Ein Sonntagmittag anno 1864 in der Rue Moncey 12

Zwischen kleiner Besetzung und großer Oper: Die Uraufführung von Gioachino Rossinis „Petite Messe solennelle“ in einem Pariser Stadtpalais

Einen solchen Glanz hat Albert Lavignac zuvor noch nicht erlebt. Als gebürtiger Pariser kennt der 18-jährige Student des Conservatoire natürlich das 9. Arrondissement, eine teure Gegend. Er ist mit ehrfürchtigem Seitenblick an den palais particuliers vorbeigegangen, den Stadtpalästen der Reichen, aber nun, am Sonntagmittag des 13. März 1864, darf er eintreten, mit den anderen Musikern, wenn auch wohl nicht durch das Hauptportal in der Rue Moncey 12, vor dem die Gäste dieser als „Generalprobe“ getarnten Uraufführung ihren Kutschen entsteigen. Comte Alexis und Comtesse Louise Pillet-Will geben sich die Ehre, ihre Privatkapelle musikalisch einzuweihen. Man erzählt sich, das Vermögen des Comte, Chef der Caisse d´épargne de Paris, belaufe sich auf mehr als 20 Millionen Francs – was heutzutage etwa 140 Millionen Euro entspräche.

Aber nicht das beeindruckt Albert, auch nicht, dass Bankiers, Minister, Diplomaten dem neuen Werk zuhören werden. Es sind die Größen der französischen Musik, die sein Lampenfieber schüren. Er sieht Giacomo Meyerbeer, den Herrscher der Grand opéra, im Gehrock, die hohe Stirn nur noch knapp gerahmt von dunklen Locken, nun 73 Jahre alt, plaudern mit dem uralten, gebeugten François Auber, dem Schöpfer der Stummen von Portici. Meyerbeers ernstes Gesicht leuchtet auf, als ein anderer alter Freund sich nähert, etwas schwerfällig, nicht ganz so rundlich wie auf den Karikaturen, aber unverwechselbar mit den spöttischen Mundwinkeln über starkem Kinn, den schweren Augenlidern, den gekräuselten weißen Koteletten. Albert weiß, wer das ist, er hat das Werk für heute komponiert: Gioachino Rossini, 72.

Seit nun schon 35 Jahren ist Rossini als Opernkomponist verstummt; ausgerechnet nach dem triumphalen Erfolg des Guillaume Tell, seiner vierunddreißigsten Oper, ohne sich indessen Sorgen um die Finanzen machen zu müssen. Denn zum einen werden seine Bühnenwerke überall gespielt, sogar in New York, und bringen Tantiemen ein (ein Urheberrecht gibt es in Frankreich schon seit 1791), allein in Florenz besitzt er drei Häuser, dazu noch zahlt die französische Regierung dem berühmten Wahlpariser eine jährliche Pension. Mit seiner zweiten Frau Olympe Pelissier, einst von ihrem Geliebten Honoré de Balzac als „schönste Kurtisane der Welt“ gefeiert, bewohnt er seit 1857 eine großzügige Wohnung in der Chaussee d´Antin, gut zehn Minuten zu Fuß von hier, und im Sommer die vor fünf Jahren neu errichtete Villa Rossini in Passy bei Paris. Dort hat er auch die Petite Messe solennelle geschrieben.

Vielleicht ist es Ambroise Thomas, Alberts vollbärtiger Kompositionslehrer am Konservatorium, der den jungen Musiker dem heiteren Alten vorstellt. „Meine große Klarinette“ wird der ihn später nennen, denn sie befreunden sich, und neben seinen Instrumenten Klavier und Orgel widmet sich Albert auch der Klarinette. Heute aber wird er in die Tasten einer kleinen Wundermaschine greifen, eines Harmonicord von Alexandre Debain. Zumindest wird dieses Instrument auf dem eigens gedruckten Programm der exklusiven Veranstaltung genannt. Für Rossinis Partitur genügt ein Harmonium – in seiner meist verbreiteten Form ebenfalls eine Konstruktion von Debain: Grob gesagt eine transportable Orgel, deren Blasebälge mit zwei Fußpedalen betrieben werden. Über die können die Musiker auch Lautstärkeunterschiede erzielen.

