Kategorie-Archiv: Kolumne

Don Juan erobert die B 209

Ich hasse diese Baustelle an der B 209. Weil an der Auffahrt zur A 27 ein Möbellager für einen Onlinevertrieb und andere Hallen entstehen, müssen Rohre verlegt werden. Also ist die Straße jetzt einspurig, an drei Stellen, Ampeln regeln den Verkehr. Statt 16 Minuten bis zum Kinderhaus und zurück brauche ich morgens 24, nachmittags ebenso. Das sind 80 Minuten extra pro Woche und gut fünf Stunden im Monat, und wenn ich vorsichtig noch 200 Einfach-Pendler veranschlage, dann opfern allein die der Baustelle 533 Stunden monatlich.

Frido und Paul stört das überhaupt nicht, da wir auf dem Weg meistens Musik hören, und dank der Baustelle entdecken sie die späte Romantik. Die zwölf Minuten reichen locker für das Scherzo aus Bruckners Neunter, und das weitaus witzigere Scherzo aus Tschaikowskys Zweiter, das kaum jemand kennt, kann man sogar zweimal hören – wahrscheinlich das Witzigste, was er je geschrieben hat. Auch der erste Satz aus Brahms´ Vierter passt, und wenn es mit der Parkplatzsuche dauert, wird sogar Strauss´ „Don Juan“ noch fertig.

Aber ich lasse mich nicht einlullen. Was wir Pendler und all die anderen Automobilisten da an ehrenamtlichem Aufwand erbringen, gilt ja keinem öffentlichen Interesse. Wir warten, damit irgendwann hässliche Möbel schneller verkauft werden können, als man eine Faust durchs Furnier drücken kann. Wenn es wenigstens ein Konzertsaal wäre! Es wollen doch jetzt alle neue Säle haben, warum nicht auch Walsrode und der Heidekreis? Ja, so ein 2500-Plätze-Wurf von Jean Nouvel neben der A27, das fetzt! Das stärkt die Region!

Die Region, werden sie mir im Rathaus sagen, da haben Sie ganz recht. Neue Arbeitsplätze, mehr Gewerbesteuer und Dönerbuden, steigende Kaufkraft, darum geht es ja. Wenn das erstmal brummt, wird Walsrode Millionenstadt, schluckt Hannover, und dann entsteht Ihr neuer Konzertsaal wie von selbst. Aber ich sehe nicht mal einen Würstchenstand für die Arbeiter, die die Absperrungen jeden Tag ein bisschen verschieben oder verlängern, vielleicht einfach nur, um es für uns Autofahrer ein bisschen spannend zu machen.

Das muss wirklich nicht sein. Die Absperrungen haben mir, gebe ich zu, die Entdeckung der Saison beschert, die herrlich brausende, nach hundert Jahren erstmals eingespielte zweite Sinfonie von Théodore Dubois, erster Satz für die Hinfahrt, letzter für die Rückfahrt, beides allegro con moto, die Jungs können gar nicht genug davon hören, und ich dirigiere mittlerweile mit. Für die Fanfaren der Blechbläser muss ich die Hände vom Lenkrad heben, aber das ist an der Baustelle kein Problem. Die Arbeiter denken wahrscheinlich, ich rege mich auf.

Dabei bin ich schon eiskalt am Rechnen. Wenn allein wir Pendler sanfte 20 Euro pro Wartestunde bekämen, wäre man in einem halben Jahr schon bei knapp 65000 Euro, das könnten wir spenden als Grundstock zur Heidephilharmonie. Ihr Bau ist also nicht viel unwahrscheinlicher, als dass ich zur Eröffnung des Saales die Zweite von Dubois dirigiere. Das mache ich dann gern auch mal ohne Gage.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt

Die Kaffeemühle als Orakel

Krups GVX2, so genau muss man es schon sagen. Es gibt sie wirklich, diese Maschine. Aber wahrscheinlich steht bei uns das einzige Exemplar mit einem Muggla drin, oder mit einem Draht zur Welt der Dämonen. Es handelt sich um eine Kaffeemühle. Verglichen mit anderen elektrischen Kaffeemühlen ist sie ganz nett anzusehen, es gibt da ja geradezu Monster, Hochbauten aus Glas und Metall, mit vierzehn Tasten, WLAN-Anschluss und Gesichtserkennung. Nein, die GVX2 ist formschön, 20 Zentimeter hoch, oben schüttet man die Bohnen rein, Plexideckel drauf, unten zieht man die Plexischublade mit dem Pulver raus.

Es gibt einen Drehknopf für die Mahlstärke und einen für die Menge, und über dem einen Knopf. Der leuchtet blau, wenn man draufdrückt, und dann geht es los. Oder nicht. Dann macht es „rrk“ und verstummt. Das ist das Problem. Seit einem halben Jahr macht es ganz oft nur „rrk“, ebensooft aber „rrrrrrrrr“, dann atme ich auf. Einmal sahen Frido und Paul interessiert zu, wie ich mit der Kaffeemühle kämpfte, morgens, in Zeitnot, beim Frühstück. Wieder und wieder drückte ich den Knopf. Dabei wurde das „rrk“ immer länger, und beim zwanzigsten Mal sprang das Ding an: „Rrrrrrrrrrrrr…“. „Ahaaaa!“, sagte ich.

Frido lächelte. „Jetzt hat er losgelassen.“ „Wer?“ „Der Muggla, der da drin sitzt.“ „Ist da ein Muggla drin?“ rief Paul aufgeregt. „Ich glaube, ja“, sagte ich nachdenklich, „dem war das jetzt zu anstrengend.“ Wir haben uns ja längst mit der Existenz von Mugglas in diesem Haus nicht nur abgefunden, sondern befreundet, jener kleinen Fabelwesen, die man aus den Büchern mit Findus und Pettersson kennt, die Sachen verschwinden lassen und überhaupt sehr eigensinnig sind und dem Erwachsenenauge nicht sichtbar. Soeben, sagte Frido, habe er den Muggla aus der Mühle davonkrabbeln sehen, die Wand runter.

Also gut. Ich wollte eigentlich eine neue Mühle kaufen, aber wenn die GVX2 läuft, dann läuft sie prima, und jetzt weiß ich ja auch, dass der Muggla oder was immer das Laufwerk mitunter blockiert, beharrlicher Knopfdrückerei nachgibt. Ich habe es auch schon mit Konzentration versucht, oder Meditation: An nichts denken beim Drücken. Nichts wollen. Bewusst einen Moment der Bewusstlosigkeit erzeugen, wie einer, dem es anders nicht gelänge, vom Fünf-Meter-Brett zu hüpfen. Lass es einfach geschehen. Fühle die Weite des Kosmos. Jetzt! „Rrrrrrrrr…“ Jaaah! Oder eben „rrk“. Verdammte Scheibenbremse!

Nächster Schritt, das bockige Ding mit seinem Teufelchen in den Alltag zu integrieren, ist, die Meditation mit der Metaphysik zu verbinden. Ich benutze die GVX2 jetzt als Orakel. Vor einem langen, anstrengenden Tag sagt es mir, worauf ich mich einrichten darf. Springt sie an, wird alles besser laufen als gedacht, springt sie nicht an, muss ich in die Hände spucken. Zuerst den Muggla niederringen und dann Nachrichten wie die erwarten, dass die 300-Zeilen-Geschichte erst erscheinen wird, wenn sie Moos angesetzt hat, dass ein Interview platzt, dass die Umsatzsteuer… äh, nee, das will ich nicht wissen. Lieber noch einen Espresso. „Rrrrrrrr…!“ Danke, alles gut, wird schon.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt

Venedig kann sehr nass sein

Papa, du sollst nicht schreiben“, hatte Frido vor ein paar Monaten gesagt, genervt von meiner Stubenhockerei, „du sollst mit mir nach Venedig fahren.“ Ja, schön wär´s, hatte ich gedacht. Als erstes. Und als zweites: Wie lange sollen wir damit warten? Bis ich mit Achtzig sage, das wär´schon toll gewesen, wenn wir das gemacht hätten? Es gibt so viele gute Ideen, die nicht umgesetzt werden, jetzt reicht´s mal. Ich habe umgehend den Flug gebucht, und Frido weiß spätestens seitdem, dass ich auch größere Wünsche ernst nehme.

Jetzt steht er beeindruckt vor den Wellen, die uns über die Corte della Madonna entgegenschwappen. Das ist, wie der Name schon sagt, kein Kanal, sondern ein zum Platz erweitertes Gässchen zwischen Ca´Foscari und Accademia, über das man bequem schlendern kann, solange nicht gerade acqua alta herrscht. Und es herrscht so sehr, dass ich schon in Gummistiefeln losmarschiert bin, Frido nun hochhebe und ihn durch die Fluten trage. Venedig kann sehr nass sein.

Er ist begeistert. Ich räsoniere, während er in meinen Armen immer schwerer wird (immerhin ist er neuerdings sechs Jahre alt), über die seltsame Gleichzeitigkeit des Schrecklichen und des Aufregenden. „Wir finden es aufregend“, sage ich, „aber die Ladenbesitzer müssen Bretter vor ihre Eingänge schieben, oder ihre Läden werden nass und müssen renoviert werden. Und die Bretter reichen auch nicht immer. Ah, da ist eine Brücke, da setze ich dich ab.“ Wir blicken über den Rio di San Barbara, der zum Canal Grande führt.

Er hat sich um knapp zwei Meter erhöht und um vier Meter verbreitert. Es gibt keine Ufer mehr zwischen den Häusern. Fünf vor zwölf, Höhepunkt der Flut, aber das Abendland geht partout nicht unter. Direkt vor uns hat eine Bar geöffnet, man kann von der Brücke aus hineinwaten. Das Mittelmeer leckt an der Theke, hinter der ein gutgelaunter Keeper Heißgetränke zubereitet. Der Boden steigt nach hinten an, da haben sich ein paar Leute versammelt. Eine junge Frau mit Baby tippt ins Smartphone, ein Handwerker trinkt Weißwein.

Extrem gemütlich. Frido bestellt heiße Schokolade und ich einen Capuccino. Mein Hinweis auf das Leiden der Ladenbesitzer wird hier nicht untermauert. Dann schleppe ich Frido weiter durch die Flut, bis wir ein Geschäft entdecken, in dem es auch Gummistiefel für Kinder gibt. Sie kosten doppelt soviel wie die für Erwachsene. Einige Läden machen ausgesprochen gute Geschäfte bei Hochwasser. Aber der Stolz, mit dem Frido nun der Accademia entgegenstapft, in Stiefeln, neben denen seine alten wie Babyspielzeug aussehen, ist es wert.

Und die Entdeckung der Stadt sowieso. Lange dachte ich ja, dieses Venezia sei nur noch ein hohler Zahn für Touristen, bis zur Lüge totgeknipst und sowieso seit 100 Jahren zum Untergang verurteilt. Aber als wir im Vaporetto an der Casa d´Oro vorbeifahren, jenem Palast, den Frido in seinem Ausklappbuch zuhause so schön fand, dass wir ihn aus Lego nachschufen, spätestens da, als er ruft, „Papa! Das Goldene Haus!“ und strahlt wie zu Weihnachten, reißt er mich aus meinem mürben Kulturpessimismus auf die lichte Höhe seiner sechs Jahre, und ich kapiere, dass hier gerade jetzt und seit Jahrhunderten ein Traum wahr wird.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt

SAMSUNG CAMERA PICTURES

Die nasseste Raucherecke der Welt: Der Autor in der “Area fumatori” der Ca´Foscari