„Innere Armut bringt Grausamkeit hervor“

Von Caracas nach Berlin: Domingo Hindoyan ist einer der Stars des  „sistema“. Jetzt dirigiert er in Zürich „Petruschka“ und „Sacre“

„Dieselbe Temperatur wie jetzt in Caracas“, meint er, „nur dass es da überall Klimaanlagen gibt und hier nicht.“ Brütende Septemberhitze in Berlin, Pause zwischen zwei Proben für Tosca. Wenigstens sind es im Café hinter dem Schillertheater der Staatsoper nur 27 statt 30 Grad, dafür jault ab und zu eine Saftpresse so baustellenlaut, dass sogar die kräftige tiefe Stimme von Domingo Hindoyan kaum zu verstehen ist. Caracas also, Hauptstadt von Venezuela, mehr als zwei Millionen Einwohner, von denen täglich etwa sieben gewaltsam ums Leben kommen. „Es ist so gefährlich geworden, dass viele auswandern“, sagt er, der in Caracas vor 36 Jahren zur Welt kam.

Die derzeit gefährlichste Stadt der Erde ist auch eine der musikalischsten Städte, dank des legendären Musikerziehungssystems „el sistema“, in dem auch dieser Musiker, Sohn einer Juristin und eines Geigers, groß geworden ist. Er zählt zu den Aufsteigern einer Generation, die auffallend reich an Dirigierbegabungen ist. Bis vor kurzem war Domigo Hindoyan in Berlin Assistent von Daniel Barenboim, drei Jahre lang. Er ist Gastdirigent zweier Londoner Orchester, des Sinfonieorchesters Basel, der Orchester in Lausanne, Liège und Valencia, und, neben weiteren Adressen, der Oper in Graz. Dort dirigierte er erstmals die Partitur, mit der er demnächst nach Zürich kommt: Igor Strawinskys Le sacre du printemps.

Da Domingo Hindoyan außerdem mit Sonya Yoncheva verheiratet ist, die als Opernsopranistin zu den rising stars unserer Tage gehört, könnte man befürchten, seine Bugwelle entspreche seiner beträchtlichen Körpergröße. Tatsächlich ist er aber ein zugänglicher, geerdeter Typ „großer Junge“ mit wachen dunklen Augen, der mir erklärt, was es mit „el sistema“ auf sich hat: „Über 700.000 Kids nehmen in Venezuela das Angebot wahr, kostenlos ein Instrument zu lernen – sozial Benachteiligte, Mittelklasse, Reiche, egal. Als ich vierzehn war, waren es nicht so viele. Diese Schule ist wie in zweites Zuhause. Du gehst da nachmittags hin, lernst Harmonielehre, Solfeggio und dein Instrument, und spielst im Orchester.“

Sein Instrument war und ist die Geige. Das lag nahe bei einem geigenden Vater, es ging früh los, und früh hatte er auch den Reiz des Dirigierens entdeckt. Zuerst als kleiner Junge, wenn ihn sein Vater zu Sonnagskonzerten mitnahm: „Auf dem Rückweg habe ich immer die Dirigenten imitiert. Dann kam ich ins Jugendorchester, da war es Alltag, die Dirigenten von vorn zu sehen. Ich guckte immer, wie die probten, wie das funktioniert, ich war wahnsinnig neugierig. Ich las auch schon die Partituren und hatte eine hübsche Bibliothek davon, ehe ich zu dirigieren begann.“ Wann stand er zum ersten Mal vor einem Orchester? „Ich war vierzehn und Konzertmeister in einem Jugendorchester. Wir spielten die Peer Gynt Suite.“ An einer Stelle habe der Dirigent gesagt: „Ich merke, du bist so neugierig und guckst immer in die Partitur, willst du es versuchen? Mal das Orchester von außen hören? Komm, dirigiere es! Ich hatte nie Unterricht gehabt, ich stand da und dirigierte das Stück, meine Freunde spielten, wir waren ja alle Kids, das war mein erstes Mal, fantastisch.“ Er strahlt jetzt noch. Vor zwei Jahren hat er den Grieg wieder geleitet, als Gastdirigent in Valencia. „Die Partitur war sofort wieder präsent in meinem Kopf, als ob man einen alten Ordner im Computer öffnet. Die Stücke, die man kennenlernt, wenn man sehr jung ist, vergisst man nie.“ Er blieb damals trotzdem erstmal beim Geigen. „Ich wollte damit so weit kommen, wie mein Talent reichte.“

Domingo sammelte wie besessen Aufnahmen und Videos großer Geiger, und da gab es diesen TV-Mitschnitt vom 26. Mai 1965 aus Paris: Der 29-jährige Geiger Christian Ferras spielt das Violinkonzert von Jean Sibelius, der 25-jährige Zubin Mehta steht am Pult des Orchestre National des ORTF, man findet das inzwischen auch online. „Das guckte ich mir wirklich jede Woche an. I loved it. Diese sensuelle und süchtigmachende Art, Geige zu spielen! Eines Tages achtete ich aber gar nicht mehr auf Ferras, sondern auf Zubin Mehta, der das Konzert so gut dirigierte. Da merkte ich, es passiert etwas mit mir!“ Domingo lacht. Seine Wandlung zum Dirigenten hatte begonnen.

Als er zwanzigjährig zum ersten Mal nach Europa kam, als Geiger im jungen Orquesta Sinfónica Simón Bolívar, war ihm das sinfonische Repertoire bereits vertraut: „Ich hatte schon alle Sinfonien von Brahms, Beethoven und Schumann gespielt, alles von Mahler außer der Siebten.“ Diese Musik sei in Venezuela jedem musikalischen Kind ebenso vertraut wie europäischen Musikliebhabern. Trotzdem gebe es einen Unterschied: „Für euch ist das was Altes, für uns ist es neu! Bei uns ist Klassik temperament, dancing, und live fast wie ein Rockkonzert. Und bei uns sind die Konzerte umsonst. Man geht einfach hin.“

Im selben Jahr, mit Anbruch des neuen Jahrhunderts, begann Domingo an der Genfer Musikhochschule sein Dirigierstudium bei Laurent Gay, ohne indessen die Geige wegzulegen: „Du musst als Dirigent ein Instrument spielen können, weil der Taktstock keinen Klang erzeugt. Du musst wissen, wie man Musik mit seinen eigenen Händen und dem eigenen Atem macht. “ Seine Violine brachte ihn aber auch auf ganz andere Weise voran. Nach Abschluss seines Studiums und einigen Meisterkursen ging er als Orchestermitglied mit dem von Daniel Barenboim gegründeten und geleiteten „West-Eastern Divan Orchestra“ auf Tournee. Sieben Sommer lang war Domingo unterwegs, auch in den Konfliktzonen des Nahen Ostens, zu dem er eine Verbindung hat: Sein armenischer Großvater emigrierte nach Syrien, nach Aleppo, jene Stadt, die seit vier Jahren aus einem Welterbe in einen Trümmerhaufen verwandelt wird.

Da Orchester ist besetzt mit Mitgliedern vieler Ethnien und Religionen. „Wenn ein Israeli bei seinem Oboensolo von Palästinensern begleitet wird“, meint Domingo, „ist klar: in einem Orchester sind alle gleich.“ Wie das „sistema“ im gewaltreichen Venezuela hat ihn auch dieses Orchester in der Überzeugung bestärkt, „dass es wichtig ist, in einer Welt voller Brutalität die Seele zu bereichern. Innere Armut bringt Grausamkeit hervor. Die Künstler sollten ihre Arbeit sehr entschieden tun! Und laut! Manchmal hilft es.“ In Barenboims Friedensorchester spielten drei angehende Dirigenten mit. Jeder von ihnen durfte eine Beethoven-Sinfonie im Konzert leiten. Domingo bekam die Siebte. Danach verschaffte ihm Barenboim den Job an seiner Seite in Berlin.

Wirft so ein Meister nicht auch Schatten? Domingo wundert sich. „Nein. Ich hatte im ganzen Leben keine bessere Schule für Musik und Dirigieren. Sieben Jahre West-East Divan Orchestra und drei als Assistent – ich habe mehr als 40 Vorstellungen an der Staatsoper dirigiert. Barenboim ist großzügig, er versucht zu helfen, er sagt, wenn etwas gut ist, und wenn nicht, sagt er, warum. Er hat ein hohes Tempo, da muss man mithalten. Ich brauche Zeit, um vieles zu verstehen, was ich hier in Berlin gelernt habe.“ Parallel dazu hat er sich selbst entwickelt, gerade beim Sacre merkt er das. „Ich dirigiere das Stück jetzt zum dritten Mal, und ich treffe jedes Mal andere Entscheidungen. Am Anfang war ich rough, jetzt wird es dancing and light.“

Kein Frühlingsopfer als Vorklang des Krieges? Viele wollen den ja heraushören, weil die Uraufführung 1913 war. „Ich glaube das nicht. Strawinsky war sehr pragmatisch. Er wollte verbessern und ausprobieren. Das Stück änderte die Geschichte, es änderte die Art, wie man Rhythmen schreibt, so, wie er vorher mit Petruschka in die Polytonalität ging. Aber es ist ein Stück Musik. Noten, Töne, Rhythmen. Es gibt auf Youtube ein Interview mit Strawinsky, da erzählt er, was Diaghilev ihm sagte, der Choreograph: DAM, DAM, DAM, soll das die ganze Zeit so weiter gehen?“ Er lacht schallend, die Saftpresse jault wieder ohrenbetäubend, und komischerweise fühlt sich die Welt jetzt besser an.

Dieser Text erschien im MAG 42, dem Magazin der Oper Zürich, Oktober 2016, und ist urheberrechtlich geschützt.