Das Harmonicord hingegen ist ein Hybrid, in dem sich auch noch ein Klavier verbirgt, wobei per Register entweder Pfeifen oder zusätzlich Saiten aktiviert werden. Vermutlich hat Debain, der selbst anwesend sein dürfte, diese Maschine aus Reklamezwecken zur Verfügung gestellt, und es genügt, dass der junge Student sie als Harmonium spielt. Immerhin kommen noch zwei Klaviere dazu, fünfzehn Choristen und vier Solisten, mehr wäre in diesem Raum nicht realisierbar. Trotzdem ist es für eine Messe im bombastliebenden Paris des Zweiten Kaiserreichs eine Besetzung von geradezu franziskanischer Bescheidenheit. In ihr wird die Gläubigkeit anrührend, von der Rossini selbst nur mit einem Hauch Ironie zu sprechen wagt wie immer, wenn ihm etwas nahe geht, und in dieser Besetzung, nicht der Orchesterfassung, berührt sie uns.

„Lieber Gott“, hat der Komponist 1863 in Passy hinter seine Partitur geschrieben, „voilá, nun ist diese arme kleine Messe beendet. Ist es wirklich heilige Musik, die ich gemacht habe, oder ist es vermaledeite Musik? Ich wurde für die Opera buffa geboren, das weißt du wohl! Wenig Wissen, ein bisschen Herz, das ist alles. Sei also gepriesen und gewähre mir das Paradies.“ Freilich soll man es nicht übertreiben mit der Bescheidenheit. Als Solisten hat Rossini, immer noch in umtriebigem Kontakt zur Opernwelt, kostspielige Stars gewählt. Die Schwestern Carlotta und Barbara Marchisio, Sopran und Mezzosopran, haben vor wenigen Jahren seine Oper Semiramide zu neuem Mailänder Erfolg mit 33 Vorstellungen in einer Saison geführt, Tenor Italo Gardoni, 43, bekannt für die vibratoarme Reinheit seiner Stimme, wird derzeit in England gefeiert und tritt in Opern aller hier in der Rue Moncey versammelten Komponisten auf.

Der rundgesichtige junge Bassbariton Louis Agniez ist der einzige Solist, der noch am Beginn der Sängerkarriere steht. Der 30jährige Belgier, bislang Komponist (und sogar mit einer Oper in Brüssel erfolgreich) nennt sich nun Luigi Agnesi, nimmt Gesangsunterricht und wird in diesem Jahr als Assur in Rossinis „Semiramide“ in Paris debütieren – es kann nicht schaden, ihn schon mal einem handverlesenen Publikum vorzustellen. Sie alle, darf man vermuten, haben im Konservatorium für diesen Tag geprobt. Von dort kommt auch der Chor, fünfzehn Sänger, obwohl Rossini nur acht wünschte, um mit den Solisten auf die Apostelzahl 12 zu kommen. Der erste Pianist, Georges Mathias, unterrichtet dort, was er von Chopin lernte und viel später vergeblich einem Erik Satie beizubringen versucht. Der zweite Pianist ist Andrea Peruzzi.

Der junge Chorleiter Jules Cohen gibt den Einsatz – zwei Akkorde der Instrumente nur, im piano, die zur Ruhe mahnen. Dann beginnt das erste Klavier einen Rhythmus, der die Leute lächeln lässt: Das ist ja richtig munter! Albert setzt drei Viertel später ein. Das Legato seines Harmonicord, leicht näselnd, kommt eigentümlich über dem Klavierstaccato zur Geltung. Keine Töne der Weihe, aber auch nicht diesseitig. Man merkt kaum, wie gut dosiert Rossini in den paar Takten schon die Harmonik ausweitet, doch als nacheinander die Chorstimmen einsetzen, alles über trivialem Sechzehntelrhythmus, ist man in einer anderen Welt – und lauscht verzaubert. August Wilhelm Ambros, einer der scharfsinnigsten Musikhistoriker der Zeit, wird schreiben: „Das anscheinend so einfache harmonische Gewebe der Stimmeneintritte des ersten Anfangs des Kyrie ist eben etwas, wie es der Himmel nur einem Genie beschert.“

