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Comic Trips und Engelsklagen

Für Orchester wird so viel komponiert wie selten zuvor. Wer spielt das, wer hört das? Ein Blick auf die sinfonische Avantgarde, deren wichtigstes Orchester jetzt 70 Jahre alt wird, um sich dann aufzulösen

Es sind nur sechs Minuten, aber die haben es in sich. Der Komponist John Adams hat kein bisschen übertrieben, als er fröhlich warnte vor „unreasonably difficult passages and alarmingly fast tempi“ und seinen Road Runner auf die Piste schickte, den letzten Satz der Chamber Symphony für fünfzehn Instrumente. Dem jagen sie jetzt im Probensaal hinterher, die Musiker in Cottbus, durch aberwitzige Skalen und Rhythmen, funkelnde Kontrapunktik, zusammengehalten von dem, was Reinhart Wronna in seiner kleinen Schlagzeugfestung klöppelt und teckelt und dengelt, und von den gelassen swingenden Gesten des Mannes, der diesen hyperkomplexen comic trip dirigiert, ein bisschen aus der Hüfte heraus.

Das ist Evan Christ, 45, aufgewachsen in Las Vegas, wo seine Mutter in einem Revueorchester geigte. Der Mann, der die Moderne nach Cottbus brachte, nicht nur bewährte Sachen wie die von Adams. Ausgerechnet hier in der Lausitz hundert Kilometer südöstlich von Berlin, wo die Straßen leer genug sind für ein paar hundert road runners, hat das Philharmonische Orchester es in acht Jahren auf 65 Uraufführungen gebracht und in dieser Zeit die Zahl der Konzertbesucher um 20 Prozent gesteigert. Was ist denn da los?

Was ist in Deutschland überhaupt los mit den öffentlich finanzierten 130 Orchestern und ihrer neuen, neuesten Musik? 800 Kilometer südwestlich von Cottbus feierte jetzt ein Ensemble mit weltweit bestaunter Avantgardekompetenz sein siebzigjähriges Bestehen, um demnächst zu verschwinden: Das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg fusioniert mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR zum 180 Musiker umfassenden SWR Symphonie Orchester. Nach Jahren der Proteste, nach 31194 Unterschriften von Bürgern, dem Einspruch von 160 Dirigenten und 148 Komponisten ist der Sparplan zum Fahrplan geworden.

Jetzt möchte man doch mal wissen, wie es in diesem Land denn sonst bestellt ist um den Orchesterklang der lebenden Komponisten, sein Echo und seine Chancen. Wer die Fusion beim SWR schon für ein Fanal hielt, in dessen Fackelschein der Niedergang einer Musiknation zu bobachten ist, darf das nicht nur mit Blick auf die Pläne des neuen Hybridorchesters relativieren, sondern auch im Theater Cottbus. Dort hat es Evan Christ, der vor acht Jahren als GMD antrat, keineswegs leicht gehabt mit seiner antimusealen Gesinnung. „Sie nehmen mir die letzte Freude im Leben!“, rief ihm bei einer Diskussion ein verstimmter Hörer zu.

evan christEvan Christ, GMD in Cottbus seit 2008. Foto: Agentur

„Aber wir reden von fünf Minuten“, meint Christ, „jeder hält das aus.“ Das war sein Trick, von der zweiten Spielzeit an: Für jedes der jeweils acht Programme des Orchesters wurde ein Kurzwerk in Auftrag gegeben, von DDR-Altmeister Georg Katzer bis zur jungen Slowenin Nina Sěnk, von der sinnlichen Musik des Philippe Manoury bis zur Isländerin Atli Ingólfsson, deren karge, weite Klangwelt dann auch als Reimport auf der Vulkaninsel realisiert wurde. Die Musiker mochten das anfangs gar nicht. „Sogar hinterm Steg zu spielen und andere Standardtechniken der neuen Musik waren denen zuviel. Ich musste das durchziehen, dranbleiben, knallhart proben, mit ein bisschen guter Laune…“

Mehr Avantgarde, mehr Publikum? In Cottbus geht das

Dann kam die Wende. Zuerst die Überraschung, dass das Konzertpublikum sich vergrößerte und verjüngte im traumhaft schön sanierten 600-Plätze-Theater von 1905, dann die Anerkennung der deutschen Musikverleger für das bundesweit „beste Konzertprogramm“ der Saison 2010/11. Wie wenig solche Preise freilich helfen, wenn die Politik nicht mitzieht, sieht man derzeit im nordrhein-westfälischen Hagen: Auch dort wurde vor einem Jahr das Orchester des Theaters für sein ambitioniertes Programm ausgezeichnet, jetzt fährt die Stadt mit brutalen Sparbefehlen das ganze gut laufende Haus an die Wand. Mit solchen Partnern kann auch der beste GMD nicht auf Erfolgskurs bleiben.

Freilich verzichtet Evan Christ auch mal auf einen Solisten, um ein Auftragswerk bezahlen zu können, „und die Komponisten kommen uns entgegen“. Denen bleibt aber oft auch gar nichts anderes übrig: „Viele schreiben heute für Honorare, für die vor dreißig Jahren niemand einen Stift angefasst hätte“, sagt Christiane Krautscheid, Unternehmenssprecherin des Schott Verlags in Mainz.Von 1000 Euro pro Minute komponierter Orchestermusik – worin durchnittlich eine Woche Arbeit steckt – können nur etwa dreißig Stars der Szene träumen. „Die meisten hangeln sich von einem Preis zum nächsten, von residence zu residence, und kriegen mit Glück eine halbe Professur.“

Paradoxerweise registriert sie gleichzeitig eine „Uraufführungssucht“. Allein ihr Verlag betreut 80 von den 2000 kompositorischen Jungfernfahrten weltweit. Doch um den deutschen Kuchen, der etwa ein Fünftel der globalen Klassikszene umfasst, drängeln sich zunehmend auch begabte Tonsetzer aus dem Ausland. Die Zahl der infrage kommenden Konzerte wächst dabei nicht, und zu mindestens 90 Prozent sind die Programme gefüllt mit der Musik verstorbener Größen. Die Berliner Philharmoniker, Flaggschiff deutscher Orchesterkunst, widmen den Lebenden knapp fünf Prozent ihrer Programme, darunter freilich, in der laufenden Saison, gleich zwei Uraufführungen.

„Die Geburt ist einfacher geworden, das Leben danach schwerer“, sagt Krautscheid, und Uwe Sommer-Sorgente, Dramaturg an der Düsseldorfer Tonhalle, bestätigt das: „Die Nebengeräusche einer Uraufführung sind groß, die Folgen weniger.“ Wenn von 65 Cottbuser Novitäten zehn nachgespielt werden, ist das schon viel. Viele Werke bekommen nie die Chance, sich ohne Rummel zu bewähren – oder nach einem fairem Prozess stärkeren Stücken Platz zu machen. Und nur Rundfunkorchester wie die des SWR können es sich leisten, ein bahnbrechendes und aufwändiges Werk mit Tourneen und Sendungen in Umlauf zu bringen.

Wofür kriegen Rundfunkorchester ihr Geld?

Auf diese Weise konnte Georg Friedrich Haas´ Limited Approximations für Orchester und sechs vierteltönig gestaffelte Flügel zum Kultwerk werden, auch außerhalb von Spezialgehegen wie der Reihe „Musica viva“, mit der der Bayerische Rundfunk seit 1946 dem Auftrag eines „inhaltlich umfassenden Programmangebots“ nachkommt. Jenes Angebots also, mit dem die Rundfunkorchester ihre gebührenfinanzierte Existenz zu rechtfertigen haben. Auf der ARD-Website liest man dazu: „Während kommerzielle Ensembles überwiegend marktorientiert agieren, verschaffen die Klangkörper der ARD auch kaum bekannten Werken Wahrnehmung.“ Das ist aus gutem Grund sehr verhalten formuliert.

Während der einzige reine Klassiksender der ARD, BR Klassik, ab 2018 nur noch digital zu empfangen ist und beim WDR die Klassik kleinreformiert wurde, ist Avantgarde im Radio sowieso kaum wahrnehmbar – und zwar schon lange. Zwischen 1960 und 1990 schrumpfte die Zahl der ARD-Produktionen neuer Musik auf knapp die Hälfte, 37 im Jahr, während die Romantik sich auf 90 verdoppelte und jeder Chefdirigent seinen Brahms oder Bruckner komplett aufnahm. Ungefähr so blieb es, besonders krass beim NDR, wo man es mittlerweile wieder besser mit dem Neuen meint: Das NDR Elbphilharmonie Orchester räumt lebenden Komponisten knapp ein Fünftel seiner Werkliste ein.

Wer nach Bewegung sucht, stößt auch auf Kristjan Järvis schräge Programme mit dem MDR Sinfonieorchester und immer wieder auf kleinere Häuser wie das in Cottbus, auf Orchesterchefs wie Rasmus Baumann in Gelsenkirchen oder Hermann Bäumer in Mainz. Gabriel Feltz hingegen, Generalmusikdirektor in Dortmund, bremst der Blick auf die Kasse: „Wenn ich ein klassisch-romantisches Programm mache, habe ich eine Zuschauerzahl A. Spiele ich darin ein klassisches Werk des 20. Jahrhunderts, habe ich A minus 200. Nehme ich einen aus der sogenannten zweiten Reihe, Krenek, Zemlinsky, Korngold, habe ich A minus 300.“ Vorerst dirigiert er hier keinen Ton aus einer neueren Partitur.

„Diese Argumentation finde ich schwierig“, meint Michael Becker, Intendant der Tonhalle Düsseldorf. Zwar hat auch er es erlebt, dass Zemlinskys „Lyrische Sinfonie“ von 1923 ein Minus von 250 Besuchern einbrachte. Doch das war erst der Anfang einer Reihe mit der Musik einst verfemter Komponisten, konsequent und kommentiert durchgezogen, mit großer Romantik kombiniert. „Langsam hat sich das akklimatisiert, die Leute haben die Geschichte verstanden, am Ende war der Schnitt normal. Die Musik ist nie das Problem, es geht immer um die Vermittlung.“ Er konnte sogar den Stadtkämmerer für Musik von Peter Ruzicka begeistern, „und das ist für einen normalen Sterblichen extrem harte Kost.“

„Natürlich“, sagt Verlagssprecherin  Christiane Krautscheid, „gibt es im Konzert immer noch das mittelalte Ehepaar, das die Augen verdreht, wenn es im Programm auf einen Komponisten ohne Sterbedatum stößt.“ Sie sieht aber ein neues Publikum entstehen, das Avantgarde als Event in Umspannwerken und Kohlenkellern mag, „gern auch ein Video dazu und ein Bier. Die haben keine Lust, zwei Stunden festgetackert im Parkett zu sitzen. Da lassen sich die Orchester inzwischen sehr viel einfallen.“ Doch so oder so gilt: Man will etwas erklärt kriegen. „Wenn der Komponist selbst das tut, ändert das alles. Denn wenn mich etwas verstört, will ich doch wissen, warum.“

Darum sitzt vor der jüngsten Uraufführung dieser Tage der 54-jährige Helmut Oehring in der Rotunde der Tonhalle Düsseldorf und erzählt mit seiner sanften Stimme,was Malala Yousafzai mit Walter Benjamin zu tun hat, die Kinderrechtsaktivistin aus Pakistan mit dem Philosophen, der vor den Nazis floh, warum Engel ohne Worte singen, warum der Sopranistin im neuen Stück ein E-Gitarrist beisteht und Schlagzeuger Papier zerreißen. Oehring hat die Vokalise eines untröstlichen Engels im Auftrag der Tonhalle und der Symphoniker geschrieben, das Orchester ist so besetzt wie Strawinskys Psalmensinfonie, die gleich danach kommt,also ohne hohe Streicher.

Und das Publikum? Natürlich freuen sich die Leute auf Tschaikowskys Fünfte nach der Pause. Aber 1400 Zuhörer lauschen konzentriert der schrundigen E-Gitarren-Improvisation, mit der Daniel Göritz das Stück eröffnet, dem Übergang zu einem Orchestergeräusch, in dem eine Welt des Grauens sich zu regen scheint. In treibenden Rhythmen nimmt es Kontur an, wandelt sich unter den Linien der Sängerin Marisol Montalvo, bis die Orchestermusiker zu sprechen beginnen. Nach 206 Takten lässt die Dirigentin Keri-Linn Wilson die Arme sinken. Schon Schluss? Es fühlt sich an, als fehle die Hälfte. Was dann doch ganz gut zum Weg der Orchester in die Gegenwart passt: to be continued.

oehring partitur

Ausschnitt aus der Partitur “Vokalise eines untröstlichen Engels”. Ganz oben; Die E-Gitarre.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Eine etwas kürzere Version mit der Überschrift “Die Neugier wächst” erschien in der ZEIT vom 4. Mai 2016

 

 

 

 

 

 

 

Vorbilder statt Vorläufer

Die Bachs vor Bach in Neuaufnahmen – Eindrücke eines Involvierten

Gerade mal 20 Jahre alt war der Erfurter Jurastudent Johann Georg Kelner, als er anno 1675 starb. Oder, schöner gesagt, „weggerükket“ wurde „aus dem Leben unter den Sündern“. So heißt das in der Trostmusik, ohne die keiner mehr nach dem jungen Mann fragen würde. Komponiert hat sie der Eisenacher Organist Johann Christoph. Damals eine Thüringer Größe, ist er mittlerweile international bekannt. Seine fünfstimmige Motette Der Gerechte, ob er gleich zeitlich stirbt für den Erfurter ist keine Neuentdeckung, sie wurde schon vom Thomaskantor J.S. Bach in Leipzig wieder aufgeführt.

Neu zu entdecken ist aber mittlerweile das Potential, das sie und nahezu alle erhaltenen Stücke der Bachs vor Bach für eine anhaltende Auseinandersetzung bieten. Gleich zwei Doppel-CDs mit Musik der Familie sind jetzt frisch erschienen, elf Werke haben sie gemeinsam – und sind doch unverwechselbar. Das zu hören ist besonders spannend für einen, der wie der Autor selbst bei einer der Aufnahmen mitwirkte: 2002 legte Cantus Cölln das „Altbachische Archiv“ vor, das bei Harmonia Mundi jetzt erneut herauskommt.

Auch als Bratscher, der bei den rein vokalen Werken wie Johann Christophs Motette nicht beschäftigt ist, habe ich eine dezidierte Vorstellung davon, wie sie „sein müssen“ – und darum schert sich das belgische Ensemble Vox Luminis natürlich überhaupt nicht. Die vierzehn Sänger unter der Leitung von Lionel Meunier haben für Ricercar sämtliche Motetten der Familie vor JSB aufgenommen. Dabei wird aus Der Gerechte ein gelasseneres, klangvolleres, vielleicht sogar tröstlicheres Werk als zuvor.

Zugleich wird die wortnahe Dringlichkeit bei Cantus Cölln um so deutlicher wird. Da gibt es zum Beispiel das Dreiermetrum, in dem Johann Christoph die Zeile „Denn seine Seele gefällt Gott wohl“ komponiert. Konrad Junghänel nimmt es beschwingt, denn Gott „eilet“ mit dieser Seele aus dem bösen Leben davon – und das entspricht ganz der Wortwörtlichkeit der Töne, wie sie deutsche Komponisten des 17. Jahrhunderts aus Italiens Madrigalen übernahmen. Lionel Meunier sieht und dirigiert diesen Dreier aber als Wiegenlied.

„Herrje, ist das langsam!“, denke ich zuerst. Und finde es dann doch ebenso einleuchtend, denn das „Ruhebettlein“ der Gestorbenen ist ein zentraler Begriff der Zeit, Wiegendreier für himmlische Ruhe finden sich in vielen Werken. Meunier, der alle Stimmen mit zwei Sängern besetzt, ist ganz bewusst mehr an Klang als an Aktion interessiert. Was der Textdeutlichkeit nicht entgegensteht. Die Solisten von Cantus formulieren zwar pointierter – dafür verbindet Vox Luminis die Textklarheit mit sakralem Schwebezustand.

Vielleicht erzählen diese unterschiedlichen Ansätze auch etwas über die zwölf Jahre, die zwischen den Produktionen liegen. Als Cantus das ABA aufnahm, das Altbachische Archiv, wie die von den Bachs überlieferte Handschriftensammlung heißt, lag der 11. September gerade mal vier Monate zurück. Die Welt war erschüttert, nicht abzusehen die Verunsicherung in den weiteren Jahren. Undenkbar wäre heute, was noch im Dezember 2001 möglich war: Die Rückführung der Handschriften des „ABA“ (und weiterer 5000 Musikalien) aus Kiew, wo sie als Beutekunst lagen, nach Berlin.

Wir sind hilfloser und trostbedürftiger geworden seither. Und wer glaubt, dass Musiker auf ihre Zeit(en) reagieren, darf das in Erwägung ziehen, wenn im Klang jüngerer Aufnahmen eine Tendenz zum Weichen, Umhüllenden, Ruhigen waltet. Was bei Vox Luminis nicht zur Wellness regrediert, sondern in leuchtender Klarheit besonders die Aufwertung eines jüngeren Bruders von Johann Christoph Bach erzwingt, nämlich Johann Michael, 1648 in Arnstadt als Sohn des Organisten Heinrich Bach geboren.

Vier von Michaels Motetten finden sich in beiden CD-Paketen, eben die aus dem Familienarchiv, bei Vox Luminis aber noch neun weitere, auf anderen Wegen überliefert, die deutlich machen, dass Michael eine starke Gegenposition zum expressiven, dramatischen Christoph einnimmt. Er liebt es, doppelchörig weite Räume zu schaffen, in denen zwischen einem Choral und einem metrisch ungebundenen Bibeltext größte Geborgenheit herrscht – wenn er etwa „Jesu meine Freude“ und „Halt, was du hast“ verschränkt.

Wer diese Motette mit Vox luminis zum ersten Mal hört, mag diesen ortlosen Raum gar nicht mehr verlassen, so anstrengungslos kommt die Multiperspektivik zustande, als Synthese von Mehrchörigkeit und Choralgesang. Michael zählt zur Nachkriegsgeneration derer, die die Ruhe haben, sich zu finden, und er feiert den Choral. Dass die vertrauten Melodien in Abschnitte geteilt werden, steigert ihre Wirkung: Es ist dann, als blicke man wie durch Fenster auf ein immer Vorhandenes, Ewiges.

Dagegen hätte der ruhelose, dramatische Johann Christoph mit seinen Modulationen selbst Max Reger hätte nervös machen können. Jetzt, 30 Jahre nach Reinhard Goebels bahnbrechender Ersterkundung des Altbachischen Archivs, hört man deutlich, dass Johann Sebastian in seiner Familie nicht irgendwelche rührenden „Vorläufer“ hatte, sondern Vorbilder von großem Format, die den Klang der Zeit in Mitteldeutschland fanden und prägten.

Nicht nur Heinrichs Söhne. Wenn tatsächlich Johann Bach, ältester der drei Söhne eines Spielmanns aus Wechmar, die Motette Unser Leben ist ein Schatten komponiert hat, war der Clan sehr früh innovativ. Es gibt einen „versteckten Chor“ der Toten und durchbrochene Choräle, deren Texte aus Luthers Zeit ebenso wie aus Johanns Gegenwart stammen, und es war ausgerechnet der Sohn eines zeitgenössischen Suhler Waffenhändlers, der da dichtete: „Ich weiß wohl, dass unser Leben oft nur als ein Nebel ist.“

In diesem formal aufgerissenen Werk des Erfurters Johann Bach ist der Krieg noch nicht zuende. Wenn am Ende „alle davon“ müssen, treffen sich die letzten beiden Stimmen auf einem Ton und verschwinden. Kein Trost? In der Aufnahme von Cantus Cölln waltet das Existentielle vor, das Ende wirkt fast sarkastisch knapp. Vox Luminis verfahren dagegen mit breiteren Tempi und strömendem Klang weniger „realistisch“: Hier verwandelt sich die Leidenserfahrung in schöne Zuversicht.

In jedem Fall und bei all diesen früheren Bachs ist zu spüren, dass die Atmosphäre auf dem Planeten vor 1700 eine andere ist als danach: Dichter, mit stärkeren Aromen. Das wird auch deutlich, wenn man Johann Sebastian Bachs frühe Motette Ich lasse dich nicht hört, in beiden Paketen vertreten, da sie lange Johann Christoph zugeschrieben wurde. Doch zu dem würde etwas so ordentlich Gebautes gar nicht passen, und Michael wäre die Konstruktion wohl zu abstrakt. Hier beginnt er, der Weg zur Schwerelosigkeit.

Altbachisches Archiv: Cantus Cölln (2002/2015), 2 CDs, Harmonia Mundi
Johann, J. M. und J. C. Bach: Motetten. Vox Luminis, 2 CDs, Ricercar

Dieser Text erschien am 8. Oktober 2015 in der Musikbeilage der ZEIT – mit anderer Unterzeile – und ist urheberrechtlich geschützt

Das kennt ihr doch sowieso

Concerto Köln und Freiburger Barockorchester machen bei Bachs „Brandenburgischen Konzerten“ alles richtig. Aber warum heben sie so selten ab?

