“Wenn er anfängt zu faszinieren…”

Hat der Mythos vom Maestro ausgedient? Eine Kulturgeschichte des Dirigierens

Freudianer können das Trauma, das die Etablierung des Dirigentenberufs beschleunigte, auf den 10. April 1865 datieren. An diesem Tag beginnen in München die Orchesterproben zur Uraufführung von Tristan und Isolde, an diesem Tag bringt Cosima das dritte Kind des Dirigenten Hans von Bülow zur Welt, Isolde, von der Bülow freilich ahnt, dass ein anderer ihr Vater ist: eben jener Richard Wagner, dessen komponiertes Liebesdrama Bülow zwei Monate später zu einem nachhaltigen Erfolg führen wird. Die Entstehung des Berufsdirigenten fällt also mit seiner Demütigung zusammen. Er entschädigt sich, indem er ein Orchesterleiter von ungeheurer Autorität und größtem Einfluss wird, anspruchsvoll, launisch, gegenüber den Werken nicht selten eigenmächtig.

Aber die Herausbildung dieses Berufs, den noch Meyers Konversationslexikon von 1875 nicht kennt, war ohnehin unausweichlich, und früh nimmt sie ihren Anfang. Schon eine französische Miniatur des späten 15. Jahrhunderts zeigt uns einen Mann, der mit Handzeichen eine Schar von Sängern leitet. Traktate des folgenden Jahrhunderts befassen sich mit der Frage, wie Musiker den Takt schlagen können, die Doppelchörigkeit erfordert einen maestro di cappella, der beide Hände frei hat. Jean-Baptiste Lully wird 1674 in Paris mit einem kurzen Stab gesehen, den er später zu seinem Unglück mit einem weitaus längeren vertauscht: Bei der Aufführung einer Motette am 8. Januar 1687 stößt er sich die Spitze in den Fuß, Monate später erliegt er der Wundinfektion.

Französische Evolution

Der oft störend laute batteur de mesure, der an der Pariser Oper schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine eigenständige Funktion hat, ist an dessen Ende zum machtvollen maître geworden, zum chef d’orchestre, der dem modernen Dirigenten bereits stark ähnelt. Auch nach der Revolution bleibt Frankreich an der Spitze der Evolution. Da ist François-Antoine Habeneck, der sein Orchester zwar vom Konzertmeisterpult aus mit dem Geigenbogen leitet, der aber intensiv (und tyrannisch) probt und mit einer in offenbar illuminierender Durchdringung gebotenen Neunten von Beethoven den Paris-Reisenden Wagner tief beeindruckt. Und da ist Hector Berlioz, für seinen 50-Zentimeter-Stab ebenso bekannt wie für seinen Enthusiasmus und seine Sensibilität den Musikern gegenüber.

Inzwischen haben auch deutsche Ensembleleiter aufgerüstet. Der Geiger Louis Spohr soll schon 1820 in London einen Stab benutzt haben, auch wenn er elf Jahre zuvor noch Haydns »Schöpfung« mit einer Rolle Notenpapier in der Hand leitete. Carl Maria von Weber, Kapellmeister in Dresden, wechselt in dieser Zeit von der Notenrolle zum Holzstab; vor allem aber verbessert er die Qualität des Orchesters und führt eine Sitzordnung nach Stimmgruppen ein. Die Besetzung ist gewachsen wie ihr bürgerliches Publikum, das wiederum, von reisenden Virtuosen wie Liszt und Paganini verwöhnt, mit gestiegenem Anspruch den Orchestern lauscht und den Dirigenten zusieht, die in Konzerten noch frontal zum Auditorium mitten im oder hinter dem Orchester stehen.

Der Zauberstab des Prospero

Darum kann ein Augenzeuge über Felix Mendelssohn berichten, man habe seinem Gesicht ansehen können, was gleich erklingen würde. Dieser erste regelrechte Dirigent des Gewandhausorchesters ist zugleich einer der ersten dirigierenden Tourneestars. Einer seiner britischen Bewunderer berichtet von einer Probe, wie »mehr als fünfhundert Sänger und Instrumentalisten jedem seiner Blicke folgten und, wie gehorsame Geister, dem Zauberstab dieses Prospero sich fügten«. Den Magnetismus, den ein Dirigent entfalten kann, erlebt Hector Berlioz, eigene Werke probend, an sich selbst, er nennt ihn »eine fast unbeschreibliche Gabe«.

