Knieschuss, Kopfschuss

Der Regisseur Calixto Bieito lässt nun auch in Berlin das Blut spritzen und zerfleischt Mozarts Oper „Die Entführung aus dem Serail“

Eine Berliner Tageszeitung sichert sich die Skandalzeugen schon vor der Premiere, auf der Straße. „Sie wissen ja“, sagt ihr Mitarbeiter, „dass die Inszenierung sehr umstritten ist.“ Ach ja? Er sammele Telefonnummern von Besuchern für eine Umfrage. „Wir rufen Sie morgen an, Sie sagen uns, wie Sie es fanden!“ Tja, das wär’s gewesen. Daumen rauf oder Daumen runter – vielleicht ließe sich das ja machen, ohne überhaupt in die Oper zu gehen. Es genügt doch zu wissen, dass der schlimme Katalane Calixto Bieito Mozarts Entführung aus dem Serail ins Bordell der Gegenwart verlegt, dass noch mehr Nacktheit zu sehen sein wird als auf dem Plakat, dass es brutal zugehen wird. Bieito sein Milljöh.

Die Komische Oper Berlin hätte ihn nicht eingeladen, wenn das so einfach wäre, wenn ihm nur der Ruf eines Blutverspritzers vorauseilte. Den 41Jährigen treibt das Leiden an der Gewalt, die Menschen sich antun. Den Dreck des wirklichen Lebens will er in die Oper holen. Glaubwürdig hat er in Produktionen von Don Giovanni bis Il Trovatore Verdrängtes sichtbar gemacht und (ob er wollte oder nicht) gezeigt, wie weit Musik reichen kann. Wenn sie kann. Bis jetzt waren es große dramatische Partituren von stabiler Architektur. Die Entführung aus dem Serail ist aber ein Singspiel, Arien, Duette, Ensembles, Chöre mit viel gesprochenem Text dazwischen. Eine zerbrechliche Sache, so schwankend wie die Figuren selbst.

Im Opernhaus an der Behrenstraße herrscht plüschige Ruhe vorm Sturm. Ein schmucker Edelpuff, violett ausgeleuchtet, in Vitrinen räkeln sich langbeinige Blondinen. Osmin läuft nackt einer Nutte nach, Geschäker vor Betriebsbeginn, ganz niedlich. Und erheiternd, wenn Belmonte sich hier nicht als reisender Architekt ins Serail einschleicht, um seine gefangene Verlobte zu befreien, sondern sich zum Transvestiten umfummelt. Da lacht man zum letzten Mal an diesem Abend. Die Musik lacht noch öfter, aber das ist dann kaum noch wahrnehmbar, obwohl das Orchester wirklich gut spielt. Kirill Petrenko entwickelt mit den Instrumentalisten ein gediegen beschwingtes Klangbild, schlank und präzise, in bestem Kontakt zur Bühne auch dann, wenn die Sänger damit beschäftigt sind, trotz Würgehalsbändern, Prügeln und Griffen ans Geschlecht schöne Töne hervorzubringen. Was allen bewunderungswürdig gelingt bis auf Osmin. Jens Larsen fehlt Tiefe für diese schwarze Basspartie. Aber das muss man entschuldigen angesichts des ungeheuren Einsatzes, mit dem er sich in dieser Regie zum Zuhälterschwein machen lässt, zum Megamacho, der für den Bordellchef die Drecksarbeit erledigt.

Bieito interessiert sich nicht für Mozarts durchtriebenen Orient-Okzident-Konflikt, in dem das Genre der „Türkenoper“ durchscheinend geworden ist und ein aufgeklärter Muslim seine christlichen Gefangenen freilässt. Islam und Ironie sind gestrichen, der Rest ist auf Gewalt reduziert. Während Konstanze von „Martern aller Arten“ singt, die sie ertragen will, führt Osmin die Martern an einer anonymen Prostituierten vor, die so realistisch wie möglich mit einem Messer aufgeschlitzt und verstümmelt wird. Wer wegguckt, kann trotzdem nicht zuhören und ist vollauf damit beschäftigt, im Kopf den Prozess zu stoppen, zu dem Bieitos direktes Theater doch auffordert – sich auf das Geschehen einzulassen. Das Leben, brüllt er einen an, ist brutal und schmutzig, und eure scheißschöne Musik ändert das nicht. Aber um das zu sagen, braucht er die Musik doch, und diesmal hält sie es nicht aus, vielmehr: Sie zieht sich zurück. Als Mozart zur Komposition der Entführung schrieb, dass „die leidenschaften, heftig oder nicht, niemals bis zum Eckel ausgedrücket seyn müssen“, meinte er nicht den Vorgang der Verdrängung, sondern der Kommunikation. Man muss dem, dem man etwas mitteilt, Platz lassen für das, was er selbst mitbringt. Diese Fähigkeit lässt seine Partitur bis heute leuchten. Aber die Kraft, Bieitos Pessimismus zu durchdringen, hat sie nicht.

So verlieren im Publikum viele die Fassung. „Schmeißt den Regisseur raus!“, ruft ein junger Mann. „Eine Schande für die Kultur in diesem Land!“, ruft eine alte Dame, und Bordellchef Selim, der Konstanze an einer Hundeleine hält, kann gerade noch Ruhe herstellen, indem er mit bösem Brandauer-Lächeln sagt: „Es ist ein Traum!“ In diesem Traum richten dann Belmonte und Pedrillo vor der Flucht ein Massaker an, erschießen sämtliche Prostituierte. „Jaaa, mehr Blut!“, schreit einer vom Rang. Später wird Osmin von Blonde hingerichtet, Selim zwingt Konstanze, ihn zu erschießen, weil sie seine Liebe nicht erwidert. Und als sie merkt, dass Belmonte nun seinerseits Bordellchef werden will, gibt sie sich selbst die Kugel.

Maria Bengtsson singt diese Konstanze grandios anrührend und persönlich, obwohl sie nichts als Opfer sein darf, als Bordellchef ist Guntbert Warns in seiner angesoffenen Mischung aus Allmachtswahn und hilfloser Liebe eine unvergessliche Figur. Kein Zweifel, dass sich in dieser Regie griffige, starke Rollenporträts entwickelt haben. Doch sie agieren in einer Sackgasse. Da ist nur Bieitos eindimensionale Wut. Zu wenig fürs Theater. Aber gerade richtig für den angekündigten Skandal.

Der Artikel erschien am 24.6.04 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt.