Vorbilder statt Vorläufer

Die Bachs vor Bach in Neuaufnahmen – Eindrücke eines Involvierten

Gerade mal 20 Jahre alt war der Erfurter Jurastudent Johann Georg Kelner, als er anno 1675 starb. Oder, schöner gesagt, „weggerükket“ wurde „aus dem Leben unter den Sündern“. So heißt das in der Trostmusik, ohne die keiner mehr nach dem jungen Mann fragen würde. Komponiert hat sie der Eisenacher Organist Johann Christoph. Damals eine Thüringer Größe, ist er mittlerweile international bekannt. Seine fünfstimmige Motette Der Gerechte, ob er gleich zeitlich stirbt für den Erfurter ist keine Neuentdeckung, sie wurde schon vom Thomaskantor J.S. Bach in Leipzig wieder aufgeführt.

Neu zu entdecken ist aber mittlerweile das Potential, das sie und nahezu alle erhaltenen Stücke der Bachs vor Bach für eine anhaltende Auseinandersetzung bieten. Gleich zwei Doppel-CDs mit Musik der Familie sind jetzt frisch erschienen, elf Werke haben sie gemeinsam – und sind doch unverwechselbar. Das zu hören ist besonders spannend für einen, der wie der Autor selbst bei einer der Aufnahmen mitwirkte: 2002 legte Cantus Cölln das „Altbachische Archiv“ vor, das bei Harmonia Mundi jetzt erneut herauskommt.

Auch als Bratscher, der bei den rein vokalen Werken wie Johann Christophs Motette nicht beschäftigt ist, habe ich eine dezidierte Vorstellung davon, wie sie „sein müssen“ – und darum schert sich das belgische Ensemble Vox Luminis natürlich überhaupt nicht. Die vierzehn Sänger unter der Leitung von Lionel Meunier haben für Ricercar sämtliche Motetten der Familie vor JSB aufgenommen. Dabei wird aus Der Gerechte ein gelasseneres, klangvolleres, vielleicht sogar tröstlicheres Werk als zuvor.

Zugleich wird die wortnahe Dringlichkeit bei Cantus Cölln um so deutlicher wird. Da gibt es zum Beispiel das Dreiermetrum, in dem Johann Christoph die Zeile „Denn seine Seele gefällt Gott wohl“ komponiert. Konrad Junghänel nimmt es beschwingt, denn Gott „eilet“ mit dieser Seele aus dem bösen Leben davon – und das entspricht ganz der Wortwörtlichkeit der Töne, wie sie deutsche Komponisten des 17. Jahrhunderts aus Italiens Madrigalen übernahmen. Lionel Meunier sieht und dirigiert diesen Dreier aber als Wiegenlied.

„Herrje, ist das langsam!“, denke ich zuerst. Und finde es dann doch ebenso einleuchtend, denn das „Ruhebettlein“ der Gestorbenen ist ein zentraler Begriff der Zeit, Wiegendreier für himmlische Ruhe finden sich in vielen Werken. Meunier, der alle Stimmen mit zwei Sängern besetzt, ist ganz bewusst mehr an Klang als an Aktion interessiert. Was der Textdeutlichkeit nicht entgegensteht. Die Solisten von Cantus formulieren zwar pointierter – dafür verbindet Vox Luminis die Textklarheit mit sakralem Schwebezustand.

Vielleicht erzählen diese unterschiedlichen Ansätze auch etwas über die zwölf Jahre, die zwischen den Produktionen liegen. Als Cantus das ABA aufnahm, das Altbachische Archiv, wie die von den Bachs überlieferte Handschriftensammlung heißt, lag der 11. September gerade mal vier Monate zurück. Die Welt war erschüttert, nicht abzusehen die Verunsicherung in den weiteren Jahren. Undenkbar wäre heute, was noch im Dezember 2001 möglich war: Die Rückführung der Handschriften des „ABA“ (und weiterer 5000 Musikalien) aus Kiew, wo sie als Beutekunst lagen, nach Berlin.

Wir sind hilfloser und trostbedürftiger geworden seither. Und wer glaubt, dass Musiker auf ihre Zeit(en) reagieren, darf das in Erwägung ziehen, wenn im Klang jüngerer Aufnahmen eine Tendenz zum Weichen, Umhüllenden, Ruhigen waltet. Was bei Vox Luminis nicht zur Wellness regrediert, sondern in leuchtender Klarheit besonders die Aufwertung eines jüngeren Bruders von Johann Christoph Bach erzwingt, nämlich Johann Michael, 1648 in Arnstadt als Sohn des Organisten Heinrich Bach geboren.

Vier von Michaels Motetten finden sich in beiden CD-Paketen, eben die aus dem Familienarchiv, bei Vox Luminis aber noch neun weitere, auf anderen Wegen überliefert, die deutlich machen, dass Michael eine starke Gegenposition zum expressiven, dramatischen Christoph einnimmt. Er liebt es, doppelchörig weite Räume zu schaffen, in denen zwischen einem Choral und einem metrisch ungebundenen Bibeltext größte Geborgenheit herrscht – wenn er etwa „Jesu meine Freude“ und „Halt, was du hast“ verschränkt.

Wer diese Motette mit Vox luminis zum ersten Mal hört, mag diesen ortlosen Raum gar nicht mehr verlassen, so anstrengungslos kommt die Multiperspektivik zustande, als Synthese von Mehrchörigkeit und Choralgesang. Michael zählt zur Nachkriegsgeneration derer, die die Ruhe haben, sich zu finden, und er feiert den Choral. Dass die vertrauten Melodien in Abschnitte geteilt werden, steigert ihre Wirkung: Es ist dann, als blicke man wie durch Fenster auf ein immer Vorhandenes, Ewiges.

Dagegen hätte der ruhelose, dramatische Johann Christoph mit seinen Modulationen selbst Max Reger hätte nervös machen können. Jetzt, 30 Jahre nach Reinhard Goebels bahnbrechender Ersterkundung des Altbachischen Archivs, hört man deutlich, dass Johann Sebastian in seiner Familie nicht irgendwelche rührenden „Vorläufer“ hatte, sondern Vorbilder von großem Format, die den Klang der Zeit in Mitteldeutschland fanden und prägten.

Nicht nur Heinrichs Söhne. Wenn tatsächlich Johann Bach, ältester der drei Söhne eines Spielmanns aus Wechmar, die Motette Unser Leben ist ein Schatten komponiert hat, war der Clan sehr früh innovativ. Es gibt einen „versteckten Chor“ der Toten und durchbrochene Choräle, deren Texte aus Luthers Zeit ebenso wie aus Johanns Gegenwart stammen, und es war ausgerechnet der Sohn eines zeitgenössischen Suhler Waffenhändlers, der da dichtete: „Ich weiß wohl, dass unser Leben oft nur als ein Nebel ist.“

In diesem formal aufgerissenen Werk des Erfurters Johann Bach ist der Krieg noch nicht zuende. Wenn am Ende „alle davon“ müssen, treffen sich die letzten beiden Stimmen auf einem Ton und verschwinden. Kein Trost? In der Aufnahme von Cantus Cölln waltet das Existentielle vor, das Ende wirkt fast sarkastisch knapp. Vox Luminis verfahren dagegen mit breiteren Tempi und strömendem Klang weniger „realistisch“: Hier verwandelt sich die Leidenserfahrung in schöne Zuversicht.

In jedem Fall und bei all diesen früheren Bachs ist zu spüren, dass die Atmosphäre auf dem Planeten vor 1700 eine andere ist als danach: Dichter, mit stärkeren Aromen. Das wird auch deutlich, wenn man Johann Sebastian Bachs frühe Motette Ich lasse dich nicht hört, in beiden Paketen vertreten, da sie lange Johann Christoph zugeschrieben wurde. Doch zu dem würde etwas so ordentlich Gebautes gar nicht passen, und Michael wäre die Konstruktion wohl zu abstrakt. Hier beginnt er, der Weg zur Schwerelosigkeit.

Altbachisches Archiv: Cantus Cölln (2002/2015), 2 CDs, Harmonia Mundi
Johann, J. M. und J. C. Bach: Motetten. Vox Luminis, 2 CDs, Ricercar

Dieser Text erschien am 8. Oktober 2015 in der Musikbeilage der ZEIT – mit anderer Unterzeile – und ist urheberrechtlich geschützt