Ganz schön brachial: Manfred Trojahns Oper “Orest” in deutscher Erstaufführung in Hannover
Zerschossen die Wände, verbogen das Treppengeländer, das Skelett des Gebäudes tritt schon zutage. Es kann mal ein Ballsaal gewesen sein, hinten hängt noch einsam ein Lüster neben dem Loch, das eine Granate in die Decke riss. Ruinenromantik ist das nicht in einer Zeit, in der man hinter Berichten aus Damaskus solche Innenräume ahnt. In Hannovers Opernhaus wird für Orest mit geradezu fotografischer Akkuratesse eine Verwüstung auf die Bühne gebracht, wie sie anderswo Realität ist. Vor zwanzig Jahren hätte der Raum des Schweizer Bühnenbildners Etienne Pluss an Dubrovnik denken lassen, vor zehn Jahren an Grosny. Die Antike im Zeitalter postmoderner Bürgerkriege?
Aus Pluss’ Sicht ist die Geschichte der Atriden und des Trojanischen Kriegs eine abendländische Quelle, aus der das Blut so sprudelt wie aus dem Wasserhahn im Trümmersaal, der nun den Rahmen für die deutsche Erstaufführung von Manfred Trojahns Oper Orest bildet. Das Werk beginnt mit jenem Schrei, mit dem in Richard Strauss’ Elektra die Gattenmörderin Klytemnästra unter den Hieben ihres Sohnes Orest stirbt. Frei nach Euripides hat Trojahn, Jahrgang 1949, sich selbst ein Libretto geschrieben, das in sechs Szenen Orests Verzweiflung nachgeht. 2011 in Amsterdam uraufgeführt, kehrt das Werk jetzt zu einem seiner Anreger zurück.
Es war Intendant Michael Klügl, der den Komponisten auf das Sujet brachte und nun dafür sorgt, dass Orest weit früher, als es neuen Opern sonst widerfährt, nachgespielt wird. In Amsterdam hatte Regisseurin Katie Mitchell sich vom zeitlos Katastrophischen distanziert und ein Villendrama mit Weihnachtsbaum geliefert, eine bürgerliche Milieustudie aus der privaten Kampfzone. Das hannoversche Kriegsambiente stellt Musik und Regie auf eine weitaus härtere Probe. Es ist nicht leicht, hier Psychologie und Personenerkundung zu treiben. Was Enrico Lübbe, bislang vor allem als Theaterregisseur aufgefallen, auch gar nicht erst versucht.
Sein Orest – der wuchtig präsente Bariton Björn Waag – liegt meistens halb hospitalisiert an der Wand. “Ich weiß, da ist mehr”, singt er abgerissen zu jagenden Orchestertönen, “mehr in der Welt als all das Blut, all der Leichengeruch um mich her.” Seiner Sehnsucht “nach klarer Luft und offenem Himmel” steht das über ihn verhängte Todesurteil ebenso entgegen wie ein weiterer Mord, zu dem sich Orest von seiner Schwester Elektra treiben lässt. Wo freilich schon ein Dutzend blonder Wiedergängerinnen Klytemnästras blutverschmiert im Dreck liegt, fällt eine weitere Tote kaum ins Gewicht, und sei es auch die schöne Helena, die Auslöserin des Krieges.
Ein bisschen feiner sind die Gestalten aber doch komponiert, als sie hier inszeniert werden. Individuen lernt man nicht kennen; Lübbe führt nur Gewalt und Verzweiflung vor, auch wenn er mittendrin die Karikatur eines Kriegsgewinnlers herumscharwenzeln lässt. Trojahns Doppelgott Apollo-Dionysos wird von Tomasz Sagorski genüsslich als Strizzi mit Pelzkragen und Goldkette gegeben. Nicht nur bei ihm tönt mitunter wie Sprechgesang, was halbtonfein notiert ist. Und die drei Akkorde, in denen sich ein Damenterzett einig wird, klingen dissonant, obwohl es sich um blütenreine Dreiklänge handelt. Die Harmonik dieser Takte ist auch eine Reverenz vor Richard Strauss, zu dessen Nachbarschaft sich Trojahn in mancher Hinsicht gern bekennt.
Seine Oper übernimmt aus Elektra neben dem Schrei auch das Heckelphon. Dieser altertümlich dunkel schnarrende Oboenmutant begleitet in Orest Helenas Frage an Elektra: “Wie tief bist du verwundet?” Sopranistin Dorothea Maria Marx singt das einfühlsamer, als sie es spielen darf. Und obwohl ihre Widersacherin als Flintenweib dauerwütend herumstapfen muss, erweist sich Elektra, von Mezzosopranistin Khatuna Mikaberidze überragend gesungen, als die spannendste Partie des Abends – wie überhaupt die Musik manche Leerstelle der Personenregie gut übersteht. Auch darin ähnelt Trojahn dem Theaterpraktiker Strauss: In ihrer Stringenz, ihrer Sanglichkeit und Dramatik ist seine Partitur sozusagen tropentauglich, sie funktioniert unter fast allen Umständen.
Der Preis dafür ist eine gewisse Vorhersehbarkeit. Bissige Bläserakkorde, dräuende Orgelpunkte lassen mitunter mehr an einen Soundtrack als an eine Oper denken, auch weil Gregor Bühl am Pult des Niedersächsischen Staatsorchesters die Sache eher archaisch angeht als artifiziell. Was man ihm zugutehalten muss: Es kommen dabei überraschende Qualitäten zum Vorschein. Trojahn fasziniert immer da, wo er sich ganz auf einen Klangzustand einlässt. Das Orchesterintermezzo im Fünzehnachteltakt etwa wirkt wie eine ambient music für Kriegsruinen, motorisch, aber unberechenbar, halb lebender, halb metallischer Klang, android, verletzt und schrottig.
Hinter diesem klanglich gleichsam objektivierten Grauen ahnt man das real Kaputte und Ausweglose. Musik und Raum verbinden sich zu einer Situation, in der für Leben, für Menschen kein Platz mehr ist. Orest und seiner letzten Hoffnung Hermione bleibt nur der Schritt nach vorn an die Rampe, hin zu uns, in die Geborgenheit des Zuschauerraums. Doch als müsste man die noch hinterfragen, dröhnt noch mal der Schrei des Anfangs aus den Boxen. Die Partitur ist klüger. Sie endet pianissimo.
Der Artikel erschien am 14.2.13 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt.