Delacroix auf dem Maidan

Schlachtenqualm am Himmel, wehende Fahnen über dem Tumult, mittendrin aufragend eine kämpferische Frauengestalt – auf dem Maidan in Kiew hat Efrem Lukatsky vor wenigen Tagen ein Foto gemacht, das vielfach gedruckt wurde und frappant an ein Gemälde erinnert, das vor 183 Jahren in Paris entstand. “Die Freiheit führt das Volk an”, nannte Eugène Delacroix sein Bild, gemalt unter dem Eindruck der Julirevolution von 1830. Jetzt sieht es so aus, als habe sich der französische Romantiker mit einer Kamera in der Hand auf den Maidan begeben. Es war aber Lukatsky, und der wird in der blutig gewordenen Auseinandersetzung kaum an die europäische Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts gedacht haben.

Die scheint indessen längst Regie zu führen in der Fotoberichterstattung von Krisen, Kriegen und Katastrophen. Menschen, die auf Flößen in überschwemmten Gebieten unterwegs sind, Milizen im Kongo, an Land geworfene Frachter – immer wieder wird das so „malerisch“ fotografiert, angeschnitten, layoutet, als folge man jenen zeitgeschichtlichen Gemälden, die im 19. Jahrhundert aufkamen, den Schiffbrüchigen auf dem „Floß der Medusa“ von Théodore Gericault etwa, dem „Eismeer“ von Caspar David Friedrich, den „Wolgatreidlern“ von Ilja Repin: Zentralperspektive, die, dramatisch schon im Vordergrund, das Geschehen nicht entrückt, sondern bedrohlich nahebringt.

Jedenfalls tat sie das, als diese Kunst, dieser inszenierte Realismus noch neu und ein konkurrenzloses Medium war. Für uns sind das aber Ikonen, so tief ins Kulturbewusstsein gerutscht, dass der Rückgriff auf ihre Mittel uns selbst eine europäische Katastrophe wie die der Ukraine zu entrücken scheint: Das sieht ja aus wie früher, wie im Museum! Doch diesmal ist die Gegenwart so nah, dass auch die Gegenwart der alten Bilder erwacht. Delacroix malte die Leichen zu Füßen der „Freiheit“ nicht, weil er einen Vordergrund brauchte, sondern weil es viele Tote gab bei dieser Revolution, die aus der Geschichte der europäischen Demokratie nicht wegzudenken ist.

Weil keine Revolution ohne Symbole auskommt, haben die Demonstranten in Kiew Fahnen befestigt an den Statuen der Stadtgründer, die auf dem Unabhängigkeitsplatz einen Brunnen schmücken. So trug auch die Lybid, höchste dieser Figuren, eine Fahne, als Lukatsky sein Foto machte, und sie scheint in wehendem Gewand der französischen Marianne nachzueilen. Die freilich (und sich daneben mit Gewehr und Zylinder) malte Delacroix in Ruhe, als der Sturz Karls X. besiegelt und Paris ein Zentrum liberaler Bürger war. Man kann, mit Blick auf sein Gemälde, nur schwach hoffen, dass auch Lukatskys Foto einmal als Ikone an eine Revolution mit gutem Ausgang erinnern wird.

Dieser Text erschien in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (22.2.14) und im Tagesspiegel (24.2.14) und ist urheberrechtlich geschützt