“Verwundbar zu sein gehört auch dazu”

Aus Albanien in die Opernwelt: Ein Treffen mit der Sopranistin Ermonela Jaho, die in Zürich die Magda in Giacomo Puccinis “La rondine” singt

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Sie trinkt ihren Espresso ohne Zucker, das Guetzli bleibt liegen, das Wasserglas bleibt lange voll, trotz der Augusthitze im Wintergarten des Café Sphères,es gibt einfach zu viel zu erzählen. Ich muss nicht mal erklären, was das für eine Porträtreihe ist, für die wir uns hier treffen, nachdem sie, Ermonela Jaho, heute schon sechs Stunden Probe hinter sich hat und ich neun Stunden reiste, dank der üblichen „Störungen im Betriebsablauf“ der Deutschen Bahn, von denen die Sängerin erstmals hört, überrascht: „Aber in Deutschland ist man doch so pünktlich!“ „Das ist dreißig Jahre her.“ Sie klopft mir amüsiert tröstend auf den Arm. Ob man vor dreißig Jahren in Deutschland oder in Albanien lebte, das ist ein himmelweiter Unterschied. Und was Ermonela als Kind und Teenager erlebte, das spielt, wie sich herausstellen wird, bis heute eine große Rolle.

Auch für ihre Gestaltung der Magda in Giacomo Puccinis La rondine, über die wir zuerst sprechen, denn bis eben hat sie auf der Probebühne an dem Stück gearbeitet. Magda gelingt gerade das nicht, was Ermonela einst schaffte, gegen beträchtliche Widerstände einen Traum realisieren. „In dieser Oper stirbt keiner“, meint sie, „aber es ist trotzdem dramatisch. Wenn du stirbst, ist das Leben vorbei“, sie klatscht kurz in die Hände wie eine Lehrerin, die „Schluss für heute!“ ruft, „aber leben mit einem Traum, der nie wahr wird, mit diesem Schmerz, das ist dramatischer, als nur zu sterben.“ Magda komme aus der demi-monde wie Violetta in La traviata, der junge Mann, den sie liebt, aus solider Familie, „und vielleicht kommt er auch nicht im richtigen Moment…“

Sie liebt es, wie der Regisseur Christof Loy arbeitet, „an allen Details, allen Personen. Jeder hat seine eigenen Gedanken, seine eigene Art, ans Leben heranzugehen, das ist in unserer Rondine auch so, nicht nur mit den Solistinnen und Solisten, auch mit der Tanztruppe und dem Chor. Es ist irgendwie eine Reise, die wir erleben hinter der Geschichte von Magda und Ruggero, eine Lebensreise. Ich bin ja seit dreißig Jahren unterwegs auf den Bühnen, ich will nicht sagen im world business, aber es passiert nicht so oft, dass ein Regisseur auf diese Weise Leben auf die Bühne bringt.“ Von world business dürfte sie durchaus reden, sie singt, in New York lebend, an den großen Häusern der Welt, und für Arte entstand sogar ein Film über sie und ihre Kolleginnen Barbara Hannigan und Asmik Grigorian, Fuoco sacro, eine Suche nach dem „heiligen Feuer des Gesangs“.

Man könnte auch einfach von Wahrhaftigkeit sprechen, von der Identität von Leben und Kunst, die auf der Bühne gelingen kann, und keineswegs, sagt Ermonela, auf der Bühne allein: „Theater ist eine direkte Verbindung vom Herzen des Künstlers zu dem des Publikums. Verwundbar zu sein gehört auch dazu. Du kannst einem schönen Klang lauschen, fünf Minuten, zehn Minuten. Okay, schön, aber passiert da noch etwas? Die Menschheit existiert noch, weil es den Austausch von Gefühlen gibt, und Oper ist das in groß.“ Ihre Stimme, ihre Mimik ändert sich bei diesen Worten, als stünde sie schon wieder auf der Bühne, überhaupt sind ihr schmales Gesicht, die Melodien und die Farben ihres Sprechens immer eins mit dem, was sie sagt. Mitunter könnte man sie fast ohne Worte verstehen – was auch im Getöse des Cafés sehr hilfreich ist.

Dunkler und schattiger klingt sie, als sie von dem Erlebnis spricht, das sie überhaupt zur Oper brachte, La traviata im Tirana des Jahres 1988, als Ermonela vierzehn Jahre alt war, in der Dämmerung des kommunistischen Regimes, das Albanien vom Rest der Welt isoliert hatte. „Ich wusste nichts über diese Oper, es war meine erste. Da war etwas, das mich so sehr berührte. Violetta, das ist eine gefolterte Seele, a tortured soul. Und wir, in Albanien geboren, haben all die Tragödien des Balkans im Blut. Kinder sind wie ein Schwamm, sie saugen alles auf. Es ist wie ein Archiv. Jeder Mensch hat das und weiß es nicht.“ Das wurde ihr erst später klar. Damals erklärte sie dem älteren Bruder, mit dem sie in die Oper gegangen war: „Ich werde Opernsängerin und ich werde nicht sterben, ohne einmal im Leben Violetta gesungen zu haben.“

Das wäre auch für ein Mädchen unter bequemeren Bedingungen eine kühne Ansage. Ermonela blieb ihr treu, studierte nach dem Zusammenbruch des Regimes Gesang am Konservatorium in Tirana und wurde dort von der Person entdeckt, ohne die es in kaum einer Sängerkarriere geht, die den entscheidenden Schritt ermöglicht. Katia Ricciarelli, italienische Sängerin, die einen Meisterkurs gab, lud sie nach Mantua ein. „Aber es war wirklich hart für mich, 1993 aus Albanien nach Italien zu kommen.“ Zehntausende Albaner waren über das Meer nach Italien geflohen und dort nicht gerade willkommen, „und jeder dort sah mich mit diesem Blick, obwohl ich dabei war, meinen Traum zu realisieren. Warum bin ich kein deutscher oder italienischer Teenager, fragte ich mich, warum muss ich leiden? Meine Therapie war es zu singen.“

Den Lebensunterhalt ihrer Ausbildung, zuerst in Mantua, dann in Rom, verdiente sie mit Babysitten und Gelegenheitsjobs. „Meinen Eltern habe ich immer gesagt, alles ist prima, ich wollte ihnen Sorgen ersparen. Sie hatten mir eine Erziehung gegeben und mich unterstützt, nun war es an mir, zu kämpfen. Wenn man aus Ländern mit solchen Schwierigkeiten wie Albanien kommt, ist das die positive Seite: Du siehst immer, wie du kämpfen musst, um dich durchzusetzen. Es gab auch Momente, in denen ich dachte, ich höre auf, jetzt reicht´s. Aber wenn ich zwei Tage lang nicht sang, merkte ich, das ist mehr als nur Karriere. Meine Seele braucht das. So machte ich weiter und weiter.“

So lange, bis sie bei einem Wettbewerb auf einer Bühne ihre „Balkan side“ ausspielen konnte, wie sie das nennt. Das ungefiltert Dramatische. „Ich bin auf der Bühne wie ein Tier, das aus dem Käfig kommt“, sagt sie und lacht, „im Leben bin ich viel kontrollierter.“ Mit 26 Jahren hatte sie in Bologna ihr erstes professionelles Engagement als Mimi in La bohème, und von da an ging es so steil aufwärts, dass sie 2008 in London für die erkrankte Anna Netrebko einsprang und triumphierte – in der Rolle ihres frühen Traums, der Violetta. Es ist sozusagen die Rolle ihres Lebens, sie ist inzwischen 310 Mal in Alfredos Armen gestorben, „aber ich bin nicht immer dieselbe Person. Ich habe in mir bestimmte Seiten entdeckt, die ich mit 20 Jahren nicht kannte.“ Als sie dachte, jetzt gäbe es für diese Rolle doch nichts mehr zu entdecken, nach ihrer Violetta an der MET im Januar, da brachte ein junger italienischer Dirigent sie auf neue Ideen, Francesco Ciampa vom Teatro Massimo in Palermo. „Ich fühlte mich, als hätte ich das noch nie gesungen! Aber jetzt werde ich mit Violetta aufhören.“

Was bleibt, ist die Erfahrung von Leiden, die sie zuerst in dieser Gestalt gebündelt fand. Ermenola ist überzeugt, dass sie vor allem deswegen etwas zu sagen hat auf der Bühne, weil sie selbst gelitten hat. „Für mich muss ein Künstler ein kleines Trauma haben. Wir lernen aus Schmerz, und Schmerz verbindet, aber das heißt nicht, dass der Künstler traurig sein muss.“ Auf die Idee käme man bei ihr ohnehin nicht, so aprilhaft wechseln Wolken und Sonne in ihrem Gesicht, so witzig führt sie vor, warum schöner Klang auch mal auf der Strecke bleiben muss. „Wenn im Drama geweint wird, kann ich nicht sagen, oh, lasst uns das schön machen“ – sie sagt das mit süß flötender Stimme und tut, als blicke sie verklärt. „Wenn du weinst, weinst du. Das ist keine Schande. Du musst es wagen, das Publikum mag das.“ Ein Vorbild bis heute ist für sie Maria Callas, „weil sie so viel am Gefühl arbeitet. Natürlich musst du deine Hausaufgaben in der Technik machen, ohne die kann man nichts ausdrücken. Es geht darum, der Stimme die Farben der Seele der Rolle zu geben, die du singst. Und keine Angst haben, sich verletzlich zu zeigen.“ Noch weniger Angst davor hat sie seit Covid. „Wir Künstler sahen, dass wir nicht mehr existierten. Du weißt nicht, was morgen passiert. Seitdem gehe ich  immer auf die Bühne, als wäre es die letzte Aufführung, das ist eine Art Befreiung, und ich weiß dann, ich habe 100 Prozent gegeben, mit all meinen Stärken und Schwächen. Like it or dislike it, but it was honest.“

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und erschien im MAG 104 der Oper Zürich, September 2023. Das Szenenfoto mit Ermonela Jaho und Benjamin Bernheim machte Admill Kuyler.