Von Kareol über München nach Mykene

Ein Hausbesuch bei Waltraud Meier nach ihrem Abschied von Isolde – und von Patrice Chéreau

Sie ist kurz vorm Kofferpacken, es geht gen Griechenland. Wenn auch noch nicht an den Hof von Mykene, sondern auf eine jener Inseln, wo sie Orest kennenlernte, ein verwahrlostes kleines Kerlchen, und ihn mitnahm, um ihn mütterlich aufzuziehen. Orest hat sie ihn genannt, ausgerechnet sie, die besser als jede andere weiß, wie Klytämnestra vor Orest zittert, ihrem Sohn, der sie am Ende erschlägt. Schon mehr als einmal hat diese Frau Klytämnestra verkörpert, nicht nur gesungen, jede Zeile kennt sie, jeden Ton, jeden Schrei und jedes irre Lachen aus Strauss´Oper Elektra. Orest? „Natürlich“, sagt Waltraud Meier und lächelt liebevoll auf den schmalen schwarzen Kater herab, der die Jacke des Besuchers beschnuppert. Orest wird nicht mit in den Urlaub fahren, er bleibt hier.

Eigentlich ist man schon auf Reisen, wenn man hier sitzt, über eine metallene Wendeltreppe aufs Oberdeck des Schiffs gelangt, in die zweite Etage einer Münchener Dachwohnung, wo zwei Sessel an der offenen Tür zur Terrasse stehen und es von unten her rauscht. Waltraud Meier reist jetzt auch in eine neue Zeit, in die Zeit nach Isolde. Auch diese große Gestalt hat sie verkörpert, in 22 Jahren ist sie so etwas wie die Isolde schlechthin geworden, vielleicht gerade weil sie dafür ihre „gesanglichen Grenzen weit nach außen gedrängt“ hat, wie sie sagt, weil sie schon das Wissen der Kundry mitbrachte und das der Azucena aus dem „Trovatore“, für die sie als 21jährige in Mannheim engagiert wurde, „auch kein Schmutz, würde ich sagen“, sie lacht in unterster Mezzolage.

Ja, Isolde. Neulich zum letzten Mal in München an der Staatsoper, in der Inszenierung von Peter Konwitschny, es spielt keine Rolle mehr, dass es während der Probenarbeit mal heftig gekracht hat. „Das lassen wir ruhen.“ Sie war sehr glücklich mit diesem Abschied von Isolde, den sie von langer Hand plante, den ihr niemand nahelegte. „Sie hätten das doch noch einige Jahre gut machen können…?“ Sie nickt sofort. „Ich spürte irgendwann, ich kann´s nicht besser. Und ich möchte mir nicht dabei zuhören, wie es schlechter wird. Ich muss mich bei jedem Auftritt hören. Da hab´ ich mir gesagt, wenn absehbar ist, dass irgendwann die Vorstellung noch da ist, aber die Stimme nicht mehr…“ Und dann flüstert sie schnell: „Na um Gott´s willen… aufhör´n!…aufhör´n!“

Farbenreich spricht sie, von pianissimo bis skandierend; sehr genau und offen nimmt sie einen in den Blick mit ihren braunen Augen, dabei ganz entspannt, keine Isolde und keine Klytämnestra jetzt, jedenfalls so lange nicht, bis ich die Mutter von Orest und Elektra, die Gattin und Mörderin Agamemnons als „böse Alte“ bezeichne, um ein Klischee zu skizzieren. „Das ist sie überhaupt nicht! Sie ist vom Schicksal geschlagen, sie hatte Gründe, Agamemnon zu töten. Er hat sie zur Heirat gezwungen, sie wollte ja immer Ägisth heiraten. Mit dem wär´s eine Liebesehe geworden. Agamemnon kündigt die Familie ja schon auf, indem er Iphigenie tötet. Ich hab meinen Aischylos und Sophokles und Euripides gelesen, da erfährt man, was für ein grausamer Mensch Agamemnon war. Chéreau hat immer gesagt, wir dürfen der Elektra nicht auf den Leim gehen.“

Diese Tochter unterstellt der Mutter, den Sohn töten zu wollen. „Du schicktest Gold, damit sie ihn erwürgen, sagt sie. Darauf sagt die Klytämnestra: Wer sagt dir das… nir-gend-wo findet man da einen Anhaltspunkt!“ Es klingt fast, als werfe Waltraud Meier der Elektra vor, ihren Aischylos nicht gut gelesen zu haben. Und Orest, den Muttermörder, imitiert sie mit Tunnelstimme und rollendem „R“ geradezu sarkastisch: „Ich muss hier warrrrten…“ Sie wolle nicht den Mord, den Klytämnestra beging, rechtfertigen, aber erklären. „Danach ist sie eine verletzte Frau, die hypersensiblisiert ist. Alles tut nur noch weh. Jeder Blick von jemand anderem. Außerdem, wer sagt, dass die alt und nicht schön ist? Das sind so Bilder, die draufgestülpt wurden. Großer… Quatsch!“