Am 28. Januar 1843 kommt es in Leipzig zum Treffen dieser beiden Orchesterleiter (als Komponisten sind sie sich schon früher begegnet); der 39-jährige Franzose nötigt den 33-jährigen Deutschen zum Stabtausch. Fanny, etwas indigniert, beschreibt den Stab ihres Bruders als ein »nettes leichtes, mit weißem Leder überzogenes Fischbeinstöckchen«, den von Berlioz dagegen als »unbehauenen, mit der Rinde versehenen, ungeheuren Lindenknüppel«. Berlioz schreibt dem Kollegen: »Le mien est grossier, le tien est simple.« (»Meiner ist ungehobelt, deiner einfach.«) Der phallische Anklang ist mehr als anekdotisch, er zeigt, wie sehr die Orchesterleitung als Männersache wahrgenommen wird.

Der General und seine Armee

So spricht auch Kaiser Wilhelm I., als er den Dirigenten Richard Wagner mit Beethovens Fünfter erlebt hat, von einem General und seiner Armee. Damit meint er freilich die Machtausübung, nicht den Gleichschritt, denn Wagner bringt den Subjektivismus in die Branche. In seiner Abhandlung über das Dirigieren (1869 erschienen, dreizehn Jahre nach der bedeutenden von Berlioz) verwirft er die Präzision Mendelssohns als unflexibel. Metronomangaben hält er für zweitrangig gegenüber der »Melodie«, wie er die Essenz von Sinn und Ausdruck eines Stückes nennt, und die er mit »Modifikationen« herausarbeitet – also unvorhersehbaren Schwankungen von Tempo und Dynamik, die der ernüchterte Friedrich Nietzsche als »wahre Exzesse von Contrasten« ablehnt.

Von diesem Wagner lernt der um siebzehn Jahre jüngere Pianist Hans von Bülow, der zwar, wie alle größeren Interpreten jenes Jahrhunderts, auch selbst komponiert, aber als Münchner Hofkapellmeister der erste reine Berufsdirigent und – nach dem für ihn durchaus ambivalenten Erfolg des Tristan – die prägende Gestalt der jungen Zunft schlechthin wird. Er dirigiert auswendig, lässt die Musiker der Meininger Hofkapelle stehend spielen und erreicht, im persönlichen Umgang oft verletzend, eine Perfektion, von der neben Wagner (Bülow bleibt gegenüber dessen Musik loyal) auch der ganz andere Johannes Brahms profitiert. »Nehmen Sie mich mit!«, fleht ihn der junge Mahler an, der sein Schüler werden will. Wenn Bülow sich freilich vor dem Trauermarsch der Eroica schwarze Handschuhe auf einem Silbertablett bringen lässt, zelebriert er ein Hochamt, das sich sogar noch in Karajans Beethovenfilmen spiegeln wird.

Die Namen werden größer

Arthur Nikisch bewundert Bülow als »Neuschöpfer« und sieht sich selbst in diesem Licht. »Bitte, wenn er anfängt zu faszinieren, dann stoße mich doch an«, soll, so Adorno, um die Jahrhundertwende eine Zuhörerin zur anderen über Nikisch gesagt haben, der vom Leipziger Gewandhaus ans Pult der Berliner Philharmoniker gewechselt ist. Je mehr aus den Programmen die Musik der Gegenwart verschwindet, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch dominiert hat, desto mehr müssen die Interpreten das Neue, das Überraschende liefern, desto größer werden die Namen der Dirigenten und Solisten im Verhältnis zu denen der Komponisten auf den Plakaten. Und eine Zunft formiert sich.

Da erteilen die Meister ihre Ritterschläge. Gustav Mahler erkennt in Hamburg Bruno Walter (den ein Konzert mit Bülow auf die Bahn brachte) als geborenen Dirigenten und holt ihn nach Wien; Arturo Toscanini sagt 1937 in Salzburg leise »bene« zum jungen Korrepetitor György Stern, den wir als Georg Solti kennen. Wobei Toscanini, wenngleich Bewunderer Wagners, die herausragende Gestalt einer Gegenbewegung zu jener »einheitlichen Fühlweise« ist, die Wilhelm Furtwängler für sich beansprucht. Als Nachfolger Nikischs am Pult der Berliner Philharmoniker treibt Furtwängler die »Neuschöpfung« kanonisierter Werke auf den Gipfel, während Toscanini, Despot der Präzision und Gegner auratischer Unwägbarkeiten, sich weniger als Medium denn als Handwerker sieht.

