Kategorie-Archiv: Kolumne

Der pünktlichste Hund der Welt

Wir sitzen zu viert auf einer Steinbank aus dem Mittelalter, Paul und Frido und ihre Mutter und ich, im Schatten eines Gewölbes, während die Mittagssonne auf den Platz davor scheint. In Norddeutschland, erfahren wir später, treten derweil unter schwerem Dauerregen Flüsse über die Ufer, und das ist wohl noch eine der harmloseren Nachrichten aus der Welt. Wir sind fern der Schlagzeilen, in Monells, einem uralten, dorfgroßen Städtchen in Katalanien, nahe der Keramikstadt La Bisbal. Wirklich fern! Nicht mal die Touristen sorgen für Betrieb. Ein paar von ihnen schlendern durch Monells und lassen sich nieder im einzigen Café unter den Arkaden am größeren der beiden Plätze, geräumig, in gelassener Unregelmäßigkeit sich zu drei, vier Gassen öffnend, gerahmt von gelbgrauen Natursteinhäusern unter blauem Himmel.

Ein Julimontagmittag in einem ziemlich leeren Städtchen kann etwas Ausgestorbenes haben, aber nicht hier. Vielleicht sind es die weiten, niedrigen Bögen vieler Arkaden, die für Geborgenheit und Offenheit zugleich sorgen und das Leben vieler Jahrhunderte verbinden so, wie sie die Häuser verbinden, alle mit einer Traufhöhe um die viereinhalb Meter. Da sitzen wir also im Schatten am kleineren der beiden Plätze, dem früheren Marktplatz, wie ein Schild erklärt, fast nur eine Erweiterung der Gasse, nebenan unterhalten sich in einem Hauseingang zwei ältere Frauen, sonst ist es still, und ich frage Frido und Paul, was sie gern verkaufen würden, wenn sie hier Markthändler wären. „Comics“, schlägt Frido vor, der Achtjährige, und Paul, noch fünf, sagt: „Joghurt.“

Joghurt? „Ja. Und wer viel kauft, kriegt hundert Punkte.“ „Und was kriegt man bei dir für hundert Punkte?“ „Einen Hund.“ „Na schön, aber wer will schon zum Markt gehen und mit einem Hund zurückkommen?“, sage ich. Genau in dem Moment biegt ein Hund um die Ecke, von links aus der Gasse kommend, ein elegantes, schmales, rehbraunes Tier mit rotem Ledergeschirr um die Brust, biegt schräg ein in unser Gewölbe, tänzelt an Paul vorbei und verschwindet wieder. Wir müssen alle lachen, fassungslos begeistert, am heftigsten die Mutter der beiden, die als Regisseurin viel Sinn für die Präzision hat, mit der hier der Zufall inszeniert hat. Der Zufall? Den Jungs kommt es vor, als sei der Hund erschienen, weil Paul das Stichwort gab und Papa so skeptisch nachfragte.

Frido zitiert mich genüßlich, mit einem Glucksen in der Stimme: „Wer will schon zum Markt gehen und mit einem Hund zurückkommen? Und da ist der Hund!“ Paul ist immer noch fassungslos. Er denkt sich gern was aus, er glaubt oft, alles müsse möglich sein, wenn er es nur will, aber dass seine ungewöhnliche Joghurtprämie, kaum erdacht, schon rehbraun um die Ecke biegt…! Und das, nachdem sein skeptischer Papa… Ach, meine Skepsis! Mit der tarne ich ja bloß meine Träume, und die Zuversicht, dass sie wahr werden können. Die Götter, bilde ich mir ein, helfen ungern, wenn man sich zu offenkundig auf sie verlässt. Aber jetzt hatten sie wohl gerade Lust auf eine witzige kleine Überraschung, hier im stillen Monells mit seinen schattigen Bögen, wo noch Platz für etwas Zeitfernes ist.

Nein, der Hund ist nicht aus der Mittagsluft gesprungen, er hat Besitzer, die ihm nachschlenderten über den alten, schmalen Marktplatz, vorbei an den plaudernden Frauen im Hauseingang. Aber man mag und muss nicht entscheiden, ob es es ein Zufall war oder ob die Götter das Tier auf die Sekunde genau losgeschickt haben, gelangweilte, verspielte, kichernde, lang schon aus der Mode gekommene Götter, ein fantasievolles Gespräch belauschend. So, wie einmal eine wunderschöne Sirene aus dem Mittelmeer emportauchte, in der Erzählung von Giuseppe Tomasi di Lampedusa, weil am einsamen Strand ein junger Student altgriechische Verse rezitierte. Wir stehen auf von unserer Steinbank und gehen zum Auto. „Wer will schon zum Marktplatz gehen und…“ Der Hund kommt mit. Im Gedächtnis nur, aber wohl für eine lange Zeit.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt

Die Comtesse im Briefkasten

Da hat uns jemand eine Flasche teuren Rotwein in den Briefkasten gestellt“, sagte sie am Telefon, „für dich, nehme ich an.“ „Teuer? Sieht der so aus?“ Sie las vor: „Chateau Pichon Longueville, Comtesse de Lalande 1994, Grand Cru classe Pauillac.“ „Neunzehnhundertvierundneunzig? Das klingt sehr teuer. Das ist irgendwas Altes aus dem Bordeaux. Und wer ist jemand?“ Das wusste sie nicht. Kein Zettel dran. Sie habe den Briefkasten klappern gehört (es ist ein selbstgebauter mit Holzdeckel, groß genug für drei Flaschen), sei rausgegangen, und da habe diese Flasche gestanden. Vermutlich sei das ja als Glückwunsch für den Preis gedacht. Mittlerweile hatten nämlich einige Zeitungen gemeldet, dass mir ein Literaturpreis zuerkannt worden war.

„Ja, schon möglich, das wäre ja total nett, aber lag wirklich kein Zettel dabei?“ Ich fand das mysteriös. Da ich meine Phantasie an dem Tag erst mäßig beansprucht hatte, kam ich auf teuflische Pläne. Man kann so eine Flasche ja auch vergiften wie die böse Königin den Apfel für Schneewittchen. Wissend, dass der Adressat teure Weine liebt, aber nicht bezahlen kann, könnte man… Aber warum? „Ja, warum?“, sagte meine Frau lachend. „Auf wessen schwarzer Liste glaubst du denn zu stehen?“ Stimmt. Meine Recherchen lassen, ich muss fast beschämt davon ausgehen, jede Mafia kalt. Sie gelten meist der Musik, die, wie man weiß, auch richtig fiesen Typen viel Freude machen kann.

Bei einem wirklich durchtriebenen Anschlag hätte wenigstens ein Zettelchen mit den Worten „On vous adore“ an der Flasche kleben können, als beunruhigende kleine Anspielung auf mein derzeitiges Thema. Nein, kein Anschlag. Aber welcher Dorfbewohner stellt einem eine Flasche Schattoh Wahnsinn in die Box? Eigentlich kamen nur die befreundeten Akademiker in Frage, die noch die besseren Zeitungen lesen. Der Arzt, der Geistliche. „Nee, davon weiß ich nichts“, sagte der Arzt, als ich ihn anrief, „aber wir könnten trotzdem mal wieder eine Flasche öffnen.“ Der Geistliche war im Urlaub. Inzwischen hatte ich nachgeschlagen im „Kleinen Johnson“, dem besten Weinführer.

Das Chateau war tatsächlich der Wahnsinn. Vier rote Sterne, das Maximum. Und der Jahrgang? „Heftige Regenfälle bei der Lese, Vorsicht geboten“, las ich über 1994. “Jetzt trinken.“ Andererseits hieß es gerade von diesem Gut, „selbst in ungünstigen Jahren“ liefere es „langlebige Weine von fabelhafter Rasse und üppiger Art.“ Mein Vater liebt solche Weine. Als er kam, erzählte ich von der ungeklärten Provenienz der Flasche. Ihn störte sie nicht. „Wir machen es so, ich koste vor“, sagte ich, „und wenn ich dann nicht tot umfalle, ist er okay.“ Ich drehte den langen Korken heraus, dekantierte den Wein (ein edles rostbraunes, glühendes Rot), probierte. „Schmeckt jedenfalls nicht nach Polonium.“

Er schmeckte so horizonterweiternd, dass man beim Beschreiben unweigerlich in diese unfreiwillig komische Weinlyrik geriete, mit Walderdbeeren, Ledersätteln und Fruchtnachhall. Ich sage lieber, dass ich mich beim Genießen sehr geborgen fühlte, aber nicht beengt, wie in einem alten großen Haus mit hohen Fenstern zum Garten, bei Sonnenuntergang. Was die Anonymität des Überbringers betrifft, fällt mir ein Satz von Gustav Mahler ein, den er 1910 an Arnold Schönberg schrieb: „Was liegt eigentlich daran, wer die Werke schreibt. Wenn sie nur zur rechten Zeit da sind.“ Genau. Erstens sollen sich die Autoren mal nicht zu persönlich nehmen, und zweitens froh sein, wenn nach dem Werk der Wein zur rechten Zeit da ist, egal von wem. Danke!

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt

Drei Gitarren, ein Rollstuhl, ein Glück

Es gibt auch eine Musikgeschichte der kleinen Begegnungen, der flüchtigen Momente, der Sommerminuten, die im weichenden Winter wieder auftauchen wie aufgetaut. Wie jetzt bei mir die CD in Papphülle mit drei bärtigen jungen Italienern, ihren Gitarren und dem Bandnamen „Gli Ex Della Tua Ragazza“. Allein der Name ist ja zum Niederknien, wenn auch auf Deutsch nicht elegant hinzukriegen: „Die Exmänner deiner Freundin“. Was ein bisschen an „die ungetreue Zerbinetta und ihre vier Liebhaber“ aus Richard Strauss´ „Ariadne auf Naxos“ denken lässt. Aber davon waren wir weit entfernt an dem leicht verregneten Sommertag in Perugia. Wir dachten gar nichts mehr.

Wir schleppten uns erschöpft durch die Altstadt, ein deutsches Touristenpaar mit zwei kleinen Söhnen, deren jüngerer der einzige war, der noch Energie hatte. Schließlich saß er ja im Rollstuhl, wegen Beinbruchs im Kindergarten. Wenn man im Urlaub etwas wirklich Idiotisches machen kann, dann ist es ein Ausflug mit einem hyperaktiven vierjährigen Rollstuhlfahrer in eine treppenreiche italienische Felsenstadt wie Perugia. Paul war von seinem Fahrzeug begeistert, ging hochvirtuos damit um und erlebte sich als Attraktion. Er hatte schon das Archäologische Museum von Perugia zur Rennbahn gemacht, außerhalb solcher Pisten wurde er geschoben und getragen. Anstrengend.

In dem Moment, als wir uns fragten, warum in aller Welt wir eigentlich nach Perugia gefahren waren, und der Nieselregen nachließ, stießen wir auf diese drei Gitarristen. Sie saßen vor einer Mauer gegenüber dem alten Rathaus und spielten wunderbaren altmodischen Gitarrenjazz, stilistisch in Django-Reinhardt-Nachfolge, Gipsy, Swing, Blues, ich kenne mich da nicht so aus. Sie blickten ernst, aber nicht unglücklich, und schrammelten und zupften voller Hingabe. Wir lauschten alle vier beglückt. Paul versuchte nicht mehr, die Stadt autark auf Rädern zu erkunden, er entspannte sich genauso wie sein siebenjähriger Bruder und seine Eltern. Also deswegen waren wir hier!

Wegen dieser Typen, die sogar die eine oder andere Ungarische Rhapsodie von Brahms draufhatten, bekam der Tag einen Sinn. Es gibt ja solche Momente, in denen man sich fragt, was eigentlich das Problem gewesