Wenn selbst die Vögel anders singen

Praxis schützt vor Klugheit nicht: Der Musikdenker und Dirigent Peter Gülke wird 80 und bekommt den Siemens Musikpreis. Ein Besuch in Weimar.

Vom Bahnhof an der Altenburg vorbei steuert er den alten Audi, forstgrün, ein bisschen angeknautscht, Sitze zum Versinken, ein gebrauchteres Auto wird man in Weimar kaum finden. Und Peter Gülke ist nicht der Mann, sich ein anderes zuzulegen, nur weil ihm eine sechsstellige Summe aufs Konto gespült wird. Die mag einen freuen, aber nicht aus der Fassung bringen, der früh das Zweifeln lernte. Er zeigt irgendwo zwischen die Häuser: “Da habe ich als Elfjähriger geholfen, meine Großmutter und zwei Tanten aus den Trümmern zu graben, das war nicht schön.” Nun lebt er wieder hier, gut 30 Jahre nachdem er die Stadt und jene DDR verließ, der er gern “Sand im Getriebe” geblieben wäre.

Verstörend blieb er aber auch im Westen, als Denker und als Dirigent und allein schon deswegen, weil er beides zugleich ist und so einer gerade in Deutschland scheel beäugt wird: “Wenn einer Musiker ist und viel über Musik theoretisiert, muss er’s nötig haben” – mit diesem oft unausgesprochenen Misstrauen hat Peter Gülke längst leben gelernt. Ohne die Praxis hätten ihm die Impulse gefehlt, mit denen er die Wissenschaftler nervös und die Leser wach machte. Buch für Buch, Essay für Essay, in denen keine Musik so blieb, wie man sich mit ihr eingerichtet hatte, Beethoven und Mozart nicht, nicht die großen Romantiker. Das hatte Folgen, von denen der “Nobelpreis der Musik” noch die geringste ist.

Als solcher gilt der Preis, den die Ernst von Siemens Musikstiftung dem Doppelagenten kurz nach seinem 80. Geburtstag verleihen wird, mit Fug und Recht (auch wenn seit dessen Gründung vor vierzig Jahren nur eine einzige Frau ihn erhielt, die Geigerin Anne-Sophie Mutter). Nach H. C. Robbins Landon und Reinhold Brinkmann ist Gülke der dritte Musikwissenschaftler unter den Preisträgern – und mehr als das. Wer bei Johannes Brahms “eine drohende Un-Musik” hört und dazu Paul Celan zitiert, zugleich aber taktgenau “Gravitationspunkte” in Brahms’ B-Dur-Klavierkonzert verortet, der kann durch die Wände gehen, zwischen denen sich die Disziplinen eingehegt haben.

Und gerne geht man ihm nach. Wobei er zu seiner geräumigen Wohnung in einem Neubau lieber den Fahrstuhl nimmt, ehe er Schnittchen auftaut und Kaffee in der Thermoskanne aufgießt. Ein kräftiger Typ, der eher wie Mitte sechzig wirkt, dunkle, wache Augen, großer Kopf, immer mal weiches Thüringisch in die gelassen elaborierte Rede flechtend. “Dieser schrecklich versimpelte und runtergedimmte Marxismus”, erzählt er aus der versunkenen DDR, “hatte den Anspruch, eine Antwort auf alle Dinge dieser Welt zu wissen.” Diese “dogmatische Bescheidwisserei” hat ihn für alle ihrer Spielarten empfindlich gemacht, schon weil sie bereits den 36-Jährigen zur Verdachtsperson werden ließ. Ausgerechnet wegen Beethoven.

Der junge Analytiker hatte in dem deutschen Klassiker einen Hinterfrager entdeckt, der keinen Ton “der Unbefangenheit des Fürsichseins” überlasse. Daraufhin erklärte 1970 ein einflussreicher Musikwissenschaftler der DDR, hier zerlege einer Beethoven “mit adornitischem Skalpell”. Was zwar zutraf, für Gülke aber vernichtend war. “Man kann sich das heute nicht mehr vorstellen, weil’s so dusslig ist. Adorno war gerade gestorben, als Lieblingsfeind der dogmatischen Marxisten.” Nun war die Dirigentenlaufbahn erst einmal blockiert, auf die sich der Arztsohn nach der Promotion begeben hatte, um es, wie er nicht ohne Süffisanz formuliert, “mit der Csardasfürstin in einer Klitsche zu treiben”.

