Der große Junge von Bethnal Green

Ein Besuch im Londoner East End bei Jonathan Dove, einem der beliebtesten Opernkomponisten unserer Zeit

Boys´ Entrance“ steht in grauen Stein gemeißelt über der Seitentür, aber es ist lange her, dass Schulknaben das hohe Ziegelgebäude betraten. Im späten 19. Jahrhundert nämlich, als Bethnal Green noch ein respektables Viertel im Osten von London war und nicht ein Kuddelmuddel aus Ladenbaracken, Autowerkstätten, rissigen Neubauten, strubbeligen Miniparks und Resten aus großer Zeit wie diese Schule nahe der Hackney Road, aus deren „Boys´ Entrance“ jetzt ein ziemlich großer Junge kommt, helle Augen, schlaksig, grinsend, in Jeans, gerade mal 55 Jahre jung: Jonathan Dove.

„If you are prepared to travel to the East End of London”, hatte er gemailt, als wohne er weit weg und nicht bloß vier Stationen der Central Line vom Zentrum entfernt. Aber eine andere Welt ist es. Ärmer – und viel lebendiger als die Straßen zwischen St. Pauls und Marble Arch. Das Zentrum ist im Geld erstickt, da gibt es außer zähfließendem Verkehr nur noch teure Läden, Ökosnackbars, die bestens betuchten Angestellten, Lieferanten und ein paar versprengte Herbstreisende. In Bethnal Green brodelt dagegen das Leben, das ganz normal exotische, hier leben Emigranten aus Bangladesch, Nahem Osten, Afrika.

Und seit 20 Jahren lebt hier der Komponist Jonathan Dove, der jetzt Hunger hat und in seinem winzigen Stammcafé an der Hackney Road zwei Spiegeleier und ein quietschgrünes Getränk bestellt, nachgewürzt vom Dieseldunst der Busse draußen. Der Mann ist bester Laune, schließlich werden in diesem Jahr zehn von seinen Opern an sechzehn Häusern neu produziert, auch in Zürich, wo „The Enchanted Pig“, eine Oper für Kinder und Familien, erstmals den deutschsprachigen Raum erreichen und „Das verzauberte Schwein“ heißen wird. Vor neun Jahren grunzte es erstmals, im Londoner Theater „Young Vic“.

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„Wir sagten nicht mal, dass das eine Oper ist“, meint Jonathan, „sonst wäre das Theaterpublikum nicht gekommen.“ Die Leute kamen dann zu diesem „musical tale“ so gern, dass die Produktion – sechs Instrumentalisten, acht Sänger für mehr als 20 Rollen – es auf 150 Aufführungen brachte und sogar in New York gastierte. Die Geschichte geht verkürzt gesagt so: Eine Prinzessin muss ein Schwein heiraten, stellt fest, dass es sich nachts in einen schmucken Prinzen verwandelt, und liebt ihn. Doch die böse Hexe, die hinter dem Zauber steckt, entführt Pig, und Flora muss bis ans Ende der Welt, um ihn zu retten.

„Zarte Lyrik, kecke Weisen, walzernde Duette und elaborierte Ensembles“ fand die New York Times da gekonnt gemischt, und an Komik fehlt es eh nicht, wenn Herr und Frau Nordwind als altes Ehepaar duettieren: „Ich lieb die Wickler, die sie trägt / ich lieb es, dass er sich nicht pflegt.“ „Schwer zu sagen, ob Witze funktionieren“, meint Jonathan. „Wenn du ein paar Leuten etwas probehalber vorspielst, lacht keiner. Erst in einer größeren Gruppe kann das Lachen anfangen.“ Er testet so etwas, wie jedes work in progress, gern mit Freunden in seinem Loft, zu dem wir jetzt aus der Hackney Road hinaufsteigen.

Der einstige Schulkorridor im dritten Stock ist so hoch, dass das Fahrrad des Komponisten am Seil von der Decke hängen kann. Der Saal daneben, mit hohen Fenstern nach Süden, hat Platz für ein Podest mit Flügel, Küche und Esstisch. Jonathan macht sich Pfefferminztee und erzählt, warum comedy in der Musik für ihn so wichtig ist. „Ich fing an als Korrepetitor für Opern, ich liebte es, wenn das Publikum bei Verdis Falstaff und Rossinis Barbier lachte, und fragte mich, wo die Komik in der Oper später geblieben ist.“ Ausgerechnet mit einer Emigrantengeschichte hat er sie dann für sich wieder gefunden.

Da gab es die wahre Geschichte des iranischen Flüchtlings, der jahrelang im Pariser Flughafen Charles de Gaulle lebte. Rund um diesen Gestrandeten schufen Jonathan Dove und sein Librettist April de Angelis eine Komödie der Wartenden, die ein Unwetter am Boden festhält. „Flight“ bedient sich gediegen bei John Adams, bei Bernstein und Britten, wurde nach der Uraufführung 1998 in Glyndebourne vielfach nachgespielt, jüngst auch in Londons „Holland Park“, und das in Zeiten, da einem zum Stichwort „Flüchtling“ eher keine Komödien einfallen. „Jetzt würde ich dieses Sujet wohl nicht wählen“, meint Jonathan.

Aber gerade die Geschichte des Flüchtlings wird nicht zur comedy. Der Darsteller, Countertenor, erzählt sogar – Fiktion – von einem Zwillingsbruder, der die Flucht im Fahrwerk des Jets nicht überlebte. „Am Tag einer der Vorstellungen jetzt in London passierte genau das. Ein blinder Passagier kam um.“ Niemand fand deswegen „Flight“ zynisch, im Gegenteil. „Die Leute reagieren auf die refugee story innerhalb dieser Oper generell stärker als vor siebzehn Jahren. Das Thema ist näher gekommen.“ Und Jonathans musikalische Sprache ist so beschaffen, dass jeder ihr mühelos folgen kann.

„Ich bin ja kein respektabler Modernist. Meine Musik ist modal, oft diatonisch, es ist das, was ich selbst hören möchte, wenn auch nicht alle Kritiker. I´m trying to write myself a good night out”, sagt er so selbstbewusst wie bescheiden. Er ist kein Populist, der die Avantgarde verachtet, eher ein unbefangener Umsteiger aus einer Familie, in der es außer ihm nur Architekten gab und gibt. Seine Mutter spielte Klavier, und das brachte ihn auf den Weg. „Zuerst habe ich die Sachen nachgespielt, clair de lune und Händels Largo.“ Making things up, wie er seine frühen Komponierversuche nennt, kam etwas später.

„Mit zwölf spielte ich Orgel in der Kirche, aber ich übte nicht gern und dachte mir lieber selbst was aus. Und am Klavier träumte ich jeden Tag stundenlang.“ Als Teenager baute er Spielzeugtheater, Modelle, in denen er Szenenwechsel und Beleuchtung ausprobierte. Und im Londoner Center for Young Musicians lernte er neben dem Klavierspiel auch Bratsche. Mit sechzehn spielte er im Jugendorchester Mahlers Erste. Dirigent war der neunzehnjährige Simon Rattle. Eben der, der im Sommer 2015 das „Monster in the Maze“ von Jonathan Dove in drei Städten realisiert hat, in Berlin, London und Aix en Provence.

Es ist ein Musiktheater um den Minotaurus, konzipiert für Profis und Schüler in Chören wie im Orchester, das in Konzertsälen wie auf Bühnen funktioniert, eben die Art „community opera“, mit der Dove ebensoviel Erfahrung hat wie mit Fernsehopern. Das Genre ist mittlerweile weggespart worden, aber er erreichte bei der BBC mit „When she died“, einer halbdokumentarischen Oper zur Massentrauer um Lady Diana, anno 2002 eine Million Zuschauer. „Oper ist kein schwer zu verstehendes Medium, wenn sie eine Geschichte erzählt, die dich interessiert. I have a passion for storytelling. Ich kann das mit Musik.“

Seinen eigenen Ton hat er erst lange nach dem Musikstudium gefunden. „Ich machte odd jobs – Korrepetitor, Arrangeur, Chorleiter – und komponierte. Aber erst, als ich zwei Tänzer traf, die Musik brauchten, kam etwas heraus, wovon ich dachte: Das ist das, was ich hören möchte.“ Da war Jonathan fast dreißig. Es stellte sich heraus, dass andere auch hören und, wie die Edition Peters, sogar drucken mochten, was dann entstand. Bis jetzt unter anderem 28 Bühnenwerke, mit Sujets von Apollo 11 bis zu Pinocchio, die ihn in der vorigen Saison auf Platz vier der meistgespielten lebenden Opernkomponisten brachten.

Wenn er neu anfängt mit einer Oper, denkt er zuerst nach, wie sich die Ereignisse für die Protagonisten anfühlen, und sucht nach der Klangwelt, den passenden Orchesterfarben. „Wenn die klar werden, bewege ich mich auf die Stimme zu, bis die Worte erscheinen. Wenn die Worte auf die Klangwelt treffen, erhebt sich die Melodie.“ Und die probiert er dann aus, hier oben am Flügel, singend bis in die Altlage, Sopranstimmen pfeift er, führt es Freunden vor, nimmt alles auf, hört sich das an. „Sowas hilft mir, ein Stück zu formen.“ Nur einmal hat er das nicht getan: Beim zweiten Akt des „Schweins“.

Und? „Beim Probelauf mit Kindern ging alles gut, bis auf zwei Stellen im zweiten Akt. Kinder sind aufrichtig. Das meiste fanden sie spannend, aber da fingen sie an, ungeduldig zu werden, sie schwankten wie Seeanemonen im Ozean. Ich liebte diese Stellen, aber ich habe sie gestrichen.“ Wenn er nicht für Kinder komponiert, macht er es ebenso. Er will einfach, dass die Leute a good time haben – so wie unsere Stunde hier. Am Ende erklärt mir den Weg nach unten, man kann sich in der alten Schule leicht verlaufen. Dann setzt er sich an seine nächste Oper, mit Blick auf ihren Schauplatz: „Marx in London“.

Dieser Text erschien geringfügig gekürzt in der Novemberausgabe 2015 des Magazins der Oper Zürich und ist urheberrechtlich geschützt