Kategorie-Archiv: Kolumne

Warum immer nur die Saurier überleben

Ohje, die Zeitungen! Stapel von Zeitungen aus Tagen und Wochen, und morgen ist der Tag der Grünen Tonne. Was jetzt nicht wegkommt vom Altpapier, wächst weiter, und damit das schlechte Gewissen. Die Stapel entstanden ja nicht, weil ich zu faul wäre, alle paar Tage die Zeitungen wegzuwerfen, sondern aus Respekt vor dem Fleiß, der in ihnen steckt. Was da alles konzipiert, recherchiert, formuliert, redigiert wurde, welche Kämpfe hinter überraschenden Themen stecken, die es am Mainstream vorbei ins Blatt geschafft haben. Und was ich alles nicht weiß, aber vermutlich wissen sollte!

Aber ich komme morgens für maximal zehn Minuten zum Lesen und Querlesen, zwischendurch auch mal und abends. Das reicht, selbst beim Übergehen von Sportteil und Stellenangeboten, bei weitem nicht. Sieben klitzekleine Urlaubstage haben für weitere zwölf Zentimeter gesorgt. Das einzige, was ich immer sofort zum Aufheben beiseite lege, sind Nachrichten über den Kosmos und die Prähistorie, und wegen Frido alles über Saurier. Den Rest versuche ich in Abständen in diagonaler Schnelllektüre zu erfassen, und immer seltener gelingt es. Dann wandern wieder zehn Ausschnitte in die Schublade.

Man könnte das in digitalen Zeiten für idiotisch halten. Aber es ist ein großer Unterschied, ob man nach einem Stichwort sucht oder auf ein Thema gestoßen wird, nicht selten, zugegeben, durch ein geschickt gewähltes Foto zum Text, dessen Layout zugleich den Stellenwert signalisiert, den eine Redaktion ihm einräumt. Und schließlich bin ich kein digital native, sondern analog konditioniert, und werde nie vergessen, wie fassungslos ich war, als ich zum ersten Mal schwarz auf weiß gedruckt etwas in der Zeitung las, das ich selbst geschrieben hatte – einen ganzen Tag hatte ich da an 50 Zeilen gefeilt.

Gestern musste ich wieder etwas fertigkriegen, im ICE. Der Zug war rappelvoll, bis auf einen Tisch im Speisewagen. Der bot Platz für vier und war vollständig bedeckt von – Zeitungen. Da saß ein Mann Mitte vierzig und tat genau das, wozu ich nicht komme. Er wertete Zeitungen aus. Einen ganzen Stapel, aus dem schon eine beachtliche Kollektion von Ausschnitten entstanden war. „Ist hier noch ein Platz frei?“ fragte ich. Er blickte auf, wortlos. „Sie sehen doch wohl, dass hier überhaupt kein Platz frei ist“, las ich in seinem Blick, während er widerstrebend ein paar Zeitungen zur Seite schob. „Vielen Dank“, ich setzte mich.

Dass ich dann mein monumentales schwarzes Laptop Marke „Star Wars“ aufklappte, entspannte die Lage nicht. Verbissen beugte er sich über das Papier. Ehe er Artikel ausschnitt, markierte er wichtige Sätze mit Rosa, dann falzte er das Blatt mit Hilfe eines Zollstocks (vielleicht maß er damit auch die Artikellängen) und riss die Artikel sauber heraus. Ich überlegte nicht, was er mit einem Text von mir tun würde. Ich dachte nur, irgendwie ist diese Aufheberei doch etwas schrullig. Und so habe ich heute fünf Kilo Zeitungen unausgewertet in die Grüne Tonne plumpsen lassen. Horribile dictu: Es war ein gutes Gefühl.

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Letzter Aufruf im späteren Licht

Ein Flughafen in der Abendsonne kann etwas Mildes, Dahingehendes haben, gerade ein sehr großer, von dem man doch annimmt, dass er niemals ruht, dass ohne Unterlass die Schritte zwischen den Gates klackern und stapfen und die Koffer rollen und die Laufbänder. Aber es gibt diese Stunde zwischen sieben und acht, zwischen den Gates 12 und 13. Auf einmal klingt das Lachen einer kleinen Gruppe wie auf dem Dorf, wo so etwas auffällt, Konturen in die Stille werfend, und man vernimmt, wie das Laufband anhält, weil niemand kommt.

Und dabei ist es noch hell, die Sonne steht golden im Nordwesten, „Achtung, dringender und letzter Aufruf für… wir möchten Ihren Flug schließen.“ Wann wird hier der letzte aller Flüge geschlossen? Auf solche Ideen kommt man ganz schmerzfrei bei Sonnenuntergang. Denn irgendwann wird dieser riesige Flughafen ja nicht mehr gebraucht werden. Es wird andere Möglichkeiten des Reisens geben oder viel weniger, es ist gewiss, denke ich, dass diese gewaltigen Hallen verfallen oder umgenutzt sein werden, übermorgen in 200 Jahren.

Die Kathedralen des Mittelalters werden noch immer stehen und noch immer wird man darin beten; es fällt doch auf, wie gut sich ausgerechnet jene Bauten halten, die metaphysischen Zwecken gewidmet sind. Ich finde es nicht hilfreich zu überlegen, was in 200 Jahren sein kann, ich weiß nur, dass das keine sehr lange Zeitspanne ist. Balzac, schrieb der nicht neulich erst „Verlorene Illusionen“ und schilderte eine moderne Druckerpresse? So genau, als wolle er dem herablassenden Blick der Späteren seine Realität entgegensetzen.

Während das Licht immer orangefarbener wird und die lachende Gruppe verschwunden ist, finde ich es reizvoll, den Blick der Späteren, auch wenn ich ihre Umstände nicht kenne, selbst anzunehmen, nicht herablassend, sondern staunend. Was ist das da für ein verglaster Raum, auf dessen Scheiben der Umriss eines Dromedars zu erkennen ist und darunter die Zeile „Smoking can kill“? Das hätte man noch im 20. Jahrhundert nicht gewusst. Aber vielleicht wird man irgendwann nicht mehr begreifen, was das überhaupt war: „Smoking“.

Was sind das für Frauen, die gleichartige Kostüme tragen und gleichartiges Lächeln und schwarze knappe Schuhe mit hohen Absätzen, die so auffallend gepflegt aussehen und sich anders bewegen als die anderen Menschen, obwohl auch sie Rollkoffer hinter sich herziehen? Was heißt „Travel Value and Duty Free“? Späterer, dort bekommt man, was zum „Smoking“ gebraucht wird, in Hülle und Fülle. Aber man darf es nur in der Glaskabine verwenden? Ist es Teil eines Ritus? Ja, ich glaube schon. Und das da, diese Stapel von… Papier?

Zeitungen. Es gibt noch Zeitungen, aber immer mehr werden verschenkt, wie hier, um die Auflage hoch zu halten. „Bootsunglück – EU sieht keine Mitschuld“, „Terror erschüttert Saudi-Arabien“, „Ägypten feiert neuen Suezkanal“, „Griechenland-Hilfspaket könnte sich verzögern“, „Innenministerium wusste früh von Ermittlungen“. Das ist alles noch ganz frisch, jeder, der es lesen kann, weiß, worum es geht. Man könnte Wetten abschließen, ab wann welche Überschrift erklärungsbedürftig ist.

Besonders dankbar sind die Späteren immer für Hinweise auf das Wetter, auf den Tag genau. Da sind die Epochen wie Nachbarn am Zaun, unter den Wolken rücken sie zusammen. Also, als Höchsttemperatur für diesen Tag waren 38 Grad angekündigt, und überwiegend werde die Sonne scheinen, am 7.8.2015 in Deutschland. Das traf zu. Jetzt ist sie untergegangen, und auf einmal ist wieder Hochbetrieb, die Schritte klackern und stapfen, und ich muss vorm Boarding schnell noch eine rauchen. Wieso? Das, Späterer, erklär ich dir später…

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200 und 900 Meter über dem Meer

Eigentlich weiß man ja, wie es geht. Für die Ferien nicht einfach ein Hotel buchen, schon gar nicht für mehrere Tage, ohne mit Google Earth mal ganz nah ranzugehen, es sei denn, man kennt es. Das erste Hotel kannte ich. Eine palastartige Villa am Comer See, an den Gartenterrassen herunterführen, bis zu einer Mauer mit einem alten Tor, hinter dessen Stäben das Wasser schwappt, während ein Oleanderbaum Schatten spendet. So war es einst, so ist es immer noch, nur dass ein Renaissancesaal fürs Frühstück restauriert wurde.

Das zweite Hotel kannte ich nicht. Wir hatten es auf den letzten Drücker im Netz gefunden, es sah nett aus, alt und gelb im Grünen oberhalb desselben Sees, halb so teuer. Nun ja. Oberhalb des Sees bedeutet, dass man vom Ufer 40 Minuten lang steil in ein Alpental hochkurvt, auf immer schmaleren Straßen durch grüne Wiesen, an denen nur Baracken stehen. Irgendwann wird die Straße einspurig, ohne Randstreifen, dann erheben sich links und rechts zwei verfallene Säulen mit verfallenen Löwen, danach wird der Weg sogar noch schmaler.

Paul schlief, Frido fand es spannend, ihre Mama war am Steuer blaß geworden und erwähnte das Desaster von 2009. Diesmal war freilich nicht mit einer Lage zwischen Autobahn und Eisenbahn und Wespennestern zu rechnen, nur mit totaler Abgeschnittenheit in einem Kranz von Alpenhöhen. Ein hagridartiger Gärtner kam uns entgegen, mit Riesentrimmer und Schutzmaske. Als nächsten sahen wir einen dösenden Mann im Liegestuhl im hohen Gras vor einem tatsächlich alten, gelben, schmalen und seit 1970 nicht renovierten Bau.

Das Hotel lag fabelhaft an sanften Hängen mit uralten Eichen in alpiner Totenstille unter der Sonne. Außer dem dösenden Mann waren wir die einzigen Gäste einer melancholisch lächelnden jungen Frau, die hier mitsamt ihrer Tochter irgendwann gestrandet war. Alles, Hotel und Menschen und Interieur, hätte man sofort in einen Alpenpsychokrimi übernehmen können, der hätte sich hier in drei Tagen von selbst geschrieben, vielleicht hatte er bereits begonnen. Es fühlte sich so an. Paul schlief noch immer im Auto. Frido fand es toll.

Wir hätten sogar Seeblick gehabt, auf einen winzig kleinen Auschnitt, aber nur im Winter, jetzt begrenzten Baumblätter den Blick aus dem Zimmer, auf dessen rohen Putz eine Bretterimitation gemalt war. Und zu essen gab es nichts. Der Mann im Liegestuhl döste immer noch, als wir das Gelände wieder verließen, um eine Stornogebühr ärmer. Und nun? Wohin mit uns und zwei müden Knaben? Für drei Tage? Nach kurzer Suche erschien auf dem Display des Smartphone ein geräumiges Ferienhaus, das ab jetzt für drei Tage frei war.

„Wo?“ „Ganz nah am See“, sagte sie. „Schweineteuer, oder?“ „Nein. Genau so viel wie da oben.“ Es gehörte einer Dame, die sofort eine Putzkolonne losschickte und uns auf ihre Kosten in einer Bar am Ufer warten ließ, bis alles fertig war. Als ich im Laden des Dorfs einen Weißwein kaufte, nahm mir der Besitzer die Flasche aus der Hand, holte eine gut gekühlte dafür, und den Kaffee gab es geschenkt, frisch aus der Mühle, genug Pulver für drei Tage. Einfach so. Ich bin ein aufgeklärter Mensch. An diesem Abend dankte ich den Göttern.

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