23. Dezember 2024

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Sie ist neben Astrid Lindgren wohl eine der beliebtesten Autorinnen von Büchern für alle Generationen, und dazu noch Zeichnerin: Judith Kerrs erstes Bilderbuch “The Tiger Who Came to Tea” (1968) machte sie im UK bis heute fast noch berühmter als das Buch “When Hitler Stole Pink Rabbit”, “Als Hitler das rosa Kaninchen stahl” (1971). Noch vor dem Kaninchen brachte Judy (wie sie von ihren Eltern Julia und Alfred Kerr und ihrem Bruder Michael genannt wurde) die Bilderbuchkatze Mog auf den Weg, von der oben ein bisschen was zu sehen ist. Die Dame links im Screenshot ist die Autorin im Alter von 92 Jahren.

Sie trat selbst kurz auf im Weihnachtswerbefilm des Supermarkts Salebury´s, der nach einer Geschichte von ihr gedreht und animiert wurde: Mog´s Christmas Calamity. Mogs Weihnachtsnöte von 2015 wurden auf Youtube bis heute 43 Millionen Mal gesehen. Der Plot in Kürze: Zuerst geht alles sehr schief, dann geht alles sehr gut. Ich selbst entdeckte diesen Kurzfilm erst jetzt, sozusagen als Beifang von Recherchen zur Mutter von Judith, Julia Kerr, die als Komponistin im Exil verstummte. Gar nicht wenig über sie erfährt man in den drei autobiografischen Romanen ihrer Tochter – dem “Kaninchen” folgten noch “Warten, bis der Frieden kommt” und “Eine Art Familientreffen” (im Original “The Other Way Round” und “A Small Person Far Away”).

Alle drei Bücher sind aus der Perspektive von Anna geschrieben, die zu Beginn des ersten Romans neun Jahre alt ist und im dritten Roman als 33-jährige die Stadt wiedersieht, aus der ihre Familie vor den Nazis floh – Berlin. Die Art der Wahrnehmung, auch die Sprache wandelt sich mit jedem Buch, und doch ist es immer unverwechselbar Judith Kerr, die da erzählt – in dritter Person -, sehr plastisch, mit einer sanften Wärme des Tons, die Trauer, Verzweiflung und gelegentlichen Sarkasmus nicht ausschließt, nichts beschönigt und nichts beschweigt.

Das alles ohne einen Hauch Didaktik einerseits und angestrengte Literarizität andererseits, unauffällig gut komponiert, kurz: so gut, dass es mich erstaunt, Judith Kerr in der hannoverschen Unibibliothek nur im “Fachbereich Erziehungswissenschaften” zu finden und nicht bei der Literatur, bei den “richtigen” Autoren, von denen sehr viele nicht annähernd so viel Klarheit, Persönlichkeit und Welt verbinden wie sie, die als “Kinder- und Jugendbuchautorin” rubriziert wird.

Kerrs “Eine Art Familientreffen” ist eines meiner drei Bücher dieses Jahres, nämlich solche, bei denen ich bedauerte, dass sie nicht noch mindestens 50 Seiten länger sind (auch wenn sie so genau richtig sind). Und die anderen beiden? Ein Solitär der (nicht nur) italienischen Literatur ist Beppe Fenoglios “Eine Privatsache” (“Una questione privata”, 1963), eine Erzählung von Liebe und Krieg im Italien des Jahres 1943, zuletzt bei Wagenbach erschienen, wimmelnd von Druck- und Satzfehlern, dafür mit einem exzellenten Nachwort von Francesca Melandri.

Eines der besten Bücher zum Thema Exil ist “Hölle und Paradies” von Bettina Baltschev, “Amsterdam, Querido und die deutsche Exilliteratur”. Das klingt etwas nach Dissertationsthema, ist aber eine so eingehende wie persönliche Spurensuche, die das Amsterdam von 1933 bis nach 1940 mit dem von heute verbindet. Präzise, klug, ruhig geschrieben, mit dezenter Emphase, voller Entdeckungen. Man möchte gleich losfahren zur Keizersgracht 333, wo Emanuel Querido so vieles verlegte, was in Deutschland verboten war. Das Buch erschien zuerst 2016 bei Berenberg und wurde 2024 neu aufgelegt.

Noch etwas Musik zum Jahresende: Für das Magazin der Elbphilharmonie ging ich dem Thema “Spielen” nach, von der Improvisation bis zur Aleatorik, von der »freyen Fantasie« bis zum Toy Piano. Passend zum Thema verlinke ich hier auf eine der wunderbaren Impros von Markus Becker, die “Butterfahrt“. Und als Rausschmeißer für heute noch die unüberbietbar krasseste und schrillste Interpretation der Habanera aus “Carmen”… gefunden im jüngsten VAN.