E-Mail aus dem Orwell-Jahr

Während die meisten Leute sich schwerlich erinnern können, in welchem Jahr oder gar um welche Uhrzeit sie ihre erste E-Mail bekamen, steht es zumindest für ganz Deutschland fest: 3. August 1984, 10.14 Uhr mitteleuropäischer Zeit. In der Betreffzeile stand: „Wilkomen in CSNET!“ Heute würde die leicht defizitäte Rechtschreibung sofort Verdacht auf Phishing erregen, damals öffnete ein Mann in Karlsruhe bedenkenlos das digitale Kuvert, um Post von Laura zu lesen: „Michael, This is your official welcome to CSNET.“

Michael Rotert war und ist Informatiker in Karlsruhe, damals an der Uni. Und Laura Breeden begrüßte ihn auf einer US-Plattform, die zur Kommunikation von Wissenschaftlern gegründet worden war. Der junge Karlsruher brauchte dafür einen kühlschrankgroßen Computer namens VAX 11/750, der schon mit dem Betriebssystem UNIX lief. Und natürlich stand dieser Computer in einem Keller. Es müssen ja immer Keller und Garagen sein, in denen die großen Umwälzungen ihre Anfänge nehmen, bescheiden und beengt.

In Wahrheit tun sie das selten. In Wahrheit wünschte man sich im US-Verteidigungsministerium schon zu Beginn der 1960er ein Netzwerk zur internen Kommunikation, und was dann 1962 drei Informatiker als „Intergalactic Computer Network“ konzipierten, enthielt schon fast alle Ingredienzien des Internet. Einer von ihnen wurde bald darauf Chef der Advanced Research Projects Agency, 1969 stand das ARPANET, das mit Harfen nichts zu tun hatte, 1971 wurde die erste E-Mail verschickt.

Natürlich führen noch zig weitere Wege zur weltweiten E-Post mit jetzt mindestens 3,4 Milliarden Anwendern. Auch der Buchdruck beginnt nicht erst mit Gutenberg, um die Erfindung des Funkverkehrs konkurriert ein Dutzend Pioniere. Aber es gibt doch immer irgendwo ein konkretes „erstes Mal“, eine Geburt mit Datum, auf die sich Menschen gern berufen. Je weniger wir durchblicken, desto lieber zeigen wir auf die Urkunden. Und auf einen Ur-Kunden wie Michael Rotert, immerhin erster Mailer im deutschen Telefonnetz.

Seine Uni habe damals, sagt er heute, schon mal 30.000 Mark monatlich fürs Mailen bezahlt. Schade, dass solche Tarife nicht beibehalten wurden für alle, die Spams absondern. Der klebrige Müll umfasst nämlich drei Viertel der 3,7 Millionen Mails, die mittlerweile weltweit pro Sekunde verschickt werden.

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