Helle Nacht der wirren Herzen

Was die Mittsommernacht an den Tag bringt, fasziniert Schriftsteller seit Jahrhunderten – von William Shakespeare bis Henning Mankell

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Der große Tag rückt näher. „Die Sonne tauchte kaum die Scheibe ins Meer und kam dann wieder empor, rot, erneuert, als sei sie unten gewesen und habe getrunken.“ So sieht es Glahn, der einsame Jäger an Norwegens Küste. Bald wird nördlich des Polarkreises die Sonne das Wasser gar nicht mehr berühren. Dann ist Mittsommernacht, dann feiern die Skandinavier ein Fest, das noch wichtiger als Ostern ist, dann ist die Natur so mächtig, dass sie die Menschen überwältigt.

„Pan“ hat Knut Hamsun seinen Roman um den einsamen Jäger genannt, nach dem halbtierischen, gehörnten Mittagsgott. Pan kann die Herzen aufreißen zur Liebe, bis sie in Flammen stehen wie die Sonne selbst. Und so geschieht es auch. Nicht nur in Hamsuns Buch von 1894, das damals zum Evangelium der Neuromantik wurde, sondern auch schon 400 Jahre zuvor. Pan heißt dort Oberon und ist Elfenkönig. In der Mittsommernacht sorgt er dafür, dass Menschen wie Götter vollends durcheinanderkommen. Er verzaubert seine eigene Gemahlin Titania, auf die er eifersüchtig ist, und sorgt dafür, dass sie sich in einen Mann mit Eselskopf verliebt – den ebenfalls verzauberten Handwerker Zettel. Zwar geht am Ende alles gut aus in William Shakespeares Komödie „A Midsummernight´s Dream“, doch das ist keineswegs die Regel in den vielen Texten, Filmen, Romanen rund um den längsten Tag.

Der eselsköpfige Handwerker ist gleichsam die Karikatur des behörnten Pan, der unfreiwillige Stellvertreter Oberons, und Zettels Kopf verweist auf das Tier im Menschen – die Triebe hinter der Liebe, die in der sonnenhellen Ausnahmenacht ausbrechen. Kein Wunder, dass der Termin in abergläubischen Traditionen verschärft der Eheanbahnung gilt, kein Wunder auch, dass schon der früheste Text zum Thema die Tugend beschwört: Da singen „die junge Töchter / auff anweisung ihrer Mütter / was für große schändliche Sünde die Männer begehen und uben“, heißt es im frühen 16. Jahrhundert in der Beschreibung der Mittsommernacht, die der schwedische Priester Olaus Magnus verfasste.

Da war dieser Tag vom heidnischen Feiertag schon zum christlichen erklärt worden: So wie aus den Feiern zur Wintersonnenwende der Geburtstag Jesu wurde, so installierte man zur Sommersonnenwende dessen Täufer Johannes. Genaugenommen drei Tage zu spät – schließlich erreicht die Sonne ihre größte „südliche Deklination“ schon am 21. Juni. Gefeiert wird aber die Nacht zum 24. Juni. Das kann an der Ungenauigkeit frühester Observatorien wie Stonehenge liegen oder an den Kalenderreformen des Mittelalters. In Schweden ist der Feiertag inzwischen beweglich. Er fällt dort immer auf einen Freitag.

Für manche ist es ein bitterer Tag. Ausweglose Leere erlebt der Junge in Stig Dagermans genial karger Erzählung „Die Kälte der Mittsommernacht ist hart“ von 1947. Auch Glahn leidet, der Verliebte, und zwar nicht nur bei Hamsun. Seinem Widergänger geht es ebenfalls schlecht, dem Glahn in Knut Faltbakkens Roman „Pan in Oslo“ von 1976. Er haust nicht im Wald, sondern in der Stadt, aber wie sein Vorbild liebt er eine blutjunge Edvarda, deren Unberechenbarkeit ihn in den Wahnsinn treibt. Während das Johannisfeuer lodert, verliert er sie an ihren Nachhilfelehrer…

In Skandinavien gibt es geradezu eine literarische Tradition der erotisch-katastrophischen Mittsommernacht. Sie beginnt spätestens mit August Strindbergs Einakter „Fräulein Julie“ von 1888. Als die vom Fest animierte Grafentochter Julie ihrem Diener ihre Zuneigung gesteht, nutzt er die Gelegenheit, sie zu demütigen.

Mit einer Demütigung endet das Fest auch für die Heldin in Elsie Johannssons „Mittsommertanz“ von 1998, dem wunderbar offen, lebendig und wahrhaftig erzählten Roman eines Dorfmädchens in den frühen 1940er Jahren. Und tödlich wird es in Kerstin Ekmans „Geschehnisse am Wasser“. Mit diesem Roman gelang Ekman 1993 ihr Durchbruch, aber wer vorhat, in Schweden Campingurlaub zu machen, sollte ihn erst danach lesen: Das Liebespaar, das da an der Küste zeltet, überlebt die Nacht ebensowenig wie die drei jungen Leute, die sich in Henning Mankells Spannungsschwarte „Mittsommermord“ (1997) zum Feiern treffen. Das Buch wird derzeit [2006] schon zum zweiten Mal verfilmt.

Dem Kino liegt aber schon seit längerem am Thema. Shakespeares Komödie wurde viermal verfilmt, und Woody Allen machte seine „Midsummer Night´s Sex Comedy“ daraus. Berühmt wurden zwei frühe schwedische Filme über die Erotik der hellen Nacht: 1951 enthüllte sich Ulla Jacobsson kurz in „Sie tanzte nur einen Sommer“, und der Erfolg dieser Szene wurde erst zehn Jahre später übertroffen durch die Nacktbadenden in „Engel, gibt´s die?“ Jugendfrei, aber folgenreich waren kurz darauf Filmdrehbücher von Astrid Lindgren, aus denen sie 1964 ihren Roman „Ferien auf Saltkrokan“ machte. „Die Nacht war keine Nacht“, notiert da Malin in ihr Tagebuch, „sondern nur eine kleine Dämmerung, die den Versuch machte, Nacht zu werden.“ Während der lästige Junge neben ihr unbedingt flirten will…

Während Lindgren das schrieb, verwandelte nördlich von Celle ein Autor seine Zettelsammlung in einen Klotz von Buch, das auch auf eine Mittsommernacht zurückgeht. Keine skandinavische, sondern die von Shakespeare. Sie wird gleich anfangs zitiert: „Ich habe ein äußerst rares Gesicht gehabt. Ich hatt´nen Traum – s´geht über Menschenwitz, zu sagen, was es für ein Traum war…“ Es ist Zettel, der da spricht, entzaubert nach seinem eselsköpfigen Liebeslager mit Titania. Dann aber beginnt, „mittsommertäglich=dräumlinkisch“, erotischer wie sprachlicher Wirrnisse voll, „Zettel´s Traum“ von Arno Schmidt, mit 1334 Din-A-3-Seiten Typoskript die längste Komödie der Welt…

Ein bisschen Shakespeare schimmert auch durch Uwe Timms leichten Roman „Johannisnacht“, in diesem Fall die des Jahres 1996. Während in Berlin der Reichstag verhüllt wird, sucht ein Alt-68er das Abenteuer. Doch als es ihm zur Mittsommernacht in einer Disco auf die Pelle rückt, wird ihm mulmig. Er ist nämlich nicht sicher, ob die junge Frau nicht doch ein Mann ist – und geht erst mal Currywurst essen. Was vom Großstadtzauber bleibt, sind die grünen Strähnen, die ein puckhafter Hairstylist dem alternden Helden verpasst hat. Kurz, die Sonnenwende hat immer ihre Tücken. In jedem Fall hilft aber das Mittsommernachtslied unserer Nachbarn: „Du danske sommer, jeg elsker dig… Du dänischer Sommer, ich liebe dich, obwohl du mich so oft enttäuscht hast…“

Dieser Text ist urheberechtlich geschützt. Er erschien 2006 am 21. Juni im Tagesspiegel, am 22. Juni in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und am 24. Juni in der Stuttgarter Zeitung. Für die Edition auf dieser Website wurde eine kleine Korrektur betr. “Saltkrokan” vorgenommen. Foto vom Sonnenuntergang hinter Stonehenge: CCBY-SA, commons.wikimedia.org