In seiner Fünften Sinfonie erweist sich Anton Bruckner als überragender Therapeut seiner selbst – und riskiert auch sehr moderne Schocks
Trauriger, niedergeschlagener kann ein Thema kaum sein als die acht Takte, die Anton Bruckner am 14. Februar 1875 notiert, in seiner Wohnung in der Währingerstraße 42, zweiter Stock, neunter Wiener Bezirk. Es geht abwärts in diesen Tönen, und von großem Bogen kann keine Rede sein. Halbe Note a, eine Quinte runter zum d, noch zwei Töne, Pause. Neuansatz, größerer Tonraum, hilft auch nichts, nach zwei Takten schon wieder am Boden. Nochmal die ersten beiden Takte… Man könnte diese Töne als Psychogramm einer Depression auch dann hören, wenn die Enstehungsumstände nicht nahelegten, dass sie das tatsächlich sind.
Als Bruckner sich mit diesem ersten Thema in ein Adagio hineintastet, aus dem eine Sinfonie werden soll, seine Fünfte, geht es ihm so elend wie selten. Geld ist nicht wirklich das Problem. Seit gut sieben Jahren ist er Professor am Konservatorium und erhält mit 800 Gulden im Jahr so viel, wie eine vierköpfige Wiener Familie durchschnittlich im Jahr verbraucht. Aber er ist nun 50 Jahre alt und läuft gegen Wände. Sein Versuch, sich vom Konservatorium an die Universität zu verbessern, ist abgeschmettert worden, sein Unterrichten an einer Lehrerbildungsanstalt eingestellt, ein Stipendium vom Vorjahr nicht erneuert, als sinfonischer Komponist wird Bruckner nicht wahrgenommen.
Seinem klugen Förderer und Anreger aus Linzer Tagen, Moritz von Mayfeld, schreibt Bruckner im Januar 1875: „Mein Leben hat alle Freude u. Lust verloren – umsonst u. um nichts (…) Wäre ich doch damals nach England!“ Und am 13. Februar, dem Tag vor dem Adagiothema: „Alles ist zu spät. Fleißig Schulden machen, und am Ende im Schuldenarreste die Früchte meines Fleißes genießen (…) Ich kann meine 4. Synfonie nicht abschreiben lassen.“ An dieser Sinfonie hat er, unmittelbar nach Abschluss der Dritten, bis zum vorigen November gesessen. Eine Verausgabung, die vielleicht auch hinter der Krise steht.
Und woher soll er wissen und nicht nur wünschen, dass mindestens zwei der schon vollendeten Sinfonien einmal zu Gipfelwerken der Musik zählen werden? „In der Enklave des langsamen Satzes“, schreibt Peter Gülke über das, was nun geschieht, „gewann er Bedenkzeit.“ Das könne „auch mit Selbsttherapie zu tun gehabt haben.“ Wenn es eine solche ist, besteht sie nicht im Schönfärben. Beim Übertragen des traurigen Themas ins Orchestrale wird die Isolation noch vertieft. Zuerst hört man leise Triolen im Pizzicato, dann erst spielt die Oboe das Thema im Viervierteltakt, zwei gegen drei, keine Verschmelzung mit den Streichern. Mit Verstärkung von Fagott und Flöte beginnt sich der dritte Thementakt – zwei Abwärts-Septimen – zu verselbstständigen. So lange, bis die Streicher mitmachen. Die getrennten Schichten finden zusammen.
Ein Psychogramm entfaltet sein Potential
Nun ist zwar noch kein Problem gelöst, aber ein zweites Thema möglich, das wie der Blick zu einem vertrauten Horizont wirkt. Bruckner ist kein Programmusiker, der uns nun erzählt, dass alles gut wird. Er folgt seinem Material, und nach gut einem Drittel des Adagio ist er soweit, das erste, das „traurige“ Thema wörtlich wieder aufzunehmen, aber jetzt mit fast vollem Holzbläsersatz, woraufhin auch die Bässe der Streicher der „Gegenwelt“ der Triolen untreu werden und dieses Thema übernehmen.
Was zuerst depressiv war, „strotzt nur so vor Selbstbewusstsein“, schreibt Bertram Müller in der differenziertesten Analyse, die es zur Fünften gibt. In Takt 163 ist die Welt der sperrigen Triolen umgeschmolzen in fließende Sechzehntel, das erste Thema kann in strahlendes E-Dur münden. Für kurz. Bruckner schwelgt eine Weile in Entspannung, lässt uns gar wie in einer großen Wiege schaukeln. Doch gerade im Blechbläserprunk gegen Schluss spürt man, gegen welche Gravitation sich das behaupten muss. Die Ausgangslage ist nicht vergessen, und auf sie kommt Bruckner mit einer Coda zurück, so pragmatisch, so bescheiden, dass das D-Dur am Ende nur meint: Der Weg ist jetzt offen.
In der Werkstatt geht Bruckner den Weg weiter zum unkonventionellsten all seiner ersten Sinfoniesätze, begonnen am 3. März 1875. Nur sechs Wochen hat er für das Adagio gebraucht, dem nun ein weiteres folgt – als Introduktion. So etwas ist in Sinfonien der Wiener Klassik öfter zu finden, bei Bruckner ist es singulär. Aber eine „Einführung“ sind diese 50 Takte nicht, sie sind ein Schock, eine Überforderung, so sanft das auch in den Streichern beginnt mit leisen Pizzicato-Schritten und langgestreckten Vorhalten. Stille, zwei Viertel lang. Dann, ohne Vorwarnung, eine gewaltig aufragende Felswand, volles Orchester im Fortissimo, pures Ges-Dur in scharf punktiertem Rhythmus. Abriss, drei Viertel Stille. Dann führen die Trompeten zu einem archaisch glänzenden Bläserportal, weit öffnet es sich in A-Dur.
Und nun? Sechs Viertel Stille. Nach drei radikal verschiedenen Ereignissen weiß man schon nicht mehr, wo hinten und vorne ist, das verunsichert. Vor einer Partitur braucht man keine Angst zu haben, aber wenn sie im Klang real wird, rührt das an Tieferes. Viele, auch beste Dirigenten halten die sechs Viertel Stille vor dem nächsten Ereignis nicht aus. Es ist auch kein beruhigendes. Noch eine Felswand, wo sie nicht zu erwarten war, diesmal in B-Dur. Das ist die Haupttonart der Sinfonie, aber wer weiß das noch in diesem Moment?
Nach einem weiteren Bläserportal sind wir beruhigt, dass auf dessen E-Dur (wiederum mit Nachhallzeit wie in einer Kathedrale) ganz ordentlich A-Dur folgt, ein leiser feiner Streichersatz mit einem fließendem und einem punktierten knappen Motiv. Mit diesem Motiv wird Bruckner den ganzen Satz vor jenem Auseinanderbrechen bewahren, auf das er es zugleich anzulegen scheint. Nachdem es innerhalb von drei Minuten so grundverschiedene, isolierte Klangereignisse gab, taucht im dünnen Nebel eines Violin-Tremolos schon wieder etwas Neues auf. Und wird nicht mehr gestoppt. Es ist das erste vollständige Thema überhaupt, der beschwingte Beginn des Versuchs, nun alles miteinander in Beziehung zu setzen.
Ja doch, Bruckner kann auch ironisch sein!
In dem Bereich, den Fachleute mit dem schrecklichen Begriff „Durchführung“ bezeichnen, gibt es Takte, in denen zwei Motive in gestaffelter Weise sechsstimmig verdichtet werden, ohne dass Bruckner dabei seine Liebe zu blockartigem Posauneneinsatz aufgibt. Doch diese Blechmacht kann dabei nicht mehr imperial glänzen, sie gerät in einen Sog. Kontrapunkt wird hier zum Drama des Materials, in einer heißlaufenden Versuchsanordnung. Auch geradezu ironische Momente gibt es. Wenn Horn und Holzbläser ab Takt 262 in wenigen Sekunden von Ges-Dur nach D-Dur geraten, ist das so schwindelerregend elegant, dass die Flöten kurz darauf darüber zu kichern scheinen.
