Spätzünder für die Zukunft

Die Sopranistin Sabine Devieilhe beschert dem Spätbarockgenie
Jean-Philippe Rameau seinen zweiten Frühling

Er ist der Kracher unter den Spätzündern. Erst mit 50 Jahren debütierte Jean-Philippe Rameau, kurz vor Bach und Händel geboren, als Opernkomponist. 30 Jahre später starb er – und hatte das gesamte französische Musiktheater umgepflügt. Dabei schadete es offenbar nichts, dass er mit einer jungen Sängerin verheiratet war. Und die hätte nun allen Grund, noch posthum eifersüchtig zu werden: auf die Sopranistin Sabine Devieilhe. Die Sopranistin aus der Normandie hat den großen Franzosen ein weiteres Mal aus dem Schlummer gerissen – aus dem der Nachwelt nämlich, die immer noch nicht so recht weiß, wo sie dieses aus dem Barock herausbrechende Genie der Farben und der Seelendramen hinstecken soll. Ab und zu wird „Platée“ gegeben, aber neben dem Boom der Barockoper ist Rameau doch wieder ein Outsider.

Vielleicht fehlte es an kompetenten Extremisten, die, befreit vom Ballast einer kompletten Opernproduktion, so zum Kern vorstoßen wie jetzt die 1985 geborene Devieilhe und das junge Ensemble Les Ambassadeurs. Sie haben Arien, Ensembles und Instrumentales von 1733 bis 1763 zu einem Grand Théâtre de l’Amour gefügt, zum Monodram einer zuerst ahnungslosen, dann verliebten, verzweifelten, schließlich wahnsinnigen Frau, und die dichte Dramaturgie verbindet sich bei den Interpreten mit einer Plastizität, die man in solcher Wucht und Sinnlichkeit, Akribie und Feinheit bei Rameau noch nicht erlebt hat. Das Konzeptalbum ist ein Gegenentwurf zu den gern auch mal jazzig aufgebrezelten Barockbüfetts der Szene.

Musikalische Gegenwart stellt man nämlich nicht her, indem man alte Hits für die Lounge zurüstet, sondern sich zum Beispiel einer Pastorale von 1749 so hingibt, dass jeder dem Orchester anhört, wie schwer und fett die Schafe auf der Erde stehen. Zwischen denen die Schäferin so singt, dass man sie erröten hört, ehe noch der Text erklingt, und hingerissen ist von diesen weittragenden, bebenden Linien. Wie Devieilhe Intimität und Präsenz verschmilzt und stilistische Sicherheit bis ins Ornament mit romantischer Identifikationslust, wie sie die Kraft ihrer hellen, körperreichen Stimme zum Nuancieren nutzt, das hat Rameau bislang gefehlt.

Das Orchester: Kein Tross, der 20 Meter hinter einer Diva vor sich hin tönt, sondern einzelne Akteure. Streicher, die Linien zu Nervensträngen machen, Fagotte zwischen fahl und phallisch, Hörner, die vor Wut brüllen können. Extreme im Groben wie im Feinen: Tempi, Harmoniewechsel, Tonlängen sind so subtil gestaltet, dass eine Arie wie “Tristes apprêts” von 1737 die zwei Jahre älteren, im Affekt nahen “bleichen Schatten” von Händel in den Schatten stellt. Rameau ist seiner Zeit mitunter um Jahrzehnte voraus: Das Eifersuchtstrio aus “Huascar”, wo die Terzen eines verliebten Paares von den Eifersuchtsattacken des Verschmähten durchschossen werden, hätte in seiner realistischen Simultaneität noch den Mozart des Don Giovanni beeindruckt.

Ein Fugato aus der 1733er Durchbruchsoper “Hyppolite” lässt in seinem Sarkasmus an Berlioz denken, der mit dem, was er von Rameau kannte, nichts anfangen konnte und stattdessen Gluck vergötterte. Da hat er sich halt mal vertan. Nicht in der Form, aber im Detail, der raffinierten Seelenkunde, die man in dieser Auswahl erlebt, ist Rameau der substanziellere Bahnbrecher. Und ironisch dazu, wenn er im lachenden Wahnsinn (“Platée”) die dämliche Virtuosität zeitgenössischer Diven karikiert. Devieilhe und das Orchester folgen ihm so übermütig, dass man Jacques Offenbachs Paris funkeln sieht.

Doch im Zentrum bleibt die große Persönlichkeit. Rameaus Sprache ist von einer Konsistenz, die Werke aus dreißig Jahren stilbruchlos verbindet. Dirigent Alexis Kossenko, der auch hinreißende Flötensoli spielt, hat die Musik auf eine Weise zum Sprechen gebracht, die den Spätzünder zum Zeitgenossen der Zukunft macht. Und das jetzt bitte noch mit Bühne und ohne Perücken!

Dieser Text erschien in der ZEIT vom 10.4.14 und ist urheberrechtlich geschützt.