Keiner von ihnen würde freilich dem Kollegen Herrmann Scherchen widersprechen, der in seinem »Lehrbuch des Dirigierens« 1929 das Orchester als »berauschende Menschenorgel« bezeichnet. Partnerschaftliches Musizieren findet man eher bei den Stadtpfeifern des 17. Jahrhunderts als bei ihren Nachfolgern im Zeitalter von Masse und Macht. Dessen ehrgeizigster Newcomer hat die Konkurrenz dicht hinter sich: Vier Jahre nach Karajan kommen, alle im Jahr 1912 wie, ironischerweise, auch der große Antiautoritäre John Cage, die Big Five zur Welt, die allein genügen würden, den Status des Maestro für ein ganzes Jahrhundert zu sichern: Günter Wand in Elberfeld, Erich Leinsdorf in Wien, Sergiu Celibidache in Iaszi, Kurt Sanderling in Arys, Georg Solti in Budapest.

Auf dem Gipfel der Macht

Herbert von Karajan aber, als er 1948 die Wiener Symphoniker leitet, fällt beim Probespiel ein Cellist auf. »Wie der sich schon hinsetzt, den engagier ich«, murmelt er so, dass der Musiker es hören kann. Aus diesem wird dann der entscheidende Widersacher einer sich zeitlos gebenden Repertoireästhetik: Es ist Nikolaus Harnoncourt. Dabei erlebt er als frischgebackener Symphoniker keineswegs einen Karajan, der seinen Widerspruch herausfordert. Im Gegenteil, »es war stürmisch und sehr geformt«, erinnert sich Harnoncourt an einen Beethoven-Zyklus seines Chefs, der ihn begeisterte. »Er war wesentlich genauer als Furtwängler (…). Der schnellste Beethoven, den es je gab, war der von Toscanini, und da war Karajan sehr nahe.«

Doch während Harnoncourt dann in seinem Concentus Musicus, mit Bach beginnend, die Noten auf Basis der Quellen neu befragt, dehnt sich in Karajan gleichsam ein Furtwängler aus, dem die Flügel der Moderne wachsen. Mit insgesamt 250 Millionen verkauften Tonträgern (Stand 1996) schlägt Aura in Reichweite um. In rarer Machtfülle leitet Karajan gleichzeitig die Berliner Philharmoniker, die Wiener Staatsoper und die Salzburger Festspiele und sichert mit eigener Filmfirma sein künstlerisches Vermächtnis in der Zuversicht, noch in 300 Jahren werde von ihm die Rede sein. Die irreal anmutende Dominanz des stillen, zierlichen Mannes, der selbstverständlich auch über Yacht und Jet verfügt und Wagners Opern selbst inszeniert, ist der historische Gipfel dirigentischer Wirkungsmacht. Parallel dazu wird der Amerikaner Leonard Bernstein, neben Boulez vorerst letzter der großen Dirigenten, die zugleich große Komponisten sind, geradezu zum Popstar, der jede und jeden flachlegen kann. Hans von Bülow ist gerächt.

Dirigentendämmerung

1989 stirbt Karajan, ein Jahr danach Bernstein, die Mauer fällt, die Geopolitik verändert sich radikal, eine »Dirigentendämmerung« setzt ein. So betitelt, mit einem Fragezeichen versehen, 1996 der Musikdenker und Dirigent Peter Gülke einen Essay, in dem er die »Verschiebung des präzeptoralen Anspruchs« im Verhältnis zwischen Dirigent und Orchester »als Moment einer demokratisierenden Versachlichung« begrüßt. Er führt die Verschiebung aber auch auf die Spezialisierungen des Musiklebens zurück, auf die unterschiedlichen Musiksprachen vergangener Jahrhunderte, mit denen sich vertraut zu machen längst nicht mehr nur etwas für Puristen ist.

Nikolaus Harnoncourt hat sein Cello und Bach hinter sich gelassen. Die von ihm und anderen historisch informierten Musikern geleiteten Orchester nehmen, vom neuen Medium CD beflügelt, den großen, alten Klangkörpern eine Mozart-Symphonie nach der andern weg, sie erreichen Beethoven und machen sich sogar auf den Weg zu Wagner. Sie haben Erfolg, weil sie die autoritäre »Neuschöpfung«, die längst ihre Stereotype herausgebildet hat, ersetzen durch die Neuentdeckung musikalischer Grammatiken, Botschaften, Farben, weil neben dieser »historischen« Praxis ausgerechnet der kultisch zeitenthobene Interpret am Pult museal wirkt. Diese Revolution greift auch deshalb, weil »die Sehnsucht nach dem großen Führer irgendwann geringer geworden« ist, wie Harnoncourt sagt, der seinerseits einer der letzten großen Charismatiker ist.

»Sie finden«, erklärt der Dirigent Christoph von Dohnány 1996, »zuweilen sehr viel gebildetere Orchestermusiker als Dirigenten. Wir erleben generell das Ende eines total patriarchalischen Systems.« Das auszurufen freilich ist so voreilig wie das »Ende der Geschichte«, das der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama nach dem Mauerfall kommen sieht, eine harmonische Synthese von Marktwirtschaft und Demokratie. Denn der »Mythos vom Maestro«, so Norman Lebrecht 1991 in einem vieldiskutierten Buch, gehört zum Marketing einer an big names hängenden Musikindustrie, deren Einfluss erst mit den Umsätzen der Fonowirtschaft schrumpft – eine Folge der digitalen Revolution.

Diversität und Tradition

Die antiautoritäre Revolution der Aufführungspraxis prägt zwar Dirigenten von Simon Rattle bis Daniel Harding, sie führt letztlich sogar einen zum Dirigenten gewordenen Barockgeiger ans Pult der Bayreuther Festspiele, wo Thomas Hengelbrock den »Tannhäuser« gleichsam von der Entstehung her liest. Aber das Bild vom Dirigenten als auratischer Führungskraft hat nicht ausgedient – einschließlich der patriarchalischen Komponente. Keine einzige Dirigentin gerät in die Diskussion, die 2015 um die Nachfolge von Simon Rattle am Pult der Berliner Philharmoniker entbrennt und in der breiteren Öffentlichkeit hochgetwittert wird, als träten internationale Superhelden gegeneinander an.

Jenseits solcher Manegen herrscht Diversität nicht zuletzt via Internet, wo noch der entlegenste Mitschnitt seit der Erfindung von Mikrofon und Kamera binnen Sekunden zu finden ist und Neubewertungen möglich macht. Ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod erfährt Karajan – den so etwas wie die Digital Concert Hall in Ekstase versetzt hätte – differenzierte Wertschätzung auch von denen, die bei ihm das Analytische vermissen. Ein Fortsetzer seiner Ästhetik der Klanglichkeit, der großen Bögen und der Autorität, wie Christian Thielemann es ist, wird nicht weniger geachtet als Dirigenten, die für Strukturen, Sprachlichkeit und eher paritätische Kommunikation einstehen.

Doch das alles ereignet sich in einem durch Traditionen definierten Bereich. Als der Job des modernen Dirigenten noch erfunden wurde, traf er härter auf die Gegenwart. 1844 dirigierte Hector Berlioz auf der Pariser Industrieausstellung. 21.000 Mitwirkende spielten und sangen fast ausschließlich zeitgenössische Musik. Über die »Schwerterweihe« aus den »Hugenotten« schreibt Berlioz: »Ich selbst wurde, als ich es dirigierte, von einem so heftigen nervösen Zittern gepackt, dass meine Zähne aufeinanderschlugen wie im schlimmsten Fieberanfall.« Um die Reibungshitze der Gegenwart dürfen unsere Dirigenten ihre Pioniere durchaus beneiden, wenn auch nicht um deren Alterssicherung. Und dass heute keiner mehr, wie vor 150 Jahren Bülow, seinen Durchbruch mit einer Uraufführung erzielt, kann nicht nur an den Komponisten liegen.

Dieser Text erschien mit der Überschrift “Mythos Maestro” in “128″, dem Magazin der Berliner Philharmoniker, Nr. 3 2015, S. 34-41, und ist urheberrechtlich geschützt.