Nein, offiziell kichern die Flöten natürlich nicht, sie spielen eine Motivabspaltung, und diese Takte sind im Wortsinn fragil. Man merkt, dass der ganze große Entwurf sehr nah am Zerbrechen ist – und das auch sein soll. Von den Schocks des Anfangs bis zum sehr dünnen Eis der Modulationen wird so viel riskiert, dass der dann wirklich ungebrochen triumphale Schluss des Satzes wie eine nötige Erholung wirkt, oder wie Applaus, den Bruckner sich selbst spendet, wenn es schon sonst keiner tut.
Nach dem Adagio, dem Gravitationszentrum der ganzen Sinfonie, ähnelt das Scherzo einem verordneten Besuch beim Heurigen: Mal wieder unter die Leute kommen! Luft schnappen vor dem Finale. Vor dem Finale einer Sinfonie haben alle Komponisten Angst, um so mehr, je besser der Anfang gelang. Dessen Niveau soll der Schluss ja mindestens haben.
Aber so hilflos Anton Bruckner als Mensch oft ist, als Komponist ist er ein überragender Therapeut seiner selbst. Wenn der Anfang so gut war, warum ihn nicht noch einmal nehmen? Sieben Takte lang copy and paste, das Pizzicato, die langen Vorhalte… nur seltsam, dass darüber die Klarinetten zwei Mal eine Oktave spielen, je zwei Viertelnoten. Es folgen, wie schon einmal, sechs Viertel Pause. Danach aber kein Schock, sondern fast ein Spaß: die Klarinetten ergänzen ihren Oktavsprung zu einem Motiv, das in Richard Strauss´ Till Eulenspiegels lustige Streiche vorkommen könnte. Aber der Clou ist, dass Bruckner mit den rätselhaften Klarinettentönen schon das Kommende zitiert. Sie sind das Kopfstück eines markanten Themas, das von den Streichern als fünfstimmige Fuge angegangen wird. Sie führt in ganz andere Bereiche als die ersten drei Sätze. Jetzt geht es um die große Kohärenz, die auch einem Choral eine stabile Umgebung bieten kann.
Der fiktive Choral selbst ist aber gar nicht so stabil, auch wenn elf Blechbläser ihn spielen. Er beginnt auf leichter Taktzeit und moduliert gleich von Ges-Dur nach B-Dur, zur Andacht nur bedingt geeignet. Auch der Choral wird Material, nach einer weiteren Fuge raffiniert verschränkt mit dem ersten Thema. Das wiederum öffnet sich später einem lieben Vertrauten, dem beschwingten ersten Thema des Kopfsatzes. Davon mag sich Bruckner nicht trennen, es blüht hier neu auf wie Sieglindes Schwangerschaftsmotiv am Ende der Götterdämmerung.
Vielleicht ist dieses Thema Bruckners „Ich“-Signatur. Selbst nach gleißendem Choraltriumph winkt es noch in den Schluss, wie ein Einwurf von einer der Emporen in San Marco, auf denen drei Jahrhunderte zuvor Giovanni Gabrieli seine Ensembles verteilte, um in mehrchörigen Canzonen berauschende Echowirkungen zu erzielen. Bruckner kennt diese Musik, er grüßt die Avantgarde der Vergangenheit. Und die Zukunft? Real gehört hat er seine Fünfte nie, nur eine Bearbeitung für Klavier zu vier Händen. Da war er 62 Jahre alt.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Programmheft des Gürzenich-Orchesters Köln, das Bruckners Fünfte am 26.-28. März 2023 aufführte, unter der Leitung von François-Xavier Roth. In diesem Programm findet sich auch mein Text zu Georg Friedrich Haas’ Klangwerk für Schlagzeug und Orchester (2019).