn Tage zurückliegt. Dass 15.000 Männer das Leben verloren haben und Frankreich sich einen Sieg auf die Fahnen schreiben kann, wird Leibniz erst später lesen können.

Ihre Allerhöchste Durchlaucht ist nicht allein, als er in ihre Gemächer in Herrenhausen geführt wird. Ihre Hofdame, die Harling, ist bei ihr, zum Glück spricht sie so gut wie kein Französisch. Allerdings würde sie den meisten Themen, die Leibniz interessieren, auch auf Deutsch kaum folgen können, außer dem Hoftratsch natürlich, da muss man sehr vorsichtig sein, da scheint die Harding sogar Französisch zu verstehen. Die beiden Damen sind mit Stickarbeiten befasst, als er eintritt, und natürlich bleibt Sophie sitzen, während er sich verbeugt. „Vostre altesse…“ Er möge sich setzen, sagt sie, als sei er nicht zweieinhalb Jahre lang fort gewesen. Als habe sie sich nie um ihn gesorgt.

Die Mode hat sich etwas gewandelt. Zuletzt sah man mehr von ihren schönen Schultern, die nun ein blauweiß gestreifter Brokatstoff bis knapp über die Gelenke erklommen hat. Aber die Herzogin, diese Mutter von sieben Kindern, ist offenbar nicht älter geworden. Mit ihren nun 60 Jahren scheint sie der Natur weniger ausgeliefert als andere, sie kann es sich sogar leisten, offen zu lächeln. Nie in ihrem Leben hat sie einen jener Zahnmediziner aufsuchen müssen, die diesen Namen noch lange nicht verdienen und denen der Sonnenkönig den Verlust sämtlicher Zähne und ein Loch im Gaumen verdankt.

Und wen sieht sie vor sich, die Tochter der Elizabeth Stuart? Sein bräunliches Haupthaar sieht sie nicht. Auch im Sommer trägt er die bis zur Brust in schwarzen Locken herabwallende Perücke um sein blasses Gesicht. Sie sieht einen 46jährigen von mittlerer Statur, hohe Stirn, kräftige Augenbrauen, ein Anflug von Lächeln, etwas festgefroren. Es taut auf, als sie ihre Hofdame entlässt, um mit ihrem gelehrten Freund in den Großen Garten zu gehen, zur neuesten Baustelle.

Ja, noch ein Theater, ein kleines. Der Kies knirscht unter den Schritten der beiden, zwischen Blumen. Herrenhausen ist ihr Werk, ihr Reich, nicht das des Herzogs. Ernst August, sagt sie, habe kürzlich in Augsburg sogar seine Konversion anbieten lassen, um den Kurhut zu erlangen, die Kurwürde, deretwegen er auch den Hofrat auf die Reise schickte. „Es hieße eine Krone hergeben für einen Hut“, sagt Sophie. Er muss lachen. Das geschieht selten, dass Gottfried Wilhelm Leibniz von Herzen lacht, aber dieser Witz trifft den Kern einer komplexen Sache wie eine elegante Gleichung.

Die protestantische Krone Englands schwebt auf längere Sicht über eben der Dame, die hier über Hüte scherzt. Man weiß ja nie, wer wann stirbt, vielleicht kommt auch ihr Ältester auf Englands Thron. Sophies Gesicht verschattet sich, als sie ihn erwähnt. Georg Ludwig, jetzt 30, kommt nach seinem Vater, er hält sich Mätressen neben seiner Frau, er ist etwas brutal und mäßig intelligent. Das sagt sie nicht, das weiß Leibniz so gut wie jeder andere hier am Hof. Er, der neben Mathematik, Philosophie, Technik die europäische Diplomatie überblickt wie andere einen Stadtplan von Hannover.

„Ist es nicht wunderschön?“, sagt die Herzogin. Sie haben das Gartentheater erreicht. Er hat schon viel gesehen auf seinen Reisen, aber so etwas noch nie. Die Bühnengassen sind vollständig aus Hecken gebildet, tausende von jungen Hainbuchen aus dem Umland . Für Theater interessiert sich Leibniz in Maßen, doch er weiß die Tricks zu schätzen, die er hier sieht: Die Spielfläche steigt nach hinten an, ebenso wie die Heckenwände dorthin zusammenrücken. Eine Verengung des Raums, die die Perspektive verlängert. Er ist des Lobes voll.

Was er denn davon hielte, fragt Sophie ihren Hofrat, wenn zu den Hecken noch vergoldete Figuren kämen. Das sei vielleicht auch eine Frage des Geldes, wagt er einzuwenden. „Gesetzt, wir halten etwas für gut“, sagt sie beiläufig, „so ist es unmöglich, dass wir es nicht auch wollen.“ „Mais vostre altesse…das ist… “ „Ja, das ist von Ihnen, vor siebzehn Jahren! Ihre confessio. Und Sie fuhren fort: ,Gesetzt, wir wollen es und kennen zugleich die uns zu Gebote stehenden äußeren Hilfsmittel, so ist es unmöglich, dass wir es nicht ausführen.‘“

Er neigt den Kopf. Sie lächelt. Ein sehr feines Lächeln, ein Hauch Spott darin. Schon möglich, dass er es hier doch noch etwas länger aushält.

Hannover 1690: Der Hofmusiker

In der größten Stadt der Welt sitzt ein Achtjähriger am Cembalo der jungen Königin Charlotte und spielt vom Blatt, was sie und George III. ihm geben – Stücke von Händel und von beiden Musiklehrern der Königin, Johann Christian Bach und Carl Friedrich Abel, miteinander befreundet und bald auch mit dem Jungen, dessen Vater Leopold Mozart aus London nach Salzburg schreibt: „Alles hat er prima vista weggespielt“. Carl Friedrich Abel ist ein berühmter Gambist und Komponist. Eine Sinfonie von ihm schreibt sich der Junge ab.

Das war 1764 im Mai. Auch von da aus kann man auf den Juli 1690 in Hannover blicken, da kommt nämlich neben Herrn Weyhe gerade Herr Abel aus dem Opernhaus, ein Gambist, der von vielem etwas weiß, aber ganz sicher nichts von einem Enkel namens Carl Friedrich oder von irgendwelchen Mozarts. Es ist heiß. Die beiden Musiker in der Leinstraße lockern in der Mittagssonne ihre Hofkleidung, so weit es schicklich ist, den Oberrock trägt man ohnehin geöffnet. Wie der sich wieder aufgespielt hat, schimpft Ludolf Weyhe, etwas alterskrumm neben seinem stattlichen Kollegen Clamor Heinrich Abel.

Der will gerade antworten, als ein Vierspänner vorbeirasselt, am Wagenschlag zwei Löwen gelb auf rot, ein Löwe blau auf gelb. Ihre hochfürstliche Durchlaucht, die Herzogin. Sie wird wohl ihre neue Lieblingsbaustelle inspizieren, das Gartentheater. Noch ein Theater für diese Residenz. Vor einem Jahr erst ist das Opernhaus eröffnet worden, vor dem sie stehen.

Ja, Farinelli hat sich wieder aufgespielt, Franzose, eigentlich heißt er Jean Baptiste Farinel, Geiger, Konzertmeister hier seit zehn Jahren, scheint genauestens zu wissen, wie man in Versailles den Bogen führt, wo er doch nie war. Aber jetzt ist Versailles überall, wo man auf sich hält. Französische Flöten, französische Oboen, französische Verzierungen, Vorhaltstriller auf allen großen Terzen, man gewöhnt sich dran. Schlecht sei die neue Kantate ja nicht, die sie gerade probten, meint Abel, aber sein Kollege ist immer noch in Rage. Weyhe, der dienstälteste Musiker, seit 26 Jahren hier, wendig auf allen Tasten.

Beim vorigen Herzog hat man auch deine Musik noch gespielt, sagt Weyhe. Lange her, sagt Abel gleichmütig. Er kam vor 23 Jahren hierher. Als einzige haben die beiden alle Wechsel in der Hofkapelle überstanden. Als Abel seine Stelle antrat, waren sie acht deutsche Musiker neben 21 italienischen, hauptsächlich Sänger. Dazu noch zwei Franzosen, die waren damals noch nicht so in Mode. Dafür wurden hier am Hof sogar seine, Abels „Musikalische Blumen“ gespielt, für vier Instrumente. Im selben Jahr 1674 hat er sich stolz in Kupfer stechen lassen. Markantes Kinn, scharf geschwungene Augenbrauen, Perücke, Halsbinde, dazu eine Inschrift auf Latein.

Inzwischen ist er 56 Jahre alt. Eigentlich kann er nicht klagen. 220 Taler Gehalt im Jahr, das ist das Dreifache dessen, was ein Kapellmeister an einem kleinen Fürstenhof bekommt. Zuerst diente er dem konvertierten Herzog Johann Friedrich, der den ganzen Norden zum römischen Glauben bekehren wollte. Der sich, das muss man sagen, auf die Musik verstand. Er nahm seine Musiker auch mit nach Venedig. Abel, der Gambist, war ein paar Mal dabei, unvergesslich. Monatelang Karneval. Die Welfen hatten Logen in sechs Opernhäusern, ein Gefolge von 200 Leuten, Empfänge, Affären.

Darin hat es Ernst August erstmal nicht anders gehalten, nur von Musik versteht er nicht so viel. Er rückte in die hannoversche Residenz  nach, als sein Bruder gestorben war. Man wechselte am Hof wieder zum Protestantismus, der Etat für Musik wurde um um drei Viertel reduziert, nur für Getöse ließ er etwas springen: Pauker und Trompeter bekamen fast doppelt soviel wie vorher. Aber am liebsten gab er sein Geld – SEIN Geld? – in Venedig aus, wo er auch eine uneheliche Tochter hat.

Zuviel Geld, zu viele Affären. Deswegen haben sie nun das Opernhaus hier, damit Ernst August nicht immer an die Lagune reist, aber dafür im Norden Aufsehen erregen kann. Fünf Ränge, 1300 Plätze. In einer Stadt von 10.000 Einwohnern! Logen mit Skulpturen, Wandbekleidung aus Goldstoff, den feuerroter Sammet durchwirkt. Was allein die weißen Kerzen kosten! Für eine große Wachskerze müsste ein Handwerker zwei Wochen lang arbeiten.

Diese Stadt und der Hof, das sind zwei Welten. Wie ein riesiges fremdes Herz sitzt das Schloss zwischen der Altstadt und der Neustadt am Fluss, mit all seinen Geheimen Räten und Kammerherrn und Hofgerichtsassesoren und Hofdamen und hunderten von Dienstleuten und, ja, seinen Hofmusikern aus ganz Europa. Mit einem Hofkapellmeister, der so viele Sprachen spricht wie der berühmte Herr Leibniz und eine Oper nach der anderen schreibt. Nicht für die Städter, sondern für die Welfen und ihre vornehmen angereisten Gäste und ihr Gefolge. Die Bürger kommen selten über die Wassergräben hinaus, außer auf dem Weg zu den umliegenden Dörfern. Das ihre wird es nie, das fremde Herz.

Wer sich nur ein paar Schritte vom Schloss wegbegibt, steht schon im Dreck. Es gibt nicht viele Straßen hier, auf denen es sich so rasseln lässt wie vorhin die Kutsche der Herzogin. Wer in Hofkleidung unterwegs ist, braucht schon wegen des Drecks eine Sänfte. Und nur um das Schloss herum ist es nachts beleuchtet.

Abel verabschiedet sich von Weyhe und stapft die paar Schritte durch den in der Sonne trocknenden Straßenschlamm zum Haus in der Kramerstraße, in dem er mit seiner Familie wohnt. Er nickt dem Bettler zu, der da immer am Torstein sitzt, dem hat er heute früh schon seinen Heller hingeworfen. Drinnen hängt ein Topf über der Herdstelle, seine Frau Magdalene stellt Teller hin. Wo denn die Katharina sei, fragt er. Die Dienstmagd werde nachmittags wieder da sein, sie habe ihr einen Kirchgang erlaubt. Eine Leichenbestattung.

Abel freut sich, als sein Sohn hereinkommt, sein jüngster, Christian Ferdinand, und mit ihm ein Freitischler aus seiner Schulklasse, den sie hier durchfüttern. Christian macht sich nicht schlecht mit seinen acht Jahren, auf Geige wie Gambe. Das liegt in der Familie, schon Abels Großvater war Musiker. Abel speist schweigend. Vielleicht überlegt er, ob dieses Leben, das er so lange schon kennt, etwas für seinen Sohn sein könnte. Der goldene Käfig des Hofs, die dreckigen Gassen der Stadt. Was er denn grübele, fragt ihn seine Frau. „Ach Herzenkind“, sagt er, „ich hab so lang schon keine Musik mehr geschrieben.“

Man wünschte, er wüsste, dass sein Sohn sich später in der Hofkapelle in Köthen mit dem neuen Kapellmeister dort befreunden wird, einem Herrn Bach, der dem exzellenten Gambisten drei Sonaten schreibt. Dass auch Christians Sohn ein Gambist wird und Komponist dazu, der es bis nach London bringt. All das hätte ja auch anders kommen können. Aber hier fängt es an.

Hannover 1690: Die beiden Mägde

Die beiden treffen sich auf der kurzen Brücke, wie immer. Zehn Meter, die von der dicht bebauten Leineinsel zur Neustadt führen. Katharina ist aus der Altstadt gekommen. Alke holt sie hier ab. Zwei Frauen Anfang 20 in Holzpantinen und weiten Röcken, weiße Tücher ums Haar gebunden, Dienstmädchen, Verdienst eineinhalb Groschen am Tag, sechs Euro. Alke Wichmanns hat nicht gewusst, ob Katharina Müller würde kommen dürfen, sie wollte es versuchen, ihre Herrschaft lässt mit sich reden, ein Hofmusikus und seine viel jüngere zweite Frau, mit der sie sich gut versteht. Sie habe der Frau Abel gesagt, meint Katharina, dass der vornehme Herr ihrer Freundin den Kirchgang nach Limmer verstattet habe, und das einem Sonnabend. Das hat geholfen. Sie machen sich auf den Weg zu einer Beerdigung, die unterhaltsam zu werden verspricht…

So viel Glück wie Alke, die mit ihrer Mutter im Haus des Herrn Behrens in der Neustadt arbeitet, haben die allerwenigsten Dienstmädchen. Herr Behrens ist bekannt für sein gutes Wesen. „Durch diese Tür trete kein Ungemach“, steht an seinem prächtigen Fachwerkhaus in der Langen Straße, und „Viel Gutes“, und zwar in hebräischer Schrift, die Alke sowenig lesen kann wie irgendeine andere Schrift, man hat es ihr gesagt. Elieser Leffmann Behrens ist furchtbar reich, das weiß sie, er liefert Kutschen an den Herzog, und wohl noch vieles mehr, aber in der Altstadt dürfte er nicht wohnen mit Frau und Kindern und Dienern, kein Jude darf dort wohnen. Das war schon immer so, hat ihre Mutter gesagt. Was beinah stimmt, es ist jetzt schon seit über hundert Jahren so. Aber wer will denn überhaupt in der dreckigen Altstadt wohnen?

