Als der Mensch noch fliegen konnte

Dieser Engel! Keine Sorge, das hier wird keine Vorweihnachtskolumne, auch wenn ich den Engel natürlich deswegen in der Zeitung entdeckte, weil er Prunkstück einer jahreszeitlich passenden Münchner Ausstellung namens „Leib und Seele“ ist. Johann Baptist Straub schuf ihn zur Mitte des 18. Jahrhunderts für eine Kirche am Ammersee, wo er für gewöhnlich über dem Taufbecken schwebt und schon deswegen ein Anlass sein könnte, katholisch zu werden, weil dieses unergründliche, so naive wie amüsierte Lächeln dann über dem Wegbeginn der Kindlein – aber ich wollte ja nicht vorweihnachtlich werden.

Sondern eher kulturpessimistisch. Dass der Engel aus Holz geschnitzt ist, mag man nicht einmal glauben, wenn man ein Instrument besitzt, das ebenfalls aus Holz besteht und doch Töne hervorbringt, die die Gravitation aufheben können. Er lächelt, wie er schwebt, er würde noch schweben, wenn er läge, so frei ist der Körper. Ein Jüngling, der Oberkörper nackt, der rechte Arm zur Seite hin wie an eine Wolke tastend, der linke vor den Beinen schwebend, die, sanft angewinkelt und parallel, einander nicht berühren. Er fliegt, natürlich.

Dass die goldenen Flügel noch am schwersten wirken, leuchtet ein. Sie tragen ihn, nicht er sie. „Der uralte menschliche Traum vom Fliegen“, schreibt Gottfried Knapp dazu in der „Süddeutschen“, „ist wohl von keiner vollplastischen Figur glaubwürdiger und lebendiger erfüllt worden als von dem jünglingshaft schlanken Engel“. Wenn ich aber in der Zeitung fünf Seiten weiter blättere, stoße ich auf ein Foto, das in mir den Verdacht erweckt, diesen Traum habe auch kein lebender Mensch jemals glaubwürdiger und lebendiger erfüllt.

Ja, wir können fliegen. Keiner kann mehr so etwas schnitzen wie Straub und komponieren wie Bach, das geschah auf einem anderen Planeten. Aber wir können fliegen, und wie sieht es aus? Das Bild zeigt einen Jüngling, der wohl von einem Hubschrauber aus Bungeejumping betreibt und auch von dort aus fotografiert wurde. Wir sehen ihn von oben, seinen Rücken, weit über einem Strand schwebend, mit T-Shirt, kurzer Hose und Sandalen nur geringfügig mehr bekleidet als Straubs Engel, die Gliedmaßen ausgestreckt, schlank – und plump.

Er hängt in der Luft, als läge er tot auf dem Sand. Man sieht sofort, dass Menschen nicht fliegen können. Es ist komplett lächerlich. Neben dem Engel wirkt nicht nur dieser Junge wie ein Gorilla, der sich nach Mozart (schon wieder so ein gemeiner superlativischer Vergleich!) ans Klavier setzt. Es geht nicht. Auch die neben der ISS schwebenden Astronauten und überhaupt alles menschliche Gefliege vom Gleitsegler bis zum A 380 zeigen, dass Menschen nicht fliegen können. Sie kommen nur mit Mach und Krach nach oben.

Wirklich fliegen können sie nur im Traum, und wenn es einem gelang, diesen Traum in den Raum zu holen, dann war es eben Straub. Natürlich haben wir Fortschritte gemacht. Aber dieser Engel ist uns unendlich weit voraus.

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