In der Tat. Man muss ja nur erleben, wie sie sich in Patrice Chéreaus letzter Inszenierung bewegt, dem Vermächtnis des Regisseurs, seiner Elektra für Aix-en-Provence, auf DVD gebannt: verzweifelt, aber alles andere als hysterisch. Groß, schön, dunkel. Auf den Sohn wartend. „Ich weiß, er wird kommen müssen, um mich zu töten. Ich fürchte es einerseits, und andererseits erwarte ich es absolut sehnsüchtig, um von diesem Alptraum erlöst zu werden.“ Der Kater streicht ums Wasserglas auf dem Boden und weicht meiner Hand aus. „Der wird schon noch zu Ihnen kommen“, sagt sie, „ na, mein Orest, gelle?“ „Muss ein Regisseur Sie nicht fürchten? Sie haben ja schon alles durchdacht!“ „Ich bin kein Streiter, aber ein großer Diskutierer! Wenn mir ein Regisseur kommt, einfach nur mit einer Meinung, und ich frag´ ihn, wo steht das, im Text, in den Noten, und er kann´s mir nicht sagen – da sag ich: Nö.“

Vielleicht ist es gerade für so eine „Überzeugungstäterin“, wie Waltraud Meier sich charakterisiert, wichtig, dass es ein Leben außerhalb der Oper gibt. „Ich bin sehr distanziert bei Menschen, die mich nur als Sängerin sehen. Meine Freunde sind wirklich Freunde und nicht deswegen, weil ich singe. Ich habe ganz wenige Musikerfreunde, ganz wenige.“ Viele persönliche Beziehungen hat sie, die nie durch eine Familie gebunden war, in Paris. Sie liebt die Stadt, „weil ich französisch spreche, weil ich ins Theater gehen kann, ins Kino, dadurch wird das Leben normaler.“ Und wo immer sie einen Vertrag bekommt, als erstes kümmert sie sich um eine Wohnung, am besten eine, die sie kennt. „Männer gehen lieber ins Hotel, Frauen in die Wohnung. Ich brauche so ein Zuhause.“

Aber die Oper als ewiges Zuhause braucht sie nicht. „Ich hab´ mir manchmal sogar gedacht, warum machst du nicht noch ein Studium?“ Schon bei ihrem allerersten Vorsingen hat sie gedacht, „wenn´s nicht hinhaut, gehst du halt an die Uni.“ Sie war also nicht eines der Mädchen, die schon mit fünf Jahren wissen, dass sie Sängerin werden wollen? „Sie werden lachen, mit fünf wollte ich Sängerin werden! Aber nur ganz kurz. Dann war´n ganz andere Wünsche da und Träume.“ Da war aber auch eine Familie, in der viel gesungen wurde, eine Bekannte aus dem Opernchor, die Chöre, in denen sie Oratorien lieben lernte. „Was ich gern einmal wieder singen täte, eine Matthäuspassion, eine Missa solemnis, um wieder zurückzugehen zum Kern, das fehlt mir glatt!“

Dann studierte sie Anglistik und Romanistik, nahm Gesangsunterricht in Würzburg, sang vor, bekam ihre erste Stelle, „dann ging das raketenartig hoch“. Das legendäre Debüt als Isolde in Bayreuth 1993 führte in die nächste Umlaufbahn, in der nur ein Versuch mit Carmen „nicht das totale Ruhmesblatt“ war, wie sie sagt. Sie habe aber auch nicht den Regisseur gefunden, mit dem sie umsetzen konnte, was ihr vorschwebte: „Für mich ist der Hauptaspekt bei Carmen die Freiheit und nicht die erotische Anmache. Ich denke, Freiheit kann erotisch sein. Wie oft kommt in der Oper ,la liberté´ vor! Aber das mit Carmen wird in diesem Leben nix mehr. Ich würd´mir dafür sehr wünschen, dass ich in drei Jahren noch für die Ortrud bei Stimme bin…“

Die beiden Rollen, zwischen denen sie jetzt die Koffer packt, Isolde und Klytämnestra, verbinden sich für Waltraud Meier mit dem vielleicht wichtigsten Künstler ihres Lebens, mit Patrice Chéreau, der vor zwei Jahren starb, mit erst 68 Jahren. In seiner Regie hat Waltraud Meier diese Frauen erkundet, es wurden maßstabsetzende Produktionen. Hat sie auch mit ihm diskutiert? „Immer! Wir sind abends essen gegangen und ich habe ihn gepiesackt und mal gefragt: Was würde denn passieren, wenn im Tristan am Ende des zweiten Aufzugs der König Marke nicht käme? Was tut ein Paar, das sich wegen der Unmöglichkeit der Liebe schon den Liebestod geschworen hat und plötzlich frei ist?” Solche Diskussionen habe er geliebt.

Jetzt wird sie sehr ernst. „Patrice war der Größte, der Genialste, der Umfassendste. Er war auf allen Gebieten so fundiert, Kunst, Literatur, Musik. Er nahm sich unglaublich zurück. Jeden Satz hat er zehnmal gelesen, quergelesen, natürlich hat das auf mich abgefärbt, mich beglückt, bereichert. Und jetzt, wo er tot ist… gebe ich zu… da ist auch ein Nerv abgestorben bei mir.“ Sie hätte sich gewünscht, dass er Nachfolger hat, „so wie Barenboim, um den so viele fantastische Dirigenten herausgekommen sind.“

„Aber Sie geben Ihre Erfahrungen mit ihm doch auch weiter!“ „Schaun mer mal“, sagt sie nachdenklich. „Jetzt muss ich mich wohl emanzipieren…“

Dieser Text erschien geringfügig kürzer in der Rubrik “Volker Hagdorn trifft…” unter dem Titel “Waltraud Meier” im Magazin der Oper Zürich vom September 2015 und ist urheberrechtlich geschützt.