Hier und da schimmert auch der Tonfall solcher Passagen durch, in denen die Grand opéra Pilger und Gebete einsetzt, und wohl schon hier muss Meyerbeer sich die ersten Tränen abtupfen. Die Zeit demütigen Glaubens ist eigentlich vorbei, überholt von irrwitziger Beschleunigung. Längst leuchten an der Seine elektrische Straßenlampen, Schienen, neben denen Telegraphenmasten wachsen, verbinden die Städte, die Dampfloks haben ihr Tempo verdoppelt, Zylinderdruckpressen jagen die Auflagen der Zeitungen hoch, die Fotografie ist ein Geschäft und keine Novität mehr. All das gab es nicht, als Rossini 1823 nach Paris zog, der Hornistensohn aus Pesaro, der noch Beethoven kennenlernte. Die Eisenbahn scheut er immer noch: Un petit train de plaisier nennt er sarkastisch ein Klavierstück, in dem er ein Schienenunglück beschreibt – eine der 150 Péches de vieillesse, der „Alterssünden“, die er seit 1857 komponiert und gelegentlich in seinem begehrten Samstagssalon aufführen lässt.

Auch Eduard Hanslick ist dort gewesen, der bedeutende Wiener Kritiker, und und zeigte sich überrascht, „wie gerade Rossini, dem modulatorische Spitzfindigkeiten stets so fernlagen, dies Volkslied [Marlborough] mit einem Reichtum geistreicher Harmonien und spitzfindiger Überraschungen ausgestattet hat.“ Er wäre noch mehr überrascht von dem, was der Alte sich im Gloria seiner Messe erlaubt. So schlackenlos es beginnt – mitten im Terzettino von Mezzo, Tenor und Bass schwelen vier Klaviertakte so chromatisch, als stünde die Uraufführung von Richard Wagners Tristan und Isolde nicht erst noch bevor. Immer wieder gibt es so kleine Ausblicke in die Zukunft und die Vergangenheit der Musik, mit leichter Hand, mal beiläufig, mal fokussiert: Das Quoniam im Gloria bewegt sich unüberhörbar in Mozarts Nähe, bis der Bassist in Takt 510 mit Tu solus dominus ein fast wörtliches Zitat aus dem Don Giovanni erreicht. So dezent, dass es die Sphären verbindet, ein Gruß an den Größten der Oper, der den anwesenden Kollegen nicht entgeht.

Frivol ist dagegen eine Praxis der Zeit, an der sich Rossini gerade nicht beteiligt: Beliebte Opernnummern werden für die Kirche umgetextet, weit brachialer als etwa zu Monteverdis Zeiten: Aus Rossinis Arie Ecco ridente im Barbier von Sevilla macht man ein Credo in unum deum, aus La ci darem la mano im Don Giovanni ebenfalls. Für seine Messe wendet Rossini dieses Parodieverfahren nirgends an, dafür übernimmt er 22 Takte aus dem Werk eines Freundes: Das Christe Eleison entstammt einer Messe, die Louis Niedermeyer 1849 komponiert hat. Jedenfalls hat es der Italiener nicht nötig, kontrapunktische Partien woanders abzukupfern. Immerhin hat seine Komponistenlaufbahn einst mit geistlicher Musik begonnen, ehe er die Oper eroberte. Zwei Dutzend Werke schrieb er für die Kirche – und zwar als versierter Kontrapunktiker.

Doch all das – und auch sein gefeiertes Stabat mater von 1832 – lässt er weit hinter sich mit dem Chorstück, das als Schluß des Gloria in der Privatkapelle erklingt. Cum sancto spiritu als Doppelfuge über rasselnden Baßachteln beider Klaviere – das ist eine der rasantesten, vitalsten, beglückendsten Vertonungen des „Heiligen Geistes“, die je geschrieben wurden, fern von Gelehrsamkeit, von angestrengten Nachweisen polyphoner Kompetenz, wie sich bleiern durch so viele Oratorien des 19. Jahrhunderts ziehen. Und erstaunlicherweise auch fern von Bach, der dem alten Italiener näher ist, als sein Publikum ahnt. Er wird es später zeigen, und das werden die großen Momente des Albert Lavignac…

Nun gibt es erst einmal ein Credo in unum deum, in dessen Klavierrhythmen Jacques Offenbachs Witz zu funkeln scheint. Rossini lässt die Gegenwart herein, und das alte lateinische Bekenntnis verträgt sich mit ihr. Und ausgerechnet zum Crucifixus schreibt er der Sopranistin eine Arie, die ein Opernpublikum zur Raserei bringen könnte, ein Liebeslamento mit denkbar einfachster Begleitung. Der Einsatz sanfter Harmoniumakkorde zur schaukelnden Bewegung des Klaviers lässt einem Schauer über den Rücken laufen. Giacomo Meyerbeer, denken wir uns, hat es inzwischen aufgegeben, seine Tränen zu trocknen.

Bach ist Rossini nah, seit sein Schützling Ferdinand Hiller ihm 1855 im Seebad Trouville Klaviermusik des in Frankreich noch kaum bekannten Deutschen vorspielte und ihm riet, die Gesamtausgabe zu subskribieren. Das hat er getan. Mit der h-Moll-Messe begann er. Seither hat sich Rossini jeden weiteren Band aus Leipzig kommen lassen, gerade erst hat er sich für das Wohltemperierte Klavier eingetragen, das 1866 herauskommt. Er scheint es indessen schon zu kennen, denn anders ist jenes Prélude Religieux kaum zu erklären, das Albert Lavignac vor dem Sanctus spielt, hier vielleicht auch einmal die Möglichkeiten seines Amphibiengeräts vorführend: Die einleitenden Akkordschläge als Mischtöne von Saiten und Pfeifen, das folgende Andantino auf einer Orgel, die freilich so nahtlos zwischen kraftvoll und zart moduliert, als spiele Lavignac auf seiner Klarinette.

Auch Rossinis instrumentales Zwischenstück ist ein Hybrid. Es nähert sich in seiner Vierstimmigkeit mitunter Bach´scher Technik bis zur Stilkopie, man könnte an das cis-Moll-Präludium aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers denken, dann ist man wieder im Jahr 1864, doch alles ohne Bruch – so, wie es nur einer schreiben kann, der die Kämpfe hinter sich hat. Nach dem Sanctus, von den Stimmen allein vorgetragen, öffnet Rossini die Privatkapelle seiner Freunde zur Bühne. Das Agnus Dei mit einsamem Mezzosopran und Einwürfen des Chores ist so szenisch, mit solchem suspense aufgebaut, dass wohl nicht nur Meyerbeer die ganz große Ausstattung vor sich sieht – er aber ganz sicher. Es ist, als würde die Grand opéra, das Genre seiner Pariser Triumphe, der irdischen Welt entrückt. Ihre Zeit ist ohnehin fast vorbei.

Er ist danach so aufgelöst und begeistert, dass Rossini sich Sorgen macht. „Armer Meyerbeer!“, sagt er zu Freunden auf dem Heimweg. „Wie ist er empfindlich! So war er schon immer. Potrà la sua salute supportare questi emozioni? Wird seine Gesundheit diese Gefühle aushalten?“ Zur zweiten, offiziellen Aufführung am Montagabend des 14. März 1864 erscheint Gioachino Rossini nicht, aber sein Freund hört die Musik dort noch einmal und schreibt ihm, dem „Jupiter Rossini, divino maestro“, französisch und italienisch mischend, er möge hundert Jahre alt werden, um weitere solcher Meisterwerke zu schaffen, „und Gott gebe mir ein ebensolches Alter, damit ich sie hören und bewundern kann!“ Sechs Wochen später ist Giacomo Meyerbeer gestorben.

Und Albert Lavignac, der Student am Harmonicord? Er spielt auch in zwei Aufführungen im folgenden Jahr mit. Und er versorgt Rossini, den Feinschmecker, in dessen letzten Jahren mit frischen Sardinen. Royans heißen die, sie müssen roh und eisgekühlt verzehrt werden und sind in Paris nicht leicht zu haben. Lavignac hat einen Freund in Bordeaux, der sie beschafft. „Mon bon ami, ma grande clarinette“, sagt der Alte, „bringen Sie sie mir, aber niemals am Samstag.“ Da habe er immer Gäste, von morgens bis abends, er verzehre die royans aber lieber allein, schweigend. Elf für sich, eine für Olympe. So geschieht es, bis Gioachino Rossini am 13. November 1868 stirbt. Lavignac wird bald darauf Lehrer am Conservatoire, der dem blutjungen Claude Debussy das Vom-Blatt-Spiel beibringt. Aber das ist eine andere Geschichte.

 Dieser Text erschien in b-No 7, dem Magazin des Balletts am Rhein, im Oktober 2016 (S. 24-29) und ist urheberrechtlich geschützt.

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