Wenn Ideen an die Sonne wollen

So frei ist ihre Musik und so fein – eine Begegnung mit der großen koreanischen Komponistin Younghi Pagh-Paan zu ihrem 70. Geburtstag.

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Es klingt, als wäre die Flöte, die Querflöte, gerade erst erfunden worden und sofort auf die Höhe der Kunst geraten, so frei ist diese Musik und so fein. Solo, nur dieses Instrument, kein langes Stück, aber ein weiter Raum, den schon der Anfang aufreißt, mit Flatterzunge gespielt, vom Es zum d hochsteigend, aber nicht stufig, eher Töne anfliegend. Später würzige Vollklänge, durchsichtig dichte Strukturen, immer Freiheit. Seit Claude Debussys Syrinx ist nicht so schön, so frei für die Flöte geschrieben worden wie 1975 in Dreisam – Nore. Komponiert von einer, die im wahrsten Sinne unter Atemnot litt.

Der Koreanerin Younghi Pgh-Paan, 30 Jahre alt, hatte es in Deutschland den Atem verschlagen. “Ich bin dreimal auf der Straße hingefallen, weil ich keine Luft mehr bekam”, erinnert sie sich, sie, die man auch jetzt keine “ältere Dame” nennen mag, so funkelt dieses Gesicht mit den runden Wangen und kräftig geschwungenen Augenbrauen unter einer knappen Welle ersilbernder Haare. Zierlich ist sie, aber zerbrechlich nicht. Und es haute sie damals nicht um, weil Freiburg so dreckig gewesen wäre oder zu fremd – auch wenn das “Fremde” und das “Eigene” ein großes Thema für sie ist.

Es war ein Kulturschock anderer Art, der viel zu tun hat mit dem Weg einer Provinzlerin aus Asien, die es sich nicht hätte träumen lassen, als erste Frau in Deutschland eine Professur für Komposition zu bekommen, zu den Großen ihrer Kunst zu zählen, für Donaueschingen, für den Rundfunk, für die Stuttgarter Oper zu schreiben. Und in der Fremde heimisch zu werden. Jetzt, kurz vor ihrem 70. Geburtstag, kann sie gelassen davon erzählen kann sie gelassen davon erzählen mit ihrer kernigen Stimme, am leer geräumten Arbeitstisch im zweiten Stock eines alten Bremer Hauses nicht weit vom Bahnhof, und vielleicht erzählt sie so viel wie noch nie.

Vom Verlust der Heimat, in der sie sich als Komponistin nicht hätte entfalten können und die sie umso mehr in ihren Werken entfaltet, vom Verlust des Vaters, für den schon die Fünfjährige sang und der für sie Bambusflöte spielte. Ein Ingenieur und Brückenbauer in Cheongju, der Provinzstadt, die mitten hineingeriet in den Krieg der beiden Koreas, den China und die USA befeuerten und in dem der Brückenbauer seinen ältesten, den 17-jährigen Sohn verlor. “Kanonenfutter”, sagt Younghi. Von da an sang sie, zweitjüngstes der zehn Kinder, für den Vater, “dass er ein bisschen Freude hat. Das war kein Lalala. Er hat so getrauert und jeden Tag getrunken, und dann war die Leber kaputt.”

Er wurde nur 47 Jahre alt. Da war sie elf, sie hatte “den einzigen Zuhörer verloren”. Younghi hat nie wieder gesungen. Aber viel für Stimmen komponiert, zuletzt In deinem Licht für Sopran, drei Tenöre, Bariton, Bass, uraufgeführt zur Verleihung des diesjährigen Preises der Europäischen Kirchenmusik. Oder das großartige Vide domine zu Texten des koreanischen Katholiken Yang-Eop Choe – auch die Komponistin wurde katholisch getauft – für Solisten und Chor. Nicht eingängig wie die diatonische Sakralmusik von Arvo Pärt, sondern eindringlich in der Intensität der Stimmenbewegungen.

Für den verlorenen Vater sang die Tochter “innerlich, ohne Ton”, und sie lernte Klavierspielen bei einem Schullehrer. Üben konnte sie nur in der Schule, frühmorgens, inoffiziell. “Der Hausmeister hat ein Fenster hochgeschoben, damit ich reinklettern konnte.” Sie lernte Noten lesen und schreiben auf Notenpapier, das ihre größere Schwester mit einem “Rolloprint” für sie anfertigte, sie notierte sich Melodien aus einer Klassiksendung im Radio. “Die US-Soldaten hatten ihre Platten dem Rundfunk geliehen, fast nur Romantik.” So entstand Younghis erste Notenbibliothek. Ein Papierklavier bastelte sie sich auch, zum stummen Üben und zum Ersinnen eigener Melodien.

Mit “Sori” hat sie den internationalen Durchbruch geschafft

“Sich die Klänge vorstellen, das war eine wunderschöne Erfahrung. Da war ich total mit meinem Vater zusammen. Ich hab für ihn gespielt.” Und die Mutter? “Sie musste arbeiten von morgens bis abends, als Näherin, und für sechs Kinder kochen. Sie hatte nie Zeit, auch als ich älter war.” Mit 20 Jahren hörte Younghi in Seoul erstmals ein Orchester live und begann dort, Musik zu studieren, auch Komposition, im Stil der klassischen Moderne, als im Westen schon Ligeti, Stockhausen, Cage, Boulez, Nono große Namen waren. Mit 28 bekam sie ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes.

Das änderte alles, und es begann als Schock. “Meine Kommilitonen an der Musikhochschule in Freiburg waren sieben, acht Jahre jünger als ich, die Generation von Rihm. Sie konnten alle vier bis fünf Sprachen. Sie lasen die französische Musik des Mittelalters, die italienischen Motetten, und Klavier spielten sie auch sehr gut. Ich war einfach nichts, nichts neben der hohen Bildung dieser 20-Jährigen und war doch stolz gewesen, dass ich bis zum Master studiert und mehrere Stücke geschrieben hatte!” Das war der eigentliche Kulturschock, sagt sie. Sie arbeitete wie besessen – und bekam Atemnot.

Endgültig befreit hat sie sich dann mit Man-nam für Klarinette und Streichtrio, “ganz am Ende kommt der koreanische Fluss”. Aber auch schon am Beginn, wo Töne und Linien sanft auftauchen, ist ein Fluss, überall in ihrer Musik, wo Schichten in unterschiedlichen Tempi fließen, und in ihrem Kopf: “Ein Fluss sind meine Gedanken, ein anderer ist die Musik, die ich mir zurückrufe. Wenn ich mir die Klänge der koreanischen Schlagzeuginstrumente vorstelle, rieche ich den Markt am Fluss, Hühner, Kühe, Schweine, Gewürze, Essen. Da gab es auch Spielleute, meistens ein Schlagzeuger und ein Sänger.”

Sie holt eine ihrer berühmtesten Partituren, Sori für großes Orchester, und zeigt mir eine reich mit Schlagzeug besetzte Stelle, spricht den komplexen Rhythmus des Tomtom, “das ist aus südkoreanischer Bauernmusik. Danach entwickle ich Polyrhythmik, Polymetrik, was ich alles in Deutschland gelernt habe.” In diesem Stück, das ihr 1980 den internationalen Durchbruch in Donaueschingen bescherte, damals auch in der ZEIT gerühmt für “differenzierte Klangvorstellung” und “subtile Rhythmik”, geschieht aber nach klar und reich entfaltetem Leben, nach wachsender Spannung etwas Brutales.

Das Orchester rastet aus. Pauken donnern wie Geschütze. Schrille Trillerpfeifen, Fetzen von Marschmusik, Kontrollverlust. Danach nur noch fahle Ruhe in langen Tönen. Krieg? “Ich habe mich dazu nie geäußert, ich wollte es nicht als Programmmusik betitelt haben.” Während Younghi an Sori arbeitete (ein Wort für alles, was klingt, ob Ton oder Geräusch), konnte sie im deutschen Fernsehen den Bericht eines ZDF-Teams aus Kwangju in Südwestkorea sehen. Dort stoppte das Militär der Diktatur die gewaltige Demokratiebewegung mit einem Massaker, bei dem wohl über 2.000 Menschen starben.

“Ich habe meine Ideen geändert, während ich schon komponierte”, sagt sie. Die zwei aleatorischen, dem Zufall überlassenen Takte, in denen der Klang explodiert, dauern eine grauenhafte Ewigkeit. Es will etwas heißen, wenn diese Komponistin mitten im Schreiben ihre Ideen ändert, denn die reifen lange, ehe sie “endlich in den Sonnenschein rauskommen wollen”, wie sie sagt. Sie zeigt auf die Notizbücher im Regal unter einer Madonna mit Kind, Reproduktion einer Skizze von da Vinci. “Da schreibe ich meine Gedanken rein, die haben mit Musik noch gar nichts zu tun.” Irgendwann sind manche reif.

“Zuerst mache ich eine Form, Gefäße für meine Musik. Diese Form zeichne ich, Zeitarchitektin bin ich dann.” So hört sie bald das ganze Stück, “wie das ungefähr geht”, skizziert es und probiert es am Klavier aus. Dann geht es um den bestimmten Klang, mit der “Angst, in eine unsichere Klangwelt reinzugehen”, und wenn sie drin ist, wird es dramatisch: “Diese werdende Musik ist ein so eifersüchtiges Lebewesen, dass sie mich nicht einmal als Mensch akzeptiert. Ich bin ihr dann total untertan. Sie frisst mich. Aber ich gebe mich gern.”

Ich will immer für jemanden schreiben, l’art pour l’art kann ich nicht”

Noch immer wird sie gefragt, wie das denn ist, wenn zwei Komponisten zusammenleben wie sie und der Schweizer Klaus Huber, der an ihrem Geburtstag auch seinen feiert, den 91., und sich nach unserem Gespräch heiter vergewissert, dass sie nur Gutes über ihn erzählt hat. Aber ja! Er war einst in Freiburg ihr Professor für Komposition, aber: “Er dominierte mich nie. Sonst wäre ich weggegangen.” In Bremen wie in Panicale, ihrem Sommerhaus am Lago Trasimeno, haben sie jeder eine Etage für sich, und einen Flügel. Was verblüfft, da beider Musik über die temperierte Stimmung des Klaviers weit hinausgeht. “Ich brauche das Klavier als Schatten. Das bringt mir Klänge rüber.”

Wenn sie überlegt, was sich in den 40 Jahren seit ihrer Selbstheilung mit einem Stück für Querflöte, in 70 Werken seither, geändert hat, kommt sie wieder auf Korea. “Ich brauche nicht mehr so viele Schlagzeuger wie in Sori, diese Heimatklänge, dass es in mir rumpelt, um die Heimat zu bewahren. Das Problem mit dem Eigenen und dem Fremden habe ich in mir gelöst. Wenn ich jetzt in Korea bin, fühlt sich meine Heimat fremd an. Deutschland ist immer noch mein fremdes Land, aber hier in Bremen bin ich heimisch. Es sind die Menschen, die dieses Gefühl machen.” Sie weiß aber, dass derzeit keineswegs alle Deutschen denjenigen, die kommen, dieses Gefühl vermitteln.

“Ich habe jetzt mit Io zu tun. Sie ist in der antiken Literatur der erste … Flüchtling, dieses Wort kann ich gar nicht sagen. Schutzflehende Person. Ihr Vater hat sie rausgeschmissen, weil Zeus sie als Geliebte will, und Hera, die Frau von Zeus, hat sie in eine Kuh verwandelt.” So wandert Io über die Erde bis nach Ägypten, wo sie wieder zur Frau wird, Zeus einen Sohn gebärt und zur Fruchtbarkeitsgöttin wird. Io ist jetzt der Mensch, mit dem Younghi “innerlich immer im Gespräch” ist. “Ich möchte immer für jemanden schreiben, wie jetzt für Io, l’art pour l’art kann ich nicht.”

Der erste Deutsche übrigens, den sie aufsuchte nach ihrer Ankunft aus Korea, war einer in Bonn. “Ich habe die Tasche in Freiburg gelassen und bin sofort dahingefahren, ins Beethovenhaus. Bis heute habe ich seine Korrekturen vor Augen. Keine sauber geschriebene Seite, die Töne noch mal und noch mal durchgestrichen!” Das hat sie sehr ermutigt, und der “kleinen Younghi”, wie sie sich manchmal lachend nennt, die Angst vor dem weißen Blatt genommen. Die Musik all der Meister vieler Länder, die über Jahrhunderte voneinander lernen, ist auch eine Heimat, in der die große Younghi gelassen sagt: “Ich weiß, was ich tue.”

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien in der ZEIT vom 19. November 2015 und ist auch bei ZEIT online zugänglich.