“Ich war ein schüchterner Junge…”

Ein Salzburger Treffen mit Giovanni Antonini, der “Il Giardino Armonico” gründete und jetzt auch Bellini dirigiert

„Absolutely no!“ Er hat nie davon geträumt, im berühmtesten Haus seiner Geburtsstadt als Dirigent aufzutreten. Die Scala war nicht sein Ding, das Dirigieren auch nicht, selbst mit der Musik hat es gedauert. Als er acht Jahre alt war, wurde Giovanni Antonini von seinen Eltern im Mailänder Konservatorium vorgestellt, sie wollten ihn dort das Geigenspiel erlernen lassen. „Man fand mich nicht begabt genug“, sagt er und lächelt, „zum Glück.“ Er hat seinen Weg trotzdem gefunden und dirigiert mittlerweile nicht nur an der Scala, sondern an vielen Häusern; in Zürich leitete er schon „Alcina“. Und jetzt sind wir in Salzburg, wo der schmale Mann mir aus dem Festspielhaus entgegenkommt.

Er wirkt kleiner als am Vorabend, als er „Norma“ dirigierte, selbst die graue Mähne scheint gebändigt, und überhaupt ist Antonini nicht der Typ Maestro, den man schon von weitem als solchen verdächtigen könnte, er ist es nicht mal aus der Nähe. „Ich war ein ziemlich schüchterner Junge“, erzählt der 52jährige, „und die Blockflöte war mein Weg, mich auszudrücken.“ Er entdeckte sie mit elf, weil ein Freund eine hatte, und er erlernte sie nur ein paar Schritte vom Elternhaus entfernt, in der Civica Scuola di Musica. „Es gab da Kurse für historische Instrumente, sehr neu für Italien, und in diesen Kursen lernte ich das natürliche Repertoire der Blockflöte kennen, Renaissance und Barock.“

Das war seine Welt. Künstlerisch gesehen wuchs er auf wie ein Musiklehrling um 1600, „es war ein Traum mit viel Platz für Freiheit, denn schon in einer simplen sonata muss man ja viel verzieren, improvisieren, und diese Freiheit ist großartig für einen Heranwachsenden.“ Als Geiger, der sich mit Etüden an seinen ersten Paganini heranarbeitet, hätte er wahrscheinlich aufgehört, „ich fühle mich sowieso nicht wohl in strengen Strukturen.“ 1985, er war zwanzig, bildete sich ein Ensemble. Zuerst nur ein Trio mit Flöte, Cembalo, Cello, dann kam eine Laute dazu, dann waren es acht, schließlich ein Kammerorchester, dessen Name heute berühmt ist in der Alten Musik, Il Giardino armonico. Geplant war das nicht.

„Heute machen sich junge Musiker viel größere Sorgen um ihren Job, um das Geldverdienen. Als ich zwanzig war, habe ich darüber nicht nachgedacht. Wir haben nie überlegt, ob und wie Giardino finanziell läuft. Effizient sein ist nicht dasselbe wie kreativ sein. Dafür muss man auch Zeit verlieren, Muße haben, otium nannten das die alten Römer, das ist heute nicht so in Mode. Es vergingen fünf Jahre, bis wir dachten, das könnte was werden.“ Und in aller Ruhe entwickelte sich das Konzept einer „viaggio musicale“, einer musikalischen Reise durchs 17. Jahrhundert, eine Achterbahnfahrt künstlerischer Freiheit, quer durch zersplitternde Vitrinen, ein pausenloser, von Improvisationslust sprudelnder Barockrausch. Das Konzeptalbum von 1999 schlug ein, nicht nur in der schon etwas verfestigten Szene der Alten Musik. Auch Cecilia Bartoli wurde hellhörig, mit der die Giardinos dann mehrere kultverdächtige CDs produzierten, alles Musik um 1700 herum.

Aber wie kommt Antonini zu Bellini, dem italienischen Frühromantiker? Er grinst. „Ich bin überhaupt kein Hörer der italienischen Opern des 19. Jahrhunderts. Bis mich Cecilia Bartoli für Norma fragte, kannte ich aus der Oper nur Casta Diva. Ich sagte, ich bin kein Experte. Sie sagte, das ist auch besser so. Sie wollte die Musik ohne all die Konventionen, die sich in der Interpretation gebildet haben und oft weit weg von den Quellen sind.“

Immerhin hatte er mittlerweile auch schon Mozart dirigiert, an der Scala, aber das reibt er einem nicht unter die Nase. Er sagt, dass die Rhetorik und die Kunst der Rezitative, viele Effekte, etwa das Tremolo der Streicher, auf Monteverdi zurückgehen. „Auf gewisse Art hat Monteverdi schon alles erfunden, und was die Rhetorik angeht, hat sie sich im italienischen Leben bis heute nicht verändert. Wenn wir uns aufregen, ist es genau wie bei Bellini.“ Und es ist das Sprachliche, das Artikulieren, das er in der quellengetreu neu rekonstruierten Norma plastisch macht, das, womit er musikalisch aufgewachsen ist in einer Musik, die auch im Instrumentalen dem menschlichen Gesang folgt.

