Kategorie-Archiv: Kolumne

Frühstück mit zwei Mugglas

Natürlich gibt es Mugglas bei uns. Je älter und unaufgeräumter ein Haus ist, habe ich Frido und Paul erklärt, desto mehr Mugglas hausen in ihm. Vielleicht gibt es also bei uns sogar mehr von denen als bei Pettersson und Findus, denn unser Haus wird schon 1823 amtlich erwähnt, und zu der Zeit erstreckte sich bestimmt noch Wald an der Stelle in Schweden, an der Sven Nordqvist den bärtigen Alten und seinen sprechenden Kater leben lässt. Nur der kann die Mugglas sehen, und natürlich können das auch alle Kinder.

Sie lieben diese kleinen Fabelwesen, die Sachen verschwinden lassen. Sie lassen ja selbst auch ständig Sachen verschwinden, und wenn es zufällig die der Erwachsenen sind – ein Ladegerät, ein Kugelschreiber, ein Kartoffelschäler, ein Vorhängeschloß, eine Kreditkarte -, ist es hilfreich, die Sache den Mugglas in die Schuhe zu schieben, zumal Papa selbst deren Existenz leichtsinnigerweise noch bestätigt hat. Mit gutem Grund. Wer sonst sollte mir acht Socken entführt haben, und zwar Einzelstücke aus acht Paaren? Die Jungs waren es nicht.

Und wo sollten Mugglas leben, wenn nicht im Chaos unseres Dachbodens? Da fand ich sogar mal sechs Pistolen aus dem 17. Jahrhundert, die ich nie und nimmer dort abgelegt habe. Mugglas teilen sich auch gern die Tunnels, die Mäuse durch Lehm und Stroh der Zwischendecken fressen, mit den Nagern. Wenn man beim Einschlafen das leise eilige Getrappel hört, kann man nicht sicher sein, ob es nicht Mugglas sind, die ein Ladegerät in ihren Vorrat schleppen, eingewickelt in eine Herrensocke. Möglich ist alles.

Möglich ist auch, dass unsere Söhne sich für einen Morgen in Mugglas verwandeln und ein gemeinsames Frühstück nicht möglich ist, da sie unsichtbar sind. „Wir sind Mugglas“, war das letzte, was ich von Frido hörte, ehe er mit Paul hinter der Küchentür verschwand. „Seltsam“, sagte ich laut, „wo bleiben bloß Frido und Paul? Ich werde ihnen schon mal ein Honigbrot machen.“ Ich sah natürlich nicht, wie sie dann durch die Tür gehuscht kamen und sich die Brote vom Teller holten. Ich starrte in die Zeitung.

„Na sowas“, wunderte ich mich dann vernehmlich. „Die Brote sind verschwunden! Ich glaube, hier gibt es Mugglas. Dann mache ich eben noch mehr Brot.“ Nach einer Weile verschwand ein ganzer Teller. „Hier IST doch jemand! Das merke ich. Aber ich sehe keinen. Ob diese Mugglas wohl auch Apfelsaft trinken?“ Ja, das taten sie. Diese Unsichtbaren hatten mehr Hunger und Durst als die Jungs, die sonst am Tisch sitzen. Und sie waren sehr unternehmungslustig. Auch Bestecke verschwanden, und Teile der Zeitung.

„Das muss aber wieder in die Küche“, sagte ich, als wir zum Kindergarten aufbrachen und ich die Kollektion im Korridor sah. „Sonst ist eure Mama sauer, wenn sie das sieht.“ Das beeindruckte sie nicht. Sie wussten, dass wir jetzt los mussten und ich das schon selbst rechtzeitig wegräumen würde. Viel wichtiger war jetzt die Frage, ob man in der Morgendämmerung noch den kleinen Vampir treffen würde, mit dem Frido seit einiger Zeit befreundet ist und der mit seiner Familie ein in der Luft schwebendes Haus bewohnt…

Auf dem Rückweg vom Kindergarten hoffte ich, die restlichen Mugglas, die winzigen, hätten zum Spaß mal aufgeräumt. Sie hatten aber nur eine weitere Socke verschwinden lassen.

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Die tröstlichen kleinen Halunken

Ein bisschen erinnert der Fall des Kunstberaters Helge Achenbach an den des Bischofs Tebartz-van Elst. Tiefe Fälle, öffentliche Abstürze, aus lichten Höhen der Schönheit. Der Bischof hatte eigenmächtig 31 Millionen aus der Kirchenkasse geholt für eine Architektur, an deren Erlesenheit kein Fachmann Zweifel hegt. Er wurde medial wie eine Sau durchs Dorf getrieben, als hätte er uns allen tief in die Tasche gegriffen. So ähnlich ist es auch bei Achenbach.

Um 22 Millionen Euro soll er allein Berthold Albrecht, einen Aldi-Erben, betrogen haben bei der Beschaffung hochwertiger Autos und noch hochwertigerer Kunst. Auch wenn der mutmaßliche Schaden wohl eher einem Bruchteil jener Erbschaftssteuern entspricht, die den Aldi-Erben durch geschickte Stiftungskonstruktionen erspart bleiben: Betrug ist Betrug, dafür steht Achenbach nun in Essen vor Gericht. Andere hingehen nicht.

Georg Funke zum Beispiel kann auf Mallorca noch getrost Immobilien makeln, obwohl ein Münchener Gericht davon ausgeht, dass er Anleger getäuscht hat, vor sechs, sieben Jahren. Damals war er Chef der Bank Hypo Real Estate, die vom Bund mit 100 Milliarden Euro gerettet werden musste und deren Anleger sich durch Funke getäuscht sehen. Wie berichtet, sollen sie nun mit mindestens einer halben Milliarde, ebenfalls aus Steuergeldern, entschädigt werden.

Alles irre kompliziert und finanziell vom Laien kaum noch fassbar, viel komplizierter als die Sachen mit dem Bischof und dem Kunstberater. Die beiden sind uns eigentlich recht nahe. Die Summen, um die es da geht, kann auch der Häuslebauer gerade noch überblicken. Dass der eine ein hohes Amt mißbraucht, der andere das Vertrauen eines reichen Mannes, macht sie als Personen zwar nicht sympathisch, aber greifbar. Und darum attraktiv für den Pranger.

An dem werden die meisten der deutschen Steuerhinterzieher, die jährlich 50 Milliarden den öffentlichen Kassen vorenthalten, niemals landen. Und auch kein Funktionär eines jener rund 340 Unternehmen, die über Luxemburger Umwege Milliarden an Steuern vermieden, wie es jüngst das „International Consortium of Investigative Journalists“ aufdeckte. E.ON zahlte für 130 Millionen Einnahmen nicht mal 1600 Euro dem Fiskus. Alles irgendwie legal, alles viel zu kompliziert.

Seien wir also froh, dass wir nun wieder einen kleinen Halunken haben, den schillernden Achenbach, der sein Ummogeln von Dollars in Euro kunstnah als „Collage“ bezeichnet und dem vor Gericht die Tränen so übers Gesicht liefen, dass sie in manchen Zeitungen geradezu Pfützen bildeten. In denen mögen sich nun die Betrachter spiegeln und in Achenbachs Ohnmacht die eigene erkennen.

Dieser Text erschien am 17.12.2014 in der “Hannoverschen Allgemeinen Zeitung” und ist urheberrechtlich geschützt

Als der Mensch noch fliegen konnte

Dieser Engel! Keine Sorge, das hier wird keine Vorweihnachtskolumne, auch wenn ich den Engel natürlich deswegen in der Zeitung entdeckte, weil er Prunkstück einer jahreszeitlich passenden Münchner Ausstellung namens „Leib und Seele“ ist. Johann Baptist Straub schuf ihn zur Mitte des 18. Jahrhunderts für eine Kirche am Ammersee, wo er für gewöhnlich über dem Taufbecken schwebt und schon deswegen ein Anlass sein könnte, katholisch zu werden, weil dieses unergründliche, so naive wie amüsierte Lächeln dann über dem Wegbeginn der Kindlein – aber ich wollte ja nicht vorweihnachtlich werden.

Sondern eher kulturpessimistisch. Dass der Engel aus Holz geschnitzt ist, mag man nicht einmal glauben, wenn man ein Instrument besitzt, das ebenfalls aus Holz besteht und doch Töne hervorbringt, die die Gravitation aufheben können. Er lächelt, wie er schwebt, er würde noch schweben, wenn er läge, so frei ist der Körper. Ein Jüngling, der Oberkörper nackt, der rechte Arm zur Seite hin wie an eine Wolke tastend, der linke vor den Beinen schwebend, die, sanft angewinkelt und parallel, einander nicht berühren. Er fliegt, natürlich.

Dass die goldenen Flügel noch am schwersten wirken, leuchtet ein. Sie tragen ihn, nicht er sie. „Der uralte menschliche Traum vom Fliegen“, schreibt Gottfried Knapp dazu in der „Süddeutschen“, „ist wohl von keiner vollplastischen Figur glaubwürdiger und lebendiger erfüllt worden als von dem jünglingshaft schlanken Engel“. Wenn ich aber in der Zeitung fünf Seiten weiter blättere, stoße ich auf ein Foto, das in mir den Verdacht erweckt, diesen Traum habe auch kein lebender Mensch jemals glaubwürdiger und lebendiger erfüllt.

Ja, wir können fliegen. Keiner kann mehr so etwas schnitzen wie Straub und komponieren wie Bach, das geschah auf einem anderen Planeten. Aber wir können fliegen, und wie sieht es aus? Das Bild zeigt einen Jüngling, der wohl von einem Hubschrauber aus Bungeejumping betreibt und auch von dort aus fotografiert wurde. Wir sehen ihn von oben, seinen Rücken, weit über einem Strand schwebend, mit T-Shirt, kurzer Hose und Sandalen nur geringfügig mehr bekleidet als Straubs Engel, die Gliedmaßen ausgestreckt, schlank – und plump.

Er hängt in der Luft, als läge er tot auf dem Sand. Man sieht sofort, dass Menschen nicht fliegen können. Es ist komplett lächerlich. Neben dem Engel wirkt nicht nur dieser Junge wie ein Gorilla, der sich nach Mozart (schon wieder so ein gemeiner superlativischer Vergleich!) ans Klavier setzt. Es geht nicht. Auch die neben der ISS schwebenden Astronauten und überhaupt alles menschliche Gefliege vom Gleitsegler bis zum A 380 zeigen, dass Menschen nicht fliegen können. Sie kommen nur mit Mach und Krach nach oben.

Wirklich fliegen können sie nur im Traum, und wenn es einem gelang, diesen Traum in den Raum zu holen, dann war es eben Straub. Natürlich haben wir Fortschritte gemacht. Aber dieser Engel ist uns unendlich weit voraus.

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