Das sagt sie der Katharina nicht, die schon genug klagt über die Marktleute auf dem Marktkirchenhof, die da ihre Notdurft verrichten, nah dem Rathausbalkon, auf dem die Todesurteile verkündet werden. Lange bleiben die beiden nicht auf der Brücke stehen, bei diesem warmen Wetter stinkt der schmale Fluss vom Unrat. In der Neustadt ist es sauberer. Mitten hindurch führt breit die gepflasterte Calenberger Straße vorbei an stattlichen neuen Häusern – breite Steinfassaden, hohe Geschosse, Verzierungen. Viele vom Hof wohnen hier. Aber es gibt auch fein gekleidete Leute, die Katharina beim Schloss noch nie gesehen hat. Alke zeigt verstohlen auf zwei Herren in knielangen reichverzierten Justaucorps: „Dat sünt Hu-ge-notten!“

Im vorigen Jahr kamen die ersten sieben Familien, auf der Flucht vor dem Franzosenkönig, der in seinem Reich keine Protestanten mehr duldet. Dazu weitere neun jüdische Familien. Alke erzählt, dass es jetzt sogar eine kleine Synagoge und einen Rabbiner gibt. Katharina überlegt, was sie ihrer Freundin Interessantes aus der Altstadt erzählen könnte, aber ihr fällt nur wieder etwas vom Hof ein: der Elefant, der neulich über die Treppen des Schlosses hinaufgeführt wurde, damit die Herzogin sich an dem Rüsseltier erfreuen konnte.

Die beiden Frauen haben nun den Wall erreicht und das Tor zwischen den Bastionen, die in den fünfzig Meter breiten Graben ragen. Das Wasser umfasst die ganze Neustadt und die ganze ummauerte Altstadt. Hannover gilt als uneinnehmbar, aber an einer Eroberung dieser Stadt ist wohl niemand interessiert, nicht mal der Sonnenkönig. Über zwei Brücken müssen Alke und Katharina noch gehen, bis sie den Weg zum Ihmefluß erreicht haben. Über den führt ein hölzerner Behelf neben der Baustelle für die Steinbrücke.

Wie merkwürdig, von hier aus zurückzuschauen auf den gedrängten Haufen Häuser mit den vier Kirchtürmen unter der Julisonne! Es duftet nach Gärten und Feldern. Nun seien sie bald „to hus“, sagt Alke fröhlich, wobei sie noch durch das große Dorf Linden wandern müssen, um ins kleine Limmer zu kommen, wo gerade mal 180 Menschen leben. Hier leben auch Alkes Brüder, Katharinas Mutter und vor allem der berühmte Herr Sackmann. Den wollen sie heute hören, den Prediger, den sie seit Kindertagen kennen. Denn Jobst Sackmann predigt in ihrer Sprache, auf Plattdeutsch. Seine Kirche ist immer voll und die Leute sind mucksmäuschenstill, sofern er sie nicht zum Lachen bringt. Und nun ist im Dorf der Schulmeister gestorben. Alkes Brüder hat er unterrichtet, aber nicht Alke und nicht Katharina. Die beiden Frauen würden es nicht glauben, dass es im fernen Erfurt schon lange eine Schulpflicht für beide Geschlechter gibt.

Inzwischen sind sie bei so vielen Gemeinsamkeiten angekommen, dass Alke ihre Freundin zu fragen wagt, was denn aus dem wohlgestalten Bauernsohn aus dem Dorf im Norden geworden sei, von dem ihr Katharina im vorigen Sommer erzählt hatte. Der von der Kirmes, dem habe sie doch in aller Vorsicht das eine oder andere Stelldichein gewährt? Zum letzten, sagt Katharina nach einigem Schweigen, am Lister Turm nahe bei seinem Dorf, kam er nicht. Der Johann habe eine reiche Witwe geheiratet, eine… sie bricht ab, als sie sich anschicken, einen langsam dahinrollenden Heuwagen zu überholen. Hinter so einem Wagen, hinter seinem Wagen ist sie einmal mit Johann gegangen. Aber das sagt sie Alke nicht. Sie ist froh, dass sie nun hier mit ihr am andern Ende der Welt entlangwandert, auf das Dorf Limmer zu, wie gar nicht wenige.

Als sie die kleine Kirche erreicht haben, ist unten das Weibergestühl schon voll, die beiden müssen sich an den Rand stellen, und auf der Empore drängen sich die Männer. Katharina erkennt eine Hofdame. Es hat sich in der Stadt herumgesprochen, dass man hier draußen Interessantes zu hören bekommt. Sofern man es denn versteht. „De Dod let seck de Hand nich smären“, erklärt Jobst Sackmann schon bald nach Beginn seiner Leichenrede, neben des Schulmeisters Sarg, „saune ole Hore is he nich!“ So´ne alte Hure sei der Tod nicht, den könne man nicht kaufen, der komme, wie es ihm passe, den könne nicht mal die Schlosswache in Hannover aufhalten, und so hole er nicht nur einen Schulmeister, sondern auch Herzöge wie den Johann Friedrich, ein braver Mann, auch wenn er Katholik gewesen sei.

Was für eine schöne Musik man in dem seiner Schlosskirche habe hören können! Und nun schweift der Pastor ab und erzählt von den Blutschelmen, die da vormals sangen, die im Diskant so hoch quinkeliert hätten wie de besten Deeren, wie Mädchen, weil sie nämlich kapauniert waren, sagt Sackmann mit sattem Bariton und dann auf Hochdeutsch: „Dergleichen Leute sie in ihrer Sprache Kastraten heißen!“ Unversehens funkelt er von seiner Kanzel herüber zu Alke und Katharina und ruft: Was die beiden Mädchen da zu lachen hätten? Dabei haben sie gar nicht gelacht über die Kastraten, anders als die Männer auf der Empore. Sie würden sich lieber verkriechen, als der Prediger dröhnt, sie wüssten ja wohl, wo Barthel den Most holt. Und das in einer Leichenrede!

Über die Hofsprache zieht er nun her, da werde eine Kutsche jetzt Chaise genannt und eine Hure Mätresse, und jeder hier weiß, dass der Herzog Ernst August eine hat, dass sie zwei Kinder von ihm hat und eine Loge neben seiner in dem neuen Opernhaus, in dem noch keiner war von den Leuten hier und auch nie sein wird, außer natürlich die Hofdame hinten im Weibergestühl, die keine Miene verzieht und sicher Bericht erstatten wird, man weiß nicht wem.

Wir wissen nur, dass später, als Ernst August nicht mehr lebt, seine Witwe Sophie sich Abschriften von Sackmanns Predigten beschafft und sie mit Vergnügen weiterverschickt. Von Alke Wichmanns und Katharina Müller wissen wir nicht einmal die Namen. Wir wissen nur, dass es viele wie sie gab, des Hofes wegen, in diesem Jahr fast tausendvierhundert Mägde und Zofen in dem kleinen Hannover. Schreiben kann kaum eine, und über keine von ihnen wird jemals etwas geschrieben. Aber wenn wir die Kindeskinder von Alke und Katharina sehen wollen, brauchen wir uns nur HIER umzuschauen.

Diese Texte sind urheberrechtlich geschützt. Sie entstanden für das Programm “1690: Ein Festkonzert” im Rahmen von „Herrenhausen Barock“ am 19. Februar 2023 in der Galerie Herrrenhausen. Mitwirkende: Dorothee Mields, Sopran, Volker Hagedorn, Rezitation, la festa musicale, Ltg. Anne Marie Harer.

Das Modell der Stadt Hannover im Jahr 1689 befindet sich im Neuen Rathaus der Stadt, es entstand auf Basis zeitgenössischer Karten und einer für dieses Jahr vorliegenden sehr differenzierten Steuererhebung. Von den Publikationen, die mir als Quellen dienten, sei hier nur eine genannt, aber hervorhebend: Der berühmte Herr Leibniz – Eine Biographie (München 2000) von Eike Christian Hirsch. Diesem Buch verdankt sich vieles im Text über Leibniz und die Herzogin. Ich schrieb ihn auch in Gedanken an den wunderbaren Schriftsteller, Freund und Ermunterer Eike Christian Hirsch, der am 6. August 2022 mit 85 Jahren in Hannover starb.

 

 

“Barkouf” und das Paris des Jahres 1860

Wie Jacques Offenbach auf dem Weg zur Oper zwischen alle Stühle geriet: Umgebung, Entstehung und Unterdrückung eines Meisterwerks

haussmann 1866

Vom einen Theater zum anderen, von den Bouffes-parisiens bis zur Opéra-Comique geht man acht Minuten, immer noch. Doch vieles hat sich geändert. Der Jacques Offenbach des Jahres 1860 wäre überrascht, eine Rue du 4 Septembre überqueren zu müssen. Die ist auch 1866 noch nur zart eingezeichnet unter die Linien der Vermesser, die im Auftrag des Präfekten Haussmann den bis dahin präzisesten Plan von Paris vorlegen und ebenso zart die Schneise der geplanten Avenue de l´Opéra skizzieren. Unbedroht bleibt ein schraffiertes Quadrat an der Passage Choiseul: „Bouffes-parisiens“. Eine Institution, nicht wegzudenken, nicht einmal von Baron Haussmann. Mit diesem Theater unfern der Seine ist Jacques Offenbach berühmt geworden, seit er es 1855 gründete.

Aber seine Träume, seine Visionen gehen nicht erst 1860, dem Jahr von Barkouf, über das Milieu unterhaltsamer Komik hinaus. Die große Bühne, das Theater als Repräsentationsort des Bürgertums, hat er schon bald kennengelernt, nachdem er 1833 mit Vater und Bruder aus Köln nach Paris zog, in die Hauptstadt einer Nation, in der Juden nicht als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden, ins Zentrum der europäischen Musikwelt. Schon mit fünfzehn Jahren sitzt der flammend Begabte als Cellist im Orchester der Opéra Comique in der Salle Favart, spielt Werke von Boieldieu, Auber, Mozart, Rossini und nimmt Unterricht beim Opernkomponisten Fromental Halévy.

Die Salle Favart jener Jahre ist wenig später abgebrannt und durch ein prachtvolles Gebäude am selben Platz ersetzt worden, das man für feuersicher hält (ein Irrtum, dem sich die 1898 eröffnete dritte Salle Favart verdankt). Und diese Institution behält Offenbach im Sinn, während er als Cellist in Salons und als Komponist mit Tanzmusik reüssiert. Das bleibt auch so nach dem beispiellosen Erfolg seines Orphée aux enfers, der nach der Uraufführung 1858 ganze 227 Mal in Folge gespielt wird. Als Genie doppelbödiger Buffonerie ist der 41-jährige eine Größe über Paris hinaus in jenem Sommer 1860, als sich der frisch installierte Intendant der Opéra-Comique an ihn wendet. Eine Oper von vier Akten wird gewünscht, der Entwurf eines Libretto liegt vor. Endlich!

Es muss wieder Schwung in die Bude

Das renommierte Haus, mit umgerechnet jährlich rund zwei Millionen Euro subventioniert, hat in den 1850ern ein wenig sein Profil verloren, die Leichtigkeit und Heiterkeit der Sujets. Selbst Giacomo Meyerbeers Étoile du Nord ist dort gespielt worden, eigentlich eine Grand opéra, mit einem Minimum gesprochener Dialoge als opéra-comique maskiert. Der von den britischen Kulturtouristen viel gelesene New Paris Guide der Brüder Galignani stellt in der Ausgabe von 1860 fest, man folge an der Opéra-Comique inzwischen „einem elaborierteren, vielleicht auch gelehrten Stil, aber weniger populär“. Gut möglich, dass Intendant Alfred Beaumont da in seiner ersten Spielzeit gegensteuern will mit einem wie Offenbach. Auf bewährter Basis freilich: Librettist Eugène Scribe, jetzt 68 Jahre alt, schrieb nicht nur für die Blockbuster von Meyerbeer, von Robert le diable bis zu Le prophète, dazu fast alle Opern von Auber – er beherrscht jedes Genre und eine ganze Textfabrik.

Nach Scribes Plan hat ein junger Autor Le Sultan Barkouf geschrieben, eigentlich für den Komponisten Clapisson und für das innovative Théatre Lyrique. Weil dort nichts daraus wird, bekommt Offenbach den kuriosen Text, halb Drama, halb Politsatire. Barkouf heißt der Hund, den ein Willkürherrscher als Gouverneur einsetzen lässt. Damit sollen die aufsässigen Bewohner einer Stadt gedemütigt werden, die exotisch Lahore heißt, aber dem Paris des Zweiten Kaisrreichs kaum ferner ist als Offenbachs Orphée. Der neue Statthalter ist naturgemäß sehr bissig, bis seine frühere Herrin auftaucht, die Marktfrau Maïma. Ihr frisst er aus der Hand, sie wird zur Dolmetscherin ernannt und interpretiert Barkoufs Gebell im Sinne der Opposition. Die Steuern werden gesenkt, Todesurteile kassiert. Am Ende ist zwar der Hund in einer Schlacht gefallen, doch der Mogul muss die neuen Verhältnisse legitimieren.

Das ist nicht unbedingt ein staatsgefährdender Stoff neben Orphée, wo zum kurz aufblitzenden Beginn der verbotenen Marseillaise Göttervater Jupiter sich anhören muss, sein Regime sei stumpfsinnig, und nur der „Öffentlichen Meinung“ wegen den „schönen Schein“ wahrt. Indessen sind solche Stacheln längst zur pikanten Würze eines Kassenschlagers geworden, dem Kaiser Napoléon III. und Kaiserin Eugénie im April 1860 höchstpersönlich in einer Sondervorstellung im Théatre-Italien beigewohnt haben. Dass die politische Wetterlage sich unterdessen wandelt, merkt Offenbach erst später.

Dem Starlibrettisten passen die Änderungen nicht

Zunächst trifft er bei der Arbeit am Barkouf auf Probleme, die im Theater Alltag sind. Es gibt eine Starsopranistin, Delphine Ugalde, die der Tragweite einer Rolle wie der Maïma nicht ganz gewachsen ist, und so bittet er Scribes Mitarbeiter, einer weiteren Frauenrolle mehr Gewicht zu verleihen, der Apfelsinenverkäuferin Balkis. Scribe tobt, als er von diversen Änderungen erfährt. „Das hat keine Einheit mehr, keine Linie. Das sind Szenen, das ist kein dramatisches Werk mehr!“ Vielleicht spürt er auch, dass Zeiten in der Kunst anbrechen, die nicht mehr seine sind. Um den Spannungsbogen zu retten, arbeitet er selbst die letzten beiden Akte zu einem um. Dass er, Kommandeur der Ehrenlegion, auch noch Ärger mit der Zensur bekommen könnte – damit rechnet er wohl nicht.

