Pauls Schutzengel sind wieder da. Ich nehme an, es ist dasselbe Team, das damals an der steilen Treppe bereitstand. Als sie erfuhren, dass er Fahrradfahren lernt, machten sie sich wieder auf den Weg zu uns. Er ist nämlich einer von denen, die, wenn eine Wand auf sie zukommt, damit rechnen, dass sich rechtzeitig eine Lücke darin auftut, die z.B. exakt den Umriss eines Dreijährigen mit Helm auf einem kleinen Fahrrad hat. Es beflügelt ihn sehr, dass er, an einem Sonntagnachmittag, herausgefunden hat, wie man selbstständig anfährt.
„Pedal hoch, treten, den andern Fuß aufs andere Pedal, nicht mit dem Lenker eiern, treten, geradeaus gucken…“ Wir hatten es schon ein paar Dutzend Mal versucht. Als er es zum ersten Mal selbst schaffte, hatte ich gerade nicht hingeschaut. So ist das ja oft. Zeugen lähmen. Ich sah nur, dass er fuhr. „Fantastisch! Super!“ Ich applaudierte, er strahlte. So fing das an. Dann wurde er immer schneller, von Tag zu Tag. Es war Zeit, ihn im Gebrauch der Bremsen zu unterweisen, das Nebenherlaufen wurde mir zu anstrengend.
Mit der Handbremse kam er schnell zurecht, aber die ist ja nicht jedem Tempo gewachsen. Warum er auf dem Schulhof neben dem Spielplatz einfach auf den Schuppen zufuhr, weiß ich nicht. Die Schutzengel schienen damit gerechnet zu haben. Sie sägten keine Lücke in die Wand, sie sorgten einfach dafür, dass beim abrupten Ende der Fahrt außer dem Rumms ein Schrei von mir zu hören war, aber keiner von Paul. Das Hinterrad stieg in die Luft, Paul blieb im Sattel, plumpste im Sattel wieder runter, guckte erstaunt und fuhr wieder los.
Dann rutschte er in der Kurve aus und segelte, alle Viere von sich streckend, flach aufs Pflaster, wie auf Kissen. Keine Blessur. Uff. Dann raste er kopfüber in den Straßengraben. Dito. „Hör zu. Du musst mit dem Rücktritt bremsen! Ich führ´s dir vor.“ Ich stieg auf das winzige Rad wie ein Bär im Zirkus und führte es vor, mit eierndem Lenker. Erheiterung beider Knaben, denn nun war auch Frido dabei, mit seinem Rad. Er raste, Paul tat es ihm nach. „Nicht so schnell! Du darfst erst schnell fahren, wenn du mit dem Pedal bremsen kannst!“
Nichts zu machen. Irgendwann reichte es auch den Schutzengeln, sie brauchten eine Stunde Pause mit Imbiss. Als Paul mal wieder aus der Kurve flog, ließen sie die Fahrradkette abspringen. Und zwar so, dass sie sich komplett verkeilte zwischen Schutzblech und Verstrebung. Paul musste seine Rennmaschine nach Hause schieben, wo ich eine knappe Stunde lang mit der Materie kämpfte. Weitere zehn Minuten brauchte ich, um das Öl von den Händen zu kriegen. Dann ging es wieder auf die Piste, aber Paul war vorsichtiger geworden.
All diese kleinen Welteroberungen! Der erste aufrechte Gang, die Silben, Worte, Sätze, der Weg von der Windel zum Klogang, vom Laufrad aufs Fahrrad, von dort aus die handfeste Entdeckung der kinetischen Energie. Tausende von Jahren Menschheitsentwicklung in 40 Monaten! Solche Gedanken motivieren mich manchmal, wenn ich eigentlich keine Lust habe, hinter Paul herzulaufen. Und natürlich die Ahnung, dass die Schutzengel es gern sehen, wenn man ihnen assistiert. Man darf dabei auch fluchen, mit ölverschmierten Händen.
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