So hat man die Trompete noch nie gehört. Ist das noch eine Trompete, aus der da taufrisch Töne nach oben perlen, als sei die Schwerkraft aufgehoben, als müsse bei diesem Barockinstrument nicht jeder Ton, mangels Ventil, mit den Lippen geformt werden? Freundlich erinnern Sologeige und Oboe daran, dass sie eigentlich gelenkiger, aber die tromba hat uns längst auf Wolke sieben katapultiert, und von dort gibt es in Takt 29 noch einen Kick, oops, und auf dem hohen f fällt einem das kritische Besteck ganz aus der Hand. Nicht einfach wegen der Virtuosität, sondern der Freiheit dieser Musik.

So beginnt das zweite der so genannten Brandenburgischen Konzerte von Johann Sebastian Bach in der jüngsten Aufnahme, und so, denkt man, hat sich der Alte das gedacht (der da höchstens 35 Jahre alt war). Eine extrem gut gelaunte Versuchsanordnung, avantgardistisch und bis heute singulär. Bis vor einigen Jahrzehnten zweifelte man noch an Bachs Sinn für Klangbalance, weil er im F-Dur-Konzert nicht nur Trompete, Oboe und Geige als solistische Hochtöner kombiniert, sondern auch die Blockflöte. Aber seither haben die Trompeter gelernt, fein und sensibel zu spielen.

Und flinke Tempi anzuschlagen wie das Ensemble Concerto Köln, das mit seiner Gesamtaufnahme der Brandenburgischen nun dezidiert in Konkurrenz tritt zum Freiburger Barockorchester. Das legte sein Sixpack ebenfalls in diesem Jahr vor, und so lässt sich an einem der berühmtesten Zyklen des 18. Jahrhunderts hören, wie es bei den renommiertesten deutschen Orchestern historisch informierter Spielweise (neben der Akademie für Alte Musik) derzeit um Bach steht. Eher verhalten nämlich. Ein Glücksflug wie der mit Trompeter Hannes Rux und Concerto Köln bleibt die Ausnahme.

Dabei ist ihm sein Kollege Jaroslav Roucek mit dem Freiburger Barockorchester dicht auf den Fersen – in der gleichen französischen Stimmung mit einem Kammerton von 392 Hertz. Der liegt einen Ganzton unterm modernen a und macht die Höhenakrobatik etwas entspannter. Indessen bleibt das FBO im Tempo bedächtiger, die Trompete ist zugunsten der Flöte nach hinten geregelt, man hebt hier nicht ab. Das gelingt ihnen dafür beim Einstieg ins erste Konzert, ebenfalls F-Dur, mit hinreißend brünstig knatternden Hörnern – Bach entnahm das vermutlich einer Jagdkantate für seinen Weimarer Herzog.

Die folgenden Sätze bergen noch Reste der alten französischen Tanzsuite. An der Eleganz aber sind die Freiburger wenig interessiert. Sehr deutsch arbeiten sie heftige dynamische Kontraste heraus, uncharmant hackt die Violino piccolo, behäbig statt beschwingt gelingt die Tanzfolge, in der wiederum die Kölner wettmachen, was ihrem Start an Elan fehlte. Wer es noch französischer und lustiger mag, der ist, pardon, bei den Franzosen besser aufgehoben: Das Ensemble „Café Zimmermann“ genießt Bachs stilistische Heterogenität in diesem Konzert wie eine Fete zwischen Höflingen und Berserkern.

Und das dritte Brandenburgische? Hier hat Bach den „italienischen Schock“, den die druckfrisch in Weimar eingetroffenen Konzerte von Vivaldi & Co. auslösten, genial umgepolt, den Gegensatz von Solo und Tutti aufgelöst. Es gibt neun komplett gleichberechtigte Streicher, die als Solisten,  gestaffelte Trios oder Ensemble auftreten. Die Streicher aus Köln und Freiburg treten vor allem die Flucht nach vorn an. Tonschönheit ist Nebensache bei Tempo 100 bis 108. Da qualmen die Reifen und kratzen die Saiten, das Leben aber muss man selbst hineinhören, als wollten sie sagen: Das kennt ihr doch sowieso.

