Kategorie-Archiv: Kolumne

Der Hund im Handy bellt nicht mehr

Dämonie der Maschinen! Wer kennt sie nicht? Noch die abgebrühtesten Programmierer, Logiker, Ingenieure haben ihre geheimen kleinen Tricks, von denen niemand wissen darf, sie reden mit ihren Computern, Autos, Rasenmähern, sie bringen mit einem Tropfen Whisky den Drucker wieder zum Laufen, sie können keineswegs immer erklären, warum Geräte dieses tun und jenes nicht, von denen sie doch genau wissen, wie sie funktionieren. Und je älter eine Maschine wird, je brüchiger, desto menschlicher. Mein altes Klapphandy von Nokia hat sich jetzt auf eine Weise verabschiedet, die mir Respekt abringt.

Ohne Magie war es ohnehin nie, es konnte sich selbst reparieren, es überstand die Pinkelattacke eines Säuglings und die schwüle Luft der kolumbianischen Karibik, es war tropentauglich. Gegen Ende, nach subjektiv zwölf Jahren, gezählt sechs, platzte die Farbe ab und der Rücken auf, ein aufgeblähter Akku hatte ihn gesprengt. Mit neuem Akku und einem Streifen Paketband hat es dann noch mal acht, neun Monate gehalten und mit seinen schaurigen Tönen etwas anarchisch Verstörendes ins normierte Gepingel, Gepfeife und Geklingel der ICE-Großraumabteile gebracht.

Den klassischen Nokia-Klingelton hatte ich, um ein paar Halbtöne verzerrt, auf einem verstimmten Gotrian von 1915 eingespielt, der auch den SMS-Ton lieferte, Skrjabins magischen Akkord, aus dem das Handy so etwas wie machte wie das kurze Bellen eines kranken und wahnsinnigen Hunds von Baskerville. Heute bellte er noch einmal. Als ich die SMS beantwortete, schaltete sich das Handy mitten im Schreiben aus, um sich dann wieder anzuschalten. Ich telefonierte und erlebte dasselbe: Schluss nach 30 Sekunden. Es war wie das Flackern der Saallampen, mit dem Besucher zum Aufbruch gedrängt werden.

Und es hatte etwas Kokettes, ein Scherzen mit dem Entsetzen, das mich erfasste, weil tags zuvor das Festnetz ausgefallen und noch immer tot war. Das Handy war mein letzter Weg nach draußen! Nicht ganz, ich konnte ja noch mailen, aber nicht telefonieren zu können ist für Bewohner zivilisierter Gegenden schon seit achtzig Jahren bedrohlich. Außerdem wähnt man die wirklich wichtigen Anrufe ja just dann kommen, wenn man sie nicht empfangen kann. Das Handy inszenierte seinen Abschied also in einer Krisenlage, aber es gab mir eine Chance, es warnte mich, rechtzeitig vor einer Reise am nächsten Tag.

Ich sprang ins Auto. Würde ich im Städtchen noch ein Handy kriegen oder ein Smartphone kaufen müssen? Schaffte ich es bis zwölf? Dann schließen am Mittwoch die Läden. Gerade noch. Es gab sogar Klapphandys, und der Verkäufer konnte auf dem alten Gerät 180 von 200 Telefonnummern auf die SIM-Card retten, bis sie voll war. Seltsamerweise schaltete es sich dabei nicht ab. Treu bis zuletzt! Dann nahm ich ihm die Karte heraus und steckte es an seinen vertrauten Platz, in die linke Hosentasche. Unfassbar, was es miterlebt hat, welche Botschaften es empfing. 600 sind noch drin, unsichtbar eingraviert in die Platine.

Jetzt liegt es hier, still, aber, wie soll ich sagen, wie mit einem spöttischen Lächeln. Es mag keine Sentimentalitäten. Wenn schon. Adieu, adieu!

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Wenn nachts die Eule röchelt

Einfach nur über den Frühling zu schreiben, das steht ja sofort unter Weltfluchtverdacht. Man kann auf die Haikudichter verweisen, die seit Jahrhunderten immer nur auf die Jahreszeiten und ihre Zeichen in der Natur blicken, in fünf und sieben und fünf Silben, aber es sind Dichter. Und sie brauchen nicht viel Platz dafür. Kolumnisten sind angehalten, ein Minimum an Aktualität zu bieten. Wenn sie schon nicht über das Innenleben von Piloten und die Erbschaftssteuer räsonieren, über die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen dem Zertrümmern sumerischer Skulpturen und dem Kappen von Kulturetats, dann sollte wenigstens Putin mal wieder vorkommen.

Ja, soll er doch! Putin hat in Russland die Sommerzeit abgeschafft. Neulich dachte ich noch, das wäre derzeit einer der wenigen Gründe, in die russische Föderation auszuwandern, die gegenüber den USA auch noch den Vorteil hat, dass man dort nicht sofort erschossen wird, wenn man vor einem Polizisten wegläuft, man muss vorher wenigstens die Regierung kritisiert haben. Aber jetzt scheint mir, Zar Wladimir verpasst doch etwas mit dieser Morgenstunde. Auf einen Schlag bin ich nicht mehr eine Stunde zu früh im Dunkeln aufgewacht, sondern pünktlich und mit Sonnenaufgang. Außerdem schön, dass es abends um acht noch so hell ist wie um sieben.

Kurz bevor ich trotzdem viel zu früh einschlafe, auf dem Sofa zusammengebrochen beim Versuch, einen richtig langen Text im New York Review of Books im Netz zu lesen und zu verstehen, lausche ich noch dem saurierartigen Röcheln unserer Untermieterin, der Eule, beim Beuteflug. Und morgens begleitet das Tschilpen zahlreicher Vögel, die ich immer noch nicht auseinanderhalten kann, das Auseinanderfalten von Nachrichten über die orthodox österlich inspirierte Allianz von Griechenland und Rußland und weitere Allianzen und Mesalliancen, die ich noch schlechter auseinanderhalten kann als die Vögel. Der Frühling ist gekommen, die Welt ist wieder weit.

Der Mirabellenbaum in der Südostecke hat weiße Blüten, der wilde Wein an der Südwand treibt aus rötlichen Knospen schon Blätter hervor, nah und fern brummen die Rasenmäher, die dunkle Jahreszeit scheint auf einem anderen Planeten stattgefunden zu haben. Das ist alles wunderbar, und jedes Mal glaubt man, dass jetzt überhaupt die Welt besser wird. Dabei kann man schon froh sein, dass es überhaupt noch Vögel, Weinlaub und Bäume gibt. Nun ja. Etliche Bäume dienen den Männern im Dorf dazu, für ihre frühlingshafte Unrast eine Ausdrucksform zu finden. Sie fällen, sägen, spalten wie die Besessenen, schweigsam und ohrenbetäubend.

Wenn ich mir ansehe, wieviele Holzstapel hier ringsum in die Höhe wachsen, wundert es mich, dass nicht die komplette norddeutsche Tiefebene schon baumfrei ist. Aber auch das ist das Besondere am Frühling – man gewinnt aus den Widersprüchen der Welt Hoffnung statt finsterer Aussichten: Wächst wohl alles nach! Na prima. Dann kann ich ja getrost die Holzkohle auf den Grill werfen.

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Ungebremste Leidenschaft

Pauls Schutzengel sind wieder da. Ich nehme an, es ist dasselbe Team, das damals an der steilen Treppe bereitstand. Als sie erfuhren, dass er Fahrradfahren lernt, machten sie sich wieder auf den Weg zu uns. Er ist nämlich einer von denen, die, wenn eine Wand auf sie zukommt, damit rechnen, dass sich rechtzeitig eine Lücke darin auftut, die z.B. exakt den Umriss eines Dreijährigen mit Helm auf einem kleinen Fahrrad hat. Es beflügelt ihn sehr, dass er, an einem Sonntagnachmittag, herausgefunden hat, wie man selbstständig anfährt.

„Pedal hoch, treten, den andern Fuß aufs andere Pedal, nicht mit dem Lenker eiern, treten, geradeaus gucken…“ Wir hatten es schon ein paar Dutzend Mal versucht. Als er es zum ersten Mal selbst schaffte, hatte ich gerade nicht hingeschaut. So ist das ja oft. Zeugen lähmen. Ich sah nur, dass er fuhr. „Fantastisch! Super!“ Ich applaudierte, er strahlte. So fing das an. Dann wurde er immer schneller, von Tag zu Tag. Es war Zeit, ihn im Gebrauch der Bremsen zu unterweisen, das Nebenherlaufen wurde mir zu anstrengend.

Mit der Handbremse kam er schnell zurecht, aber die ist ja nicht jedem Tempo gewachsen. Warum er auf dem Schulhof neben dem Spielplatz einfach auf den Schuppen zufuhr, weiß ich nicht. Die Schutzengel schienen damit gerechnet zu haben. Sie sägten keine Lücke in die Wand, sie sorgten einfach dafür, dass beim abrupten Ende der Fahrt außer dem Rumms ein Schrei von mir zu hören war, aber keiner von Paul. Das Hinterrad stieg in die Luft, Paul blieb im Sattel, plumpste im Sattel wieder runter, guckte erstaunt und fuhr wieder los.

Dann rutschte er in der Kurve aus und segelte, alle Viere von sich streckend, flach aufs Pflaster, wie auf Kissen. Keine Blessur. Uff. Dann raste er kopfüber in den Straßengraben. Dito. „Hör zu. Du musst mit dem Rücktritt bremsen! Ich führ´s dir vor.“ Ich stieg auf das winzige Rad wie ein Bär im Zirkus und führte es vor, mit eierndem Lenker. Erheiterung beider Knaben, denn nun war auch Frido dabei, mit seinem Rad. Er raste, Paul tat es ihm nach. „Nicht so schnell! Du darfst erst schnell fahren, wenn du mit dem Pedal bremsen kannst!“

Nichts zu machen. Irgendwann reichte es auch den Schutzengeln, sie brauchten eine Stunde Pause mit Imbiss. Als Paul mal wieder aus der Kurve flog, ließen sie die Fahrradkette abspringen. Und zwar so, dass sie sich komplett verkeilte zwischen Schutzblech und Verstrebung. Paul musste seine Rennmaschine nach Hause schieben, wo ich eine knappe Stunde lang mit der Materie kämpfte. Weitere zehn Minuten brauchte ich, um das Öl von den Händen zu kriegen. Dann ging es wieder auf die Piste, aber Paul war vorsichtiger geworden.

All diese kleinen Welteroberungen! Der erste aufrechte Gang, die Silben, Worte, Sätze, der Weg von der Windel zum Klogang, vom Laufrad aufs Fahrrad, von dort aus die handfeste Entdeckung der kinetischen Energie. Tausende von Jahren Menschheitsentwicklung in 40 Monaten! Solche Gedanken motivieren mich manchmal, wenn ich eigentlich keine Lust habe, hinter Paul herzulaufen. Und natürlich die Ahnung, dass die Schutzengel es gern sehen, wenn man ihnen assistiert. Man darf dabei auch fluchen, mit ölverschmierten Händen.

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