Wie er so plaudert zwischen den Buchregalen, klingt das alles erstaunlich ungefährlich. Dabei gerät man doch unversehens in ein sehr zerrissenes Leben, in Abenteuer des Geistes und ganz andere Gegenwarten. Sein Buch Mönche, Bürger, Minnesänger schrieb Gülke in stellenloser Zeit; man liest darin, wie sich vor 700 Jahren in Paris die sozialen Gruppen verschränkten, polyfon sozusagen, und wie sich das Bewusstsein so veränderte, “dass die Vögel anders sangen”.

Ein Exkommilitone telegrafierte ihm dazu aus dem Westen, er habe “diesen stalinistischen Dreck beiseitegeschmissen”. Schon da saß Gülke also zwischen den Stühlen, mit Reiseverbot und einer Frau, die für ihn 1960 West-Berlin verlassen hatte. “Man hat sich zu dieser Lebensform lebenslänglich verurteilt gefühlt”, sagt er, erinnert sich aber auch an die Lachsalven in der Theaterkantine der Semperoper, wo er von 1979 an Kapellmeister war. “Da wurden harte politische Witze erzählt, wenn man ganz genau wusste, da sitzt einer dabei, der das weitergeben wird. Es gibt eine Souveränität der Unterdrückten im Umgang mit der Unterdrückung, das lässt sich von außen schwer nachvollziehen.”

Also doch das richtige Leben im falschen? Er stöhnt auf: “Einer der blödesten Sprüche von Adorno! Dem könnte man entgegensetzen: Man muss im falschen Leben gelebt haben, um ein bisschen besser zu wissen, wie ein richtiges sein könnte.” Als die Tochter acht Jahre alt ist und Gülke, mittlerweile Generalmusikdirektor in Weimar, auf den “Würgegriff” des realen Sozialismus mit körperlichen Symptomen reagiert, drängt seine Frau, eine Tournee zur Flucht zu nutzen. Sie würde nachkommen. Am 12. März 1983 steht im Hamburger Abendblatt: “DDR”-Dirigent bleibt im Westen”. Er betrachtet den Zeitungsausschnitt des Besuchers. “Herrlich”, sagt er dann.

Als Dirigent ist er kein Maestro der auratisch befehlenden Art

Damals wusste er nicht, wann er die Familie wiedersehen würde. In mächtig melancholischer Disposition habe er dann seinen Essay über Brahms geschrieben, sagt er wie entschuldigend, als solle man die schwarze Schärfe seiner Gedanken mal nicht zu ernst nehmen. Vielleicht erschrickt Gülke manchmal selbst über die Riffs, die er unter den Wellen des Wohlklangs ortet. Was einer in der Kunst findet, erzählt ja auch etwas über ihn selbst. Weil Gülke das weiß, ist er meilenweit entfernt von dem näselnden Tonfall, mit dem viele Musikwissenschaftler objektiv tun, wo sie ja doch interpretieren. Man erkennt ihn schon am Ton. Ohne sich als Subjekt aufzudrängen, macht er klar: Es geht um Existenz.

Gern betreibt er, was man eine Psychoanalyse der Struktur nennen könnte, spricht von “Verdrängung”, “Zerstörung”, “Bezugnahme”, immer auf die Sechzehntelnote genau. Bequem ist es sicher nicht, Gülke zu lesen. Manche Passagen, will man sie ganz verstehen, erfordern die aufgeschlagene Partitur daneben. Komponieren ist die komplexeste Kunst der Welt. Aber wenn eine Modulation bis ins Molekül aufgedröselt und dann zur “fast mutwilligen Fehlleistung” erklärt wird, ahnt man, warum einem in Bruckners Neunter manchmal schwindelig wird. Und warum kein Maestro von der auratisch befehlenden Art in Wuppertal am Pult stand, als Peter Gülke dort zehn Jahre lang, bis 1996, Generalmusikdirektor war.

Das real Klingende bleibt für den Denker das Wichtigste, sein Schreiben nur “die Fortsetzung mit anderen Mitteln”. “Man kann einem Orchester keinen Vortrag halten, dann ist die Probe im Eimer”, meint er, der als Dirigent eine “zweite Naivität” anstrebt und Kollegen bewundert, die ohne Reflexion das Unnennbare treffen, wie Carlos Kleiber etwa oder Karajan, den Gülke in einem Essay für die ZEIT überraschend neu bewertete – wieder so ein Fall, in dem er vielen ein Bein stellt, die sich einig sind. Nein, Karajan war eben nicht nur Herrscher des Wohlklangs. Nein, das Libretto zu Mozarts Così fan tutte ist nicht albern irreal. Das weiß einer halt besser, der dieses Stück selbst auf die Bretter gebracht hat.

Vielleicht ist Gülkes kapillarenfeines Befragen der Musik auch eine Flucht nach vorn, bis zu dem Punkt, an dem man alle Rezeptions- und Hörmuster abschütteln kann, “zur Unmittelbarkeit des Klingenden hinführend sich überflüssig zu machen”, wie er einmal das Motiv für sein “Gerede” beschrieb. Ein Gerede, für das Carl Dahlhaus ihn 1984 im Handumdrehen habilitierte – während er übrigens kein einziges Konzert des Dirigenten Gülke besuchte.

Auch Hans Heinrich Eggebrecht hat er gut gekannt, den 1999 verstorbenen Freiburger Ordinarius, von dem vor fünf Jahren bekannt wurde, dass er als junger Mann einer mörderischen Einheit der Wehrmacht angehörte. Gülke hat das umso aufmerksamer verfolgt, als er sich selbst gründlich mit der NS-Vergangenheit seines Doktorvaters Heinrich Besseler auseinandersetzte. Aus seiner Skepsis gegenüber dem Theoretiker Eggebrecht macht er keinen Hehl (“er hat mitunter seine Formulierungen schon für die Sache selbst gehalten”), aber vor “postmortaler Klugscheißerei” im Urteilen warnt er aus ganz persönlicher Erfahrung mit kollektivem Druck.

“Eine Versammlung 1953, die allerschlimmste Zeit, nach Stalins Tod. Da habe ich nach einem Trommelfeuer von vielen Funktionären für die Exmatrikulation von Studenten gestimmt, von Freunden, mit denen ich ein paar Tage vorher noch Bachkantaten musiziert hatte. Das war möglich. Das geht. Ich weiß, wie die Chemie der Angst einen reduzieren kann. Das könnte diesem ängstlichen Pastorensöhnchen auch passiert sein. Es ist ein Stachel bis heute.” Vielleicht wurde er auch deswegen so renitent auf seine sanfte Art, dass die Stasi nie um ihn warb – auch wenn er durchaus mit “den Burschen” verhandeln musste und die Akte nicht lesen möchte, in der das seinen Niederschlag fand.

Zurück zum Bahnhof durch die Weimarer Klassik. Im Audi erzählt der Autor von seinem Ahnherrn Christian August Vulpius, Goethes Schwager und Verfasser des Schmachtfetzens Rinaldo Rinaldini, einer der größten Erfolge früher Trivialliteratur. Viel hatte Vulpius nicht davon, er blieb eine belächelte Figur an den Hängen des Olymp. “Ich kreise schon immer wieder darum”, gesteht Ururenkel Peter, der dem ersten Schriftsteller der Familie dabei ohne Spott zulächelt. Seine Frau Dorothea, mit der er bis zu ihrem Tod in Berlin gelebt hat und die all seine Texte durchsah, hat ihm manchmal gesagt: “Ein bisschen mehr Rinaldo wäre nicht schlecht gewesen.”

Der Text erschien am 24.4.2014 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt