Venedig kann sehr nass sein

Papa, du sollst nicht schreiben“, hatte Frido vor ein paar Monaten gesagt, genervt von meiner Stubenhockerei, „du sollst mit mir nach Venedig fahren.“ Ja, schön wär´s, hatte ich gedacht. Als erstes. Und als zweites: Wie lange sollen wir damit warten? Bis ich mit Achtzig sage, das wär´schon toll gewesen, wenn wir das gemacht hätten? Es gibt so viele gute Ideen, die nicht umgesetzt werden, jetzt reicht´s mal. Ich habe umgehend den Flug gebucht, und Frido weiß spätestens seitdem, dass ich auch größere Wünsche ernst nehme.

Jetzt steht er beeindruckt vor den Wellen, die uns über die Corte della Madonna entgegenschwappen. Das ist, wie der Name schon sagt, kein Kanal, sondern ein zum Platz erweitertes Gässchen zwischen Ca´Foscari und Accademia, über das man bequem schlendern kann, solange nicht gerade acqua alta herrscht. Und es herrscht so sehr, dass ich schon in Gummistiefeln losmarschiert bin, Frido nun hochhebe und ihn durch die Fluten trage. Venedig kann sehr nass sein.

Er ist begeistert. Ich räsoniere, während er in meinen Armen immer schwerer wird (immerhin ist er neuerdings sechs Jahre alt), über die seltsame Gleichzeitigkeit des Schrecklichen und des Aufregenden. „Wir finden es aufregend“, sage ich, „aber die Ladenbesitzer müssen Bretter vor ihre Eingänge schieben, oder ihre Läden werden nass und müssen renoviert werden. Und die Bretter reichen auch nicht immer. Ah, da ist eine Brücke, da setze ich dich ab.“ Wir blicken über den Rio di San Barbara, der zum Canal Grande führt.

Er hat sich um knapp zwei Meter erhöht und um vier Meter verbreitert. Es gibt keine Ufer mehr zwischen den Häusern. Fünf vor zwölf, Höhepunkt der Flut, aber das Abendland geht partout nicht unter. Direkt vor uns hat eine Bar geöffnet, man kann von der Brücke aus hineinwaten. Das Mittelmeer leckt an der Theke, hinter der ein gutgelaunter Keeper Heißgetränke zubereitet. Der Boden steigt nach hinten an, da haben sich ein paar Leute versammelt. Eine junge Frau mit Baby tippt ins Smartphone, ein Handwerker trinkt Weißwein.

Extrem gemütlich. Frido bestellt heiße Schokolade und ich einen Capuccino. Mein Hinweis auf das Leiden der Ladenbesitzer wird hier nicht untermauert. Dann schleppe ich Frido weiter durch die Flut, bis wir ein Geschäft entdecken, in dem es auch Gummistiefel für Kinder gibt. Sie kosten doppelt soviel wie die für Erwachsene. Einige Läden machen ausgesprochen gute Geschäfte bei Hochwasser. Aber der Stolz, mit dem Frido nun der Accademia entgegenstapft, in Stiefeln, neben denen seine alten wie Babyspielzeug aussehen, ist es wert.

Und die Entdeckung der Stadt sowieso. Lange dachte ich ja, dieses Venezia sei nur noch ein hohler Zahn für Touristen, bis zur Lüge totgeknipst und sowieso seit 100 Jahren zum Untergang verurteilt. Aber als wir im Vaporetto an der Casa d´Oro vorbeifahren, jenem Palast, den Frido in seinem Ausklappbuch zuhause so schön fand, dass wir ihn aus Lego nachschufen, spätestens da, als er ruft, „Papa! Das Goldene Haus!“ und strahlt wie zu Weihnachten, reißt er mich aus meinem mürben Kulturpessimismus auf die lichte Höhe seiner sechs Jahre, und ich kapiere, dass hier gerade jetzt und seit Jahrhunderten ein Traum wahr wird.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt

SAMSUNG CAMERA PICTURES

Die nasseste Raucherecke der Welt: Der Autor in der “Area fumatori” der Ca´Foscari