Dazu kommen die Farben der Instrumente, die man um 1830 verwendete. „Da beginnt eine Evolution. Die Traversflöte klingt noch viel fragiler und lyrischer als die spätere Böhmflöte, die ist dagegen fast eine Kriegsmaschine. Bei den Hörnern gibt es noch Naturhörner und schon Ventilhörner, beide werden von Bellini gleichzeitig eingesetzt. Die Unterschiede der Tonarten sind verbunden mit dem Charakter der Instrumente. Zum Beispiel klingt F-Dur auf der Flöte viel geschlossener als G-Dur.“ Und die Streicher? Verbietet er ihnen das Vibrato? „Es ist überhaupt nicht gut, in der Musik etwas zu verbieten. Der Körper will schwingen, und das Vibrato ist so alt wie die Musik. Wenn ich mit modern geschulten Musikern arbeite, sage ich ihnen, macht bitte Vibrato, und sie freuen sich: AHHH! Wir dürfen!“ Man müsse es eben gut dosieren.

Zudem finde sich in den Orchestern eine neue Generation von Musikern, „die sich dessen viel bewusster sind, was in den letzten 30 Jahren passiert ist“, für die historische Aufführungspraxis zum Standard gehört. Die Entwicklungen oin der „historischen“ Szene selbst machen ihn nicht so glücklich. „Was wir noch ausprobiert haben, wird zum Modell: Okay, so macht man das. Es ist ein passiver Zugang zur Musik. Es ist heutzutage nicht mehr so leicht, Ensembles zu finden, die speziell und anders sind. Was ist neu, unerwartet, aufregend? 90 Prozent der Szene bieten Standard auf hohem Level, man ist fast nie überrascht, dabei ist die Überraschung die Essenz des Barock!“

Womit wir wieder bei der Effizienz wären, dem Mangel an Muße. Und nicht nur Kreativität braucht Zeit, auch Kompetenz. Besonders in der frühen Barockoper gebe es viel zu entwickeln. Die Ornamentik sei bei Sängern „eine Wüste“, obwohl die Quellen alle erschlossen sind. „Der Cornettist, der Geiger improvisieren, aber nicht die Sänger. Ich würde dafür gern ein Laboratorium gründen mit Sängern, die das wirklich studieren wollen, da war man in den 1970ern schon weiter. Ein Sommerkurs in der Toskana vielleicht, bei dem Leben und Arbeit nicht getrennt sind.“ Beeindruckt haben ihn irische Folkmusiker bei einem Crossoverprojekt, die sich wunderten, das um fünf die Probe zuende sein sollte. „Wieso machen wir nicht weiter, fragten sie. Sie spielten bis Mitternacht, es war wie Atmen für sie. Und es waren Profis.“

Solche Profis, bei denen Kunst und Leben zusammen gehören, sieht er in langer Tradition. Er erzählt von den Malerlehrlingen in Renaissance und Barock, die den ganzen Tag im Atelier verbrachten, komplett in eine Kunst eintauchten, „die genau deswegen einen so hohen Level schon unterhalb der Ebene der Meisterwerke hat“, er erzählt von den Schülern indischer Musiker: „Um Tabla zu lernen, lebt man im Haus des Meisters, jeden Tag spielt man Stunden mit ihm.“ Nur so könne man auch die für Monteverdi so wichtige „sprezzatura“ entwickeln, eine Mischung von rhythmischer Präzision und „floating“, völliger Freiheit. „Ich finde diese Verbindung der Gegensätze auch im Jazz, zum Beispiel bei der Sängerin Billie Holday. Unglaubliche Tiefe des Ausdrucks!“

Da spricht keiner, der es sich im Betrieb eingerichtet und seine Ursprünge hinter sich gelassen hat. Im Gegenteil. „Wenn ich als Dirigent unterwegs bin, habe ich alle meine Instrumente dabei. Die Blockflöten, Traverso weniger, dafür aber auch den Dulcian, ein Barockfagott. Übermorgen spielen wir in Gent ein Programm mit Giardino, das heißt „Tod der Vernunft“. Es geht um das Erwachen der Gefühle in der Musik, von Josquin bis zu einem völlig Unbekannten, Belbuono, der hat schon 1641 den Tristanakkord geschrieben. Total chromatisch, wie eine Droge!“ Eine Fortsetzung von „Viaggio musicale“ hat Antonini auch schon im Sinn. Diese Reise soll dann tief ins 16. Jahrhundert führen. Und er wird dafür sorgen, dass es dabei kein bisschen effizient zugeht.

Dieser Text erschien geringfügig kürzer in der Rubrik “Volker Hagdorn trifft…” unter dem Titel “Giovanni Antonini” im Magazin der Oper Zürich vom Oktober 2015 (S. 38 f.) und ist urheberrechtlich geschützt.