Im selben Sommer ist das Abenteuer außer Kontrolle geraten, auf das sich Napoléon III. im Vorjahr eingelassen hat, mit gleich mit 170.000 Soldaten zur Befreiung des Piemont von österreichischer Herrschaft. Inzwischen will ganz Italien die Einigkeit. Am 10. Mai ist der Revolutionär Garibaldi mit tausend Rothemden in Marsala gelandet, am 20. Juli ist ganz Sizilien in seiner Hand, Anfang August auch Neapel, womit das „Königreich beider Sizilien“ endet. Nun sieht sich der römische Kirchenstaat bedroht, dem Napoléon III. verpflichtet ist. Der 52 Jahre alte Franzosenkaiser, mit einem einigen Italien sympathisierend, agiert halbherzig , als „schwacher Cäsar“, der allzu viele Parteien bei Laune halten will. Die Unterstützung der französischen Katholiken bröckelt.

Dieser Regierungschef, der von allem etwas ist, Kapitalist und Sozialist, Katholik und Aufklärer, Liberaler und Autoritärer, gerät von allen Seiten unter Druck. Er reagiert durch vorsichtiges Entgegenkommen. Ein Dekret wird vorbereitet, das dem Corps législatif, bis dahin die Karikatur eines Parlaments, mehr Spielraum verschaffen soll. Umso energischer agiert er in Ostasien, wo sich Frankreich im „Zweiten Opiumkrieg“ einer britischen Militäroperation gegen China anschließt. Anfang Oktober 1860 fällt die vereinte Streitmacht in Peking ein. Bei einer beispiellosen Plünderung werden 3000 Chinesen umgebracht, der kaiserliche Sommerpalast wird niedergebrannt.

Während das geschieht, brüten in Paris die Zensoren des Staatsministers über solchen Zeilen einer Bühnenfigur: „Kriecht alle vor mir! So ist’s gut! (…) Ich werde einige Tage in den Königreichen von Kaschmir und Kandahar gebraucht… zwei aufständische Städte, die ich einnehmen und niederbrennen werde… es dauert nicht lange. Ich komme zurück, und wehe dem, der die Autorität des neuen Vizekönigs [der Hund Barkouf] nicht geachtet hat!“

Verspottung staatlicher Autorität? Zensiert.

„Die Autoren (…) haben ohne Zweifel geglaubt, von den Bedenklichkeiten dieses bizarren Sujets und den Anspielungen, von denen es wimmelt, durch die possenhafte Form des Werks und die Verlegung des Schauplatzes nach Indien, das Land der Fabeln und der Fantasie, abzulenken. Der Milderungen bewusst, die aus diesen Umständen resultieren können, kommen wir jedoch nicht umhin, im Hintergrund des Stücks, den ihm innewohnenden Details und deren unvermeidbarer Umsetzung auf der Bühne die fortwährende Verspottung aller staatlichen Autorität in jeglicher Zeit, in jeglichem Land zu erkennen. Dem folgend können wir eine Genehmigung zur Aufführung des Sultan Barkouf nicht befürworten…“ Dieses Schreiben vom 10. Oktober 1860 enthält zugleich ein Aufführungsverbot durch Staatsminister Comte Walewski.

Freilich haben da die Proben schon begonnen. Und sie werden auch nicht gestoppt. Offenbachs Biograph Jean-Claude Yon geht davon aus, dass Intendant Beaumont dem Minister das drohende finanzielle Desaster klar machte und darum eine entschärfte Fassung vorlegen durfte. Die kosmetischen Eingriffe ändern aber nichts Wesentliches – der Hund etwa wird vom „Vizekönig“ zum „Gouverneur“ degradiert, die ganze Oper von der „comique“ zur „bouffe“. Vom Zensorentrio wird das am 28. November so merklich zähneknirschend durchgewinkt, dass man eine Weisung von ganz oben spürt. Wohl kaum vom Minister, sondern vom Halbbruder des Kaisers, dem Präsidenten des Parlaments. Nur einer wie der Herzog von Morny, Bewunderer Offenbachs und unter Pseudonym auch dessen Librettist, konnte eine so verfahrene Lage retten.

Morny hatte den Staatsstreich seines Halbbruders 1851 mitinszeniert und war dann zum Präsidenten des corps législativ ernannt worden. 150 Senatoren und 270 Abgeordnete führt der 49-jährige nun an, und zum Leidwesen des Kaisers trägt er gern eine Hortensie im Knopfloch, die auf seine (uneheliche) Abkunft von Hortense de Beauharnais verweist, der Mutter Napoleons III. Charles-Auguste Morny ist ein so skrupelloser wie offener Geist, der wohl auch hinter dem liberalen Dekret steckt, das am 24. November 1860 verabschiedet wird, ein jovialer Mephisto mit Sinn für die Kunst, der neben Offenbach auch die Tochter der eigenen Geliebten fördert – aus ihr wird die Schauspielerin Sarah Bernardt.

Während man die Uraufführung, zuerst für den 26. November annonciert, weiter und weiter nach hinten schiebt, stellt sich heraus, dass Delphine Ugalde wegen einer Schwangerschaft nicht wird singen können – die Rolle passte ihr ohnehin nicht. Am 11. November wird Mademoiselle Saint-Urbain als neue Maïma bekanntgemacht, drei Wochen später zieht sie sich wegen einer Halsentzündung zurück, falls es denn eine ist und nicht eher die Sorge, es könne mit Barkouf noch Ärger geben. Jacques Offenbach kann sich derweil damit trösten, dass er den Sprung ins größte Opernhaus der Stadt geschafft hat, die Salle Peletier, zur Zeit Académie Impériale de Musique, 1800 Plätze. Hier wird am 26. November Papillon uraufgeführt, ein Ballett in zwei Akten, glänzend besetzt und besucht.

Noch ein Problem: Richard Wagner und sein Tannhäuser

Im selben Haus plagt man sich schon seit Ende September mit Proben zur Oper eines Deutschen, deren Produktion Napoléon III. selbst angeordnet hat – Tannhäuser von Richard Wagner, einem Mann, der sich in Paris inzwischen weitgehend unbeliebt gemacht hat. Dass freilich sogar Wagner noch zum Problem für Barkouf werden könnte, dürfte Offenbach sich nicht träumen lassen. Weniger überraschend ist für ihn vermutlich, dass der Erfolg seines Balletts (das mit 42 Vorstellungen den Tannhäuser in dieser Spielzeit bequem hinter sich lassen wird) auch den Antisemitismus zum Vorschein bringt, mit dem sich schon Meyerbeer auseinandersetzen musste. Offenbach sei, so Paul Scudo in der Revue des Deux Mondes, „aus der semitischen Rasse geboren (…), deren fatale Prägung er erhalten hat.“ Man erlebe in Papillon die „Flachheit und Nichtigkeit“ einer „Gauklermuse, die auf der bedeutendsten Opernbühne Europas herumtollt.“ Dieser Jude und Clown, so lässt sich das lesen, soll gefälligst zufrieden sein mit seinem Theaterchen an der Passage Choiseul.

Aber am 24. Dezember 1860 findet sie statt, die première répresentation von Barkouf, am Montagabend vor der Mitternachtsmesse, mit der in Frankreich das Weihnachtsfest beginnt. 1500 Plätze hat die Salle Favart, deren Logen sogar über Klingelschnüre verfügen, um Kellner herbeirufen zu können. Der Abend, von Jacques Offenbach selbst dirigiert, wird keineswegs ein Fiasko. Man weiß die aufwändigen Kostüme und Kulissen zu schätzen, und drei Nummern müssen wiederholt werden. Pfiffe hört nur Paul Scudo. Doch nicht nur sein Urteil scheint schon vorher gefällt zu sein. Einer der klügsten Kritiker tut im Journal des Débats den Dreiakter als Stümperei eines Possenreißers ab, dessen Namen er in neun (!) Spalten kein Mal nennt. Hector Berlioz ist als Komponist selbst ein Erneuerer. Doch was Offenbach hier unternimmt, empört ihn.

Elf Takte lang spielen einmal die Geigen in der Ouvertüre rasend schnelle Achtel, g und f, schon das hat Berlioz geärgert, „ein Summen vergleichbar dem von Wespen, die man in ein Glas gesperrt hat“. Dass Dur und Moll sich kreuzen, dass von B-Dur direkt in einen G-Dur-Sextakkord gesprungen wird, „all das lässt sich ohne Zweifel machen, aber mit Kunstfertigkeit. Hier wird es mit einer Nachlässigkeit, einem Unkundigsein der Gefahren vorgeführt, das ohne Beispiel ist. Man denkt dabei an das Kind, das einen Knallkörper in den Mund steckt und wie eine Zigarre rauchen will.“ Und dann erweitert Berlioz die Perspektive: „Ganz entschieden geht es verrückt zu in den Hirnlein gewisser Musiker. Der Wind, der durch Deutschland weht, macht sie wahnsinnig… Ist die Zeit nahe? Welchem Messias geht der Autor von Barkouf als Johannes der Täufer voraus?“

Diese Anspielung versteht jeder – Berlioz meint Wagner. Auch Oscar Commentant sieht in L´Art musical Offenbach als Teil einer anstehenden deutschen Invasion: „Das neue Werk von M. Offenbach wimmelt von harmonischen Exzentrizitäten, die die missgestimmten Apostel der Zukunftsmusik nicht verleugnen.“ Eine „Melange aus Scharlatanerie und Narrheit“ sei typisch für „den deutschen Genius“, der sein Ideal „jenseits eines tobenden Ozeans falscher Noten und nervtötender Modulationen“ erblicke. Das ist das Vokabular, mit dem sich inzwischen die Pariser Presse auf Richard Wagner eingeschossen hat. Unversehens wird Offenbach als deutscher Vasall eines Komponisten angegriffen, dem er nicht ferner sein könnte. Seine Parodie Wagnerscher „Zukunftsmusik“ wird immer noch gespielt, im vergangenen April auf kaiserliches Geheiß sogar als Teil einer Gala, einen Monat, nachdem der Regent die Produktion des Tannhäuser befohlen hatte (Napoléon III. scheint zwischen den musikalischen Fraktionen ebenso zu lavieren wie in der Politik).

„Ja, sicher, es ist eine Bouffonerie.“

Vor allem aber darüber, dass Offenbach niemals seine Bouffes-parisiens hätte verlassen dürfen, sind sich die Kritiker mit einer Vehemenz einig, auf die der Komponist selbst schon am 30. Dezember 1860 im Figaro antwortet: „Ja, sicher, es ist eine Bouffonerie.“ Genau das Leichte, Heitere habe der Opéra-Comique ja zuletzt gefehlt. „Ich verteidige das Genre, dem ich treu bleiben will. Hätte ich es verlassen, dieselben Personen, die jetzt meine Heiterkeit tadeln, hätten gesagt: ,Voilà, jetzt verirrt er sich ins Lyrische! Ah! Welchen Erfolg er gehabt hätte, wäre er bei seinem bescheidenen Handwerk geblieben.‘“

Wohl wahr, doch er macht er seine Partitur harmloser, als sie ist. Offenbach geht in Richtung der großen Oper und lässt sie zugleich hinter sich. Er bietet eine erstaunliche Mischung aus Witz und Melancholie, von traurigem Lächeln springt er zu wahnwitzigem Übermut. Beiläufig wirft er chromatische Modulationen hin, in denen ein Tristanakkord nicht auffiele, zugleich Melodien, die man immer wieder hören möchte. Diese Couplets, Duos, Ensembles, Chöre sind subtiler komponiert, enger aufeinander bezogen als in Orphée. Offenbach liefert auch Randbemerkungen wie die der Goncourts, knapp und genau, Blicke auf die Straße. Seine Doppelbödigkeit ist nicht mehr nur komisch.

Die Ambivalenz des Barkouf scheint viele Begleitumstände zu spiegeln – eine Stadt als Dauerbaustelle, ein verunsichertes Regime, ein Librettist, dessen Tage gezählt sind, während die Opernkonventionen bröckeln. Barkouf weiß zu viel davon, dieser Hund muss begraben werden. Nach der siebten Vorstellung am 16. Januar wird das Stück abgesetzt, trotz passabler Einnahmen. Die „Gendarmen der Ästhetik“ (so Xavier Aubryet im Figaro jener Tage) haben gesiegt, Offenbach braucht nicht mehr die acht Minuten von der Passage Choiseul bis zur Salle Favart zu gehen; die Partitur bleibt 150 Jahre lang verschwunden. Wir können sie nun betrachten wie den Pariser Stadtplan von Haussmann, wo zwischen den Linien der Gegenwart schon die Zukunft Gestalt annimmt.

figaro 30 12 1860

Kartenausschnitt: Plan général de la Ville de Paris et de ses environs, 1866. Zeitungsausschnitt: Figaro, 30. Dezember 1860. Einigen Zeilen, in denen der Herausgeber Offenbach das Wort erteilt, folgt der Beginn von dessen Antwort auf die Kritiker (auch die kommenden) seines Barkouf.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Programmbuch zu Barkouf an der Oper Zürich, Premiere am 23. Okrober 2022. Für diese Website wurden Zwischenzeilen und Illustrationen ergänzt. Eine weitere Fassung für das Magazin der Oper Zürich ist online zu lesen.

Menschsein, unvollendbares

Franz Schuberts h-Moll-Sinfonie von 1822, György Ligetis Cellokonzert von 1966 und Anton Bruckners Neunte (1887 – 1896) – Texte zum “Torso”-Programm des Gürzenich-Orchesters Köln im Juni 2022

Mitten in der »Unvollendeten« fliegt ein Spatzenschwarm durch die geöffneten Fenster, hoch oben im Saal. Es ist Sonntagnachmittag, 19. Mai 1901, die Spatzen von Paris tschilpen unter der Kuppel des Cirque d´Hiver im 11. Arrondissement. Frühsommerwärme, nicht gerade vorteilhaft, um einen Saal von 3.900 Plätzen zu füllen, aber Le Tout-Paris ist vollständig erschienen. Die Berliner Philharmoniker unter Arthur Nikisch mit Beethoven, Wagner, Strauss und einer unbekannten Sinfonie von Schubert, das verpasst man nicht. Auch Claude Debussy ist da. »Vielleicht«, schreibt er danach über die Spatzen, »stellten sie auch nur eine unschuldige Kritik an dieser Sinfonie dar, die sich nicht ein für allemal zu der Erkenntnis durchringen kann, dass sie unvollendet ist.«

Wo kommt sie her, diese Sinfonie? Das Wien von 1822 ist mit rund 290.000 Einwohnern zwar die Hauptstadt einer europäischen Großmacht, aber dennoch ein überschaubares Städtchen, wo man im Schatten des polizeistaatlich agierenden Staatskanzlers Klemens von Metternich lebt, einer über Jahrzehnte hin bestimmenden Figur, zur selben Generation zählend wie ein anderer Wiener, der auf seine Art ebenfalls einen Schatten wirft – als Genie. Es ist der jetzt 51 Jahre alte Ludwig van Beethoven. Vom 25-jährigen Franz Schubert wissen in dieser Stadt nur wenige. Hunderte von Liedern, die er schon schrieb, kursierten bis vor kurzem nur in Abschriften. Doch seit Februar 1821, als vier seiner Freunde auf ihre Kosten den Erlkönig stechen ließen, wendet sich das Blatt. Von nun an wird durchschnittlich jeden Monat ein neues Werk des Lehrersohns Schubert gedruckt.

Vielleicht gibt das Franz Schuberts Selbstbewusstsein einen Schubs: Ohne jemandem davon zu erzählen, wagt sich der Komponist erneut ans sinfonische Genre. Sechs Sinfonien hatte er zwischen 1813 und 1818 schon vollendet, und sie sind in bescheidenem Rahmen auch aufgeführt worden – erfindungsreiche Auseinandersetzungen mit Mozart und Beethoven, die freilich an den frühreifen Erlkönig von 1815 nicht heranreichen. Seit aber die Publikation dieses Werks ihm einen neuen Weg bahnt, sucht Schubert den auch wieder im Orchesterklang. Einigen Skizzen folgen im Jahr 1822 zwei Sätze in h-Moll und E-Dur, die heute weltberühmt sind, dazu als 3. Satz im Klavierparticell ein Scherzo. Nie zuvor gab es eine Sinfonie in h-Moll, dieser verhangenen Tonart, in der Johann Sebastian Bach in seiner Matthäus-Passion die Sopran-Arie »Blute nur …“ und Schubert 1818 sein Grablied auf die Mutter schrieben.

Und noch nie hat jemand auf eine langsame Einleitung verzichtet, indem er doch eine komponiert, acht Takte nur für die Bässe, deren Metrum und Tempo dann den ganzen Satz bestimmen, in dem ein zweites, ungewiss repetierendes Thema folgt. Danach ein drittes, singendes, das nichts vom abgründigen Beginn zu ahnen scheint, zutiefst zutraulich, das dann fast brutal gestoppt wird und weiter in die Katastrophe führt. Von solchen Umschwüngen handelt auch der 2. Satz. Und wovon noch?

Giuseppe Sinopoli verstand die Unvollendete als Grabgesang, als »kultische Feier des verlorenen Heils [...]. Wenn das Heil niemals erfahren wurde, wenn es immer mit aller Kraft ersehnt und nie erlangt wurde, dann wird es in eine Zone des Vorbewussten verlagert und dort als Traumbesitz verwahrt.« Schuberts unerlangtes Heil war, ganz konkret, wohl ein verbotenes. Es besteht heute weitgehend Einigkeit darüber, dass er – so formuliert es die renommierte Website MUGI, Musik und Gender im Internet – »dem traditionellen Rollenbild der Zeit nicht genügte und sein Leben und Schaffen durch seine [...] psychische und sexuelle Konstellation bestimmt war.«

Welche Rolle dabei jener Anselm Hüttenbrenner spielte, der Schubert finanziell unterstützte, auf ungeklärte Weise an das Manuskript der beiden orchestrierten Sätze kam und es jahrzehntelang keinem zeigte, das ist vor allem für die enorme Verzögerung erheblich, mit der erst 1865, 37 Jahre nach dem Tod des Komponisten, das unbeendete Werk in Wien uraufgeführt wurde. Schubert konnte existentielle Erfahrungen in einer bespitzelten Welt der Verbote mit der Befreiung zum Sinfoniker verbinden. Aus dem Schatten rigider Moral kam er nicht heraus, aus dem Schatten Beethovens um so mehr. Vielleicht hätten ihm die Pariser Spatzen als Freiheitsboten über seiner Musik ganz gut gefallen …

Blick in den Kosmos: Das Cellokonzert von György Ligeti

Als György Ligeti 1966 sein zweisätziges Cellokonzert für Siegfried Palm schrieb, musste er auf keine Konvention Rücksicht nehmen. Das hätte von einem 43-Jährigen, der bereits Musikgeschichte geschrieben hatte, auch niemand erwartet. Es wäre eher befremdlich gewesen, hätte dieser Komponist als Konzert den traditionellen Dreisätzer vorgelegt und einen Solisten vorm Orchester brillieren lassen. Im 1. Satz knüpft Ligeti an statische Formen an, wie man sie auch in seinen Werken Requiem und Atmosphères findet. »Sie scheinen vor uns zu stehen, als ob sie Objekte wären und sich nicht in der Zeit entfalten würden«, schreibt er dazu. Doch eher ist es so, dass wir beim Hören in einem sich langsam entfaltenden und verändernden Klang stehen, beginnend mit einem fast unhörbaren E des Solocellos in eigentlich nicht realisierbarem achtfachem Pianissimo. Die weiteren Streicher kommen mit demselben Ton dazu, dann Flöte und Klarinette. »Unmerklich einsetzen« ist die häufigste Anweisung in der Partitur. Kein Akzent, keine Kante darf fürs Erste diesen Klangfluss stören.

Unglaublich, welche Weite in wenigen Minuten entsteht, wie die Verschmelzung der Farben und das behutsam getimte Auffalten – beginnend mit einem Klarinettentriller, der zum e das f fügt – uns so in ihren Bann ziehen können, dass der Schritt von einem dissonanten Klang der Bläser zum leisen, körperlosen B der Streicher über fünf Oktaven wie eine Sensation wirkt, wie ein unverhoffter Blick in den Kosmos. Dort wiederum gewinnt die Stimme des Solocellos Körper und Wärme, »molto espressivo« erringt sie den Halbton darüber, und in diesem Moment liegt so viel Menschsein, wie es andere Komponisten in wesentlich dickeren Partituren nicht erreichen. Der 2. Satz ist als Gegenstück zum ersten eine Collage voller Wechsel und Bewegungen, wobei das Solocello die verschiedenen Instrumentenkombinationen zusammenhält. Es gibt hier mehr individuelle Gesten, aber auch dichte Netze blubbernder Zweiunddreißigstel. In denen scheint ein Sound der Zeit zu schimmern. Der Klangeffekt ist nämlich dem verblüffend nah, den man im instrumentalen, per Tonband manipulierten Abspann von Strawberry Fields Forever hört, einem der »komponiertesten« Songs der Beatles – und entstanden im selben Jahr 1966 wie Ligetis Violoncello-Konzert.

Wissen vom Leben: Anton Bruckners 9. Sinfonie

brucker fragment

Am 12. Okober 1896, einem Montag, berichtet die Wiener Neue Freie Presse in ihrer Abendausgabe vom russischen Zaren, der nach Frankreichs Republik nun auch das deutsche Kaiserreich, dem seine Gemahlin entstammt, besucht. Noch kommen sie miteinander klar, die europäischen Großmächte. Auf Seite 2 rechts oben lässt eine knappe Überschrift die Wiener Leser aufmerken: »† Anton Bruckner.« Mit 72 Jahren war am vergangenen Sonntag der berühmte Komponist im »Kustodenstöckl« – ebenerdige Räume im Kustodentrakt von Schloss Belvedere, die im Vorjahr Kaiser Franz Joseph I. dem erkrankten Bruckner zur Verfügung gestellt hatte – gestorben.

Jeder kennt die Adresse, jeder kennt Bruckner – was der sich freilich nicht hätte träumen lassen, als er vor mehr als drei Jahrzehnten von Linz nach Wien zog. Und jeder kann der Neuen Freien Presse entnehmen, dass sich im Nachlass »Skizzen zum vierten Satz seiner neunten Symphonie« befinden, von der nur drei Sätze fertig geworden seien. Am Dienstag, das Sterbezimmer ist noch nicht versiegelt, kommen die Andenkenjäger. »Befugte und Unbefugte« stürzen sich »wie die Geier«, so Bruckners entsetzter Arzt, auf die Papiere. Zahlreiche Manuskripte werden gestohlen. Als sechs Tage später der Rest gesichtet wird, sind vom Finale der 9. Sinfonie noch 75 Partiturbögen vorhanden – und selbst die bleiben nicht beieinander. Der Satz lag wohl zumindest in einem ersten Stadium mit Streichern in Tinte und Instrumentationshinweisen schon vollständig vor, und bis 2012 konnten von 653 Takten immerhin 557 wieder zusammentragen werden. So gesehen hat Bruckner die Vollendung der Sinfonie doch knapp geschafft – obwohl er sich schon 1894 »unheilbar« wusste und seit 1892 aufgrund einer Aortenklappen-Insuffizienz an Atemnot litt.

Atemnot ist das Gegenteil dessen, was wir in Bruckners Neunter erleben können. Der Komponist soll gesagt haben, er traue sich nicht an eine 9. Sinfonie, da eine solche Beethovens letztes Werk gewesen sei. Und doch wählte Bruckner nicht nur dieselbe Tonart d-Moll, sondern auch den mysteriösen Beginn aus dem Nichts, d im Pianissimo. Auch das erste Thema lässt auf sich warten. Aber nicht wie bei Beethoven 16 Takte lang, sondern 62. Und spätestens Takt 19 hätte Beethoven entsetzt, denn da brechen die Hörner aus d-Moll in den Es-Dur-Bereich aus. Von diesem Moment an führt die harmonische Spaltung »die Regie im ganzen Werk« (Hans Joachim Hinrichsen), und Beethovens Neunte erweist sich allenfalls als »Folie der Selbstprofilierung«. Ein sehr selbstbewusster 62-Jähriger hat diesen Satz im August 1887 zu skizzieren begonnen. Ein Komponist, der nach dem Triumph seiner Siebten mit der Achten viel gewagt hatte und deren Uraufführung durch Hermann Levi entgegensah. Dessen unerwartete Ablehnung verunsicherte Anton Bruckner zutiefst. Vier Jahre lang überarbeitete er seine Sinfonien 1, 3, 4 und 8, erst im Februar 1891 wagte er sich wieder an den Kopfsatz der Neunten.

Doch die hat von dieser Verzögerung, vom Neubedenken sinfonischer Konzepte profitiert. Jeder ihrer drei fertigen Sätze ist ein existentielles Erlebnis, mit Spannungsbögen, die nicht daran denken lassen, unter welchen zunehmenden Strapazen die Komposition sich schließlich über neun Jahre erstreckte. Man darf aber doch daran denken, denn das Thema Tod rückte Bruckner noch näher, als es ohnehin schon war (ab 1860 hing bei ihm hinter einem grünen Vorhang ein Foto, das er von seiner Mutter auf deren Sterbebett hatte anfertigen lassen). Seit September 1894 wusste er, dass seine Herzkrankheit unheilbar war. Zugleich war er fasziniert von der umstrittenen Frage des Anatomen Josef Hyrtl, ob die Seele nur eine Funktion des Gehirns sei oder das Gehirn lediglich eine Bedingung für den »Verkehr eines immateriellen Seelenwesens mit der Welt im Raume«. In seinem Bruckner-Essay Angst vor der Unermeßlichkeit hat Klaus-Heinrich Kohrs diese Umstände erkundet.

Bruckner war zutiefst gläubig, aber keineswegs im Glauben geborgen. In seiner Kunst, gerade jetzt, wo es auch um eine Summe seines Schaffens ging, kämpfte er um sein Leben. Natürlich nicht programmatisch, nicht in »Episoden aus dem Leben eines Künstlers« – erzählerische Verläufe sind Bruckner völlig fremd –, sondern im Einander-Durchdringen von Energien, die nicht einmal im großen Format ausbalanciert, aber doch freigesetzt werden können. Der früh geöffnete Spalt zwischen D und Es führt im 1. Satz am Ende zu einer »Lösung am Rande des Abgrunds«, wie Hinrichsen schreibt: Weil in den Schlusston D die Trompeten die aus der Tonspaltung entstandene Es-Dur-Fanfare hineinschmettern, ist das nur noch in der leeren Quinte auflösbar.

In der Ungewissheit danach, attacca, tickt im raschen Dreier und im Piano ein Vierklang, der selbst ein Emblem des Ungewissen ist, tonal nicht festzumachen: E, Gis, B, Cis. Es ist eine Zeitbombe. Nach 41 Takten Ungewissheit bei bedrohlich sich verdichtenden Zeichen ist der d-Moll-Einsatz im Forte ein Akt von so bestürzender Brutalität, dass danach nichts mehr ungefährdet wirken kann. Heitere Holzbläsersoli wirken wie sommerliche Kinderspiele, von denen man, rückblickend, weiß, dass es die letzten vor einem Krieg sind. Die verzweifelte Sehnsucht, die ein solcher Rückblick mit sich bringen kann, leuchtet im Trio. Natürlich ist das eine Projektion. Aber es gehört zu den Eigenschaften großer Kunst, dass sie unsere eigenen Erfahrungen, Ängste, Gedanken, Gefühle wachrufen und aushalten kann. Zudem ist das Scherzo (nie hat diese Satzbezeichnung so schlecht gepasst) so explizit katastrophisch, dass seine Brisanz und Gefährlichkeit nicht abnutzbar sind, nicht zu relativieren.

So ist es auch mit der Abgründigkeit des Adagio, in dessen Harmonik Bruckner seinen Abgott Richard Wagner mit dem zu verbinden scheint, was sein Bewunderer Gustav Mahler noch gar nicht geschrieben hat. Das beginnt mit der schmerzvollen kleinen None aufwärts, auf der G-Saite der Violinen. Sie führt über Tristan-Harmonik hinaus und nahe heran an Mahlers Chorus mysticus in dessen 8. Sinfonie von 1906, dann wird das »Dresdner Amen« aus Wagners Parsifal aufgerufen. All das entfaltet sich organisch, man kann es auch wie die Erkundung eines Körpers hören. Alles lebt, auf unterschiedlichste Weise, und so sorgsam das Material auch disponiert ist, so unberechenbar wirkt es zugleich. Ein Fortissimo kann da so massiv hochstoßen, halb Felswand und halb Drachenhaupt, dass man den Kopf in den Nacken legen muss, um noch Licht zu sehen. Und ehe erstmals das Anfangsthema wiederkehrt, scheint dem Organisten Bruckner die Hand auf dem Manual liegenzubleiben: Vier Tuben lassen vier endlose Takte lang die Dissonanz C, Eis, Fis, Ais erklingen, die ebenso gut in Schönbergs Streichquartett von 1908 stehen könnte. Gleichsam nichtsahnend spielt darüber eine Flöte einen schönen Bogen in reinem C-Dur.

So könnte man die Stellensuche noch lange fortsetzen. Man läuft dabei aber Gefahr, dieses Adagio auf seine Extreme zu reduzieren. Besonders die Musikwissenschaftler treten gern in einen Wettstreit der Superlative und Singularitäten, der sich mit einer stattlichen Kollektion raunender Deutungen rund um Tod und Sterben und letzte Worte verbindet. All das verblasst sofort, wenn hundert Musikerinnen und Musiker gemeinsam spielen, was Bruckner einsam schrieb. Es geht um das Leben. Darüber wusste er auf seine Art eine ganze Menge.

 

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und erscheint unter dem Titel “Wege zum Menschsein” im Programmheft des Gürzenich-Orchesters zu den Konzerten am 19. Juni um 11 Uhr sowie am 20. und 21. Juni 2022 um 20 Uhr, dirigiert von François-Xavier Roth in der Kölner Philharmonie. Das Foto zeigt im Ausschnitt eine Partiturskizze des unvollendeten Finales von Bruckners Neunter.