Vielleicht ist genau das das Problem: Man hört hier viel Stagnation nach noch mehr Rezeption. Und man muss tief in die Frühzeit der Tonträger hinabsteigen, um zu ermessen, was seitdem bei Bach gewonnen, aber auch verloren wurde. Adolf Busch und seine Chamber Players machten sich anno 1935 auf den Weg zum instrumentalen Bach wie Pioniere im nebligen Moor. Fürs Sechste Brandenburgische etwa seilten sich gleich mehrere Bratscher an und stiefelten zu schweren Klavierschlägen chorisch los. Für sie waren Chiffren zu enträtseln, da hatte Bach noch, wie für Richard Wagner, etwas von einer Sphinx.

Gut fünfzig Jahre später waren Quellen und Spieltechniken, war die barocke Klangrede in Forschung und Praxis so gut erschlossen, dass Aufnahmen der 1980er ein Goldenes Zeitalter spiegeln. Swingend, poetisch, genießend spielten die Bratschensolisten des English Concert das Sechste. Und das Dritte – tja, da brach Reinhard Goebels Musica Antiqua Köln alle Temporekorde, bis heute unerreicht. Und das war keine Flucht nach vorn, da blitzte es berauschend. Die wollten dem Rest der Welt einfach mal zeigen, was möglich ist.

Just in jener Zeit gründeten sich die beiden dirigentenlosen Barockorchester, die seitdem auch beim Ausgraben unbekannter Meisterwerke und einer neuen Sicht auf die Klassik Überragendes geleistet haben, aber nun klamm im Schatzhaus der Brandenburgischen stehen, jener Six Concerts avec plusieurs Instruments A Son Altesse Royalle Monseigneur Cretien Louis, Marggraf de Brandenbourg, letzterem 1721 in Reinschrift überreicht. Das wunderschöne Autograph ist heute für jeden bequem anklickbar, Seite für Seite. Alle Türen sind geöffnet, alle Noten vermessen, aber sind deswegen schon alle Wege gegangen?

Auch wenn die vom Rhein ein Spürchen sinnlicher spielen – die Konzepte der Ensembles ähneln sich, und hier wie da prickeln vor allem die Werke mit ventillosen Blechbläsern, bei denen sich das spieltechnische Niveau in den letzten dreißig Jahren drastisch gehoben hat. Da spürt man Lust. Die Streicher lassen eher aufhorchen, wo es innig wird wie beim Dialog von Geige und Traversflöte im Fünften Konzert, bei fast identischen Tempi und karger Studioakustik (bloß kein Hall!). Die Kölner spielen fast einen Liebesdialog. Die Freiburger gehen genauso sensibel vor, doch wird es dort eher eine Trauerklage.

Beides passt. Während Bach in Köthen seine Konzertentwürfe aus Weimar zusammenstellte und verfeinerte, verlor er Maria Barbara, die Mutter von zwei Töchtern und vier Söhnen. Der persönliche Bach könnte es also sein, man muss ihn weder „romantisch“ nennen noch auf die Biographie herunterbrechen, zu dem die nächsten Wege führen. Ein Mann, der im Furor der Sologeige des Vierten Konzerts vielleicht auch seinen geigenden Vater Ambrosius suchte und nicht bloß die Grenzen des Instruments.

So ein Bach bleibt noch zu entdecken. Wir Hörer müssen uns indessen klar machen, wie irrsinnig verwöhnt wir durch die Rezeptionsgeschichte sind. Und wie weit entfernt von der Zeit, als man auf Erden nur die sechs Planeten kannte, auf die Bach die Konzerte vielleicht bezog. Die etwas protestantische Nüchternheit der Neuaufnahmen veranlasst einen auch, sich selbst in diese Welt hineinzudenken. Aber richtig schön ist es natürlich, sich auf der Autobahn BWV 1047 reinzuziehen, das mit der Trompete, und den Idioten auf der Überholspur zu belächeln: Diese Freiheit wird er nie erreichen.

J.S.Bach, Brandenburgische Konzerte, Freiburger Barockorchester, Harmonia Mundi (hmc 902176.77), Concerto Köln, Berlin Classics (0300593BC)

Der Text erschien leicht gekürzt unter der Überschrift “Musik auf der Überholspur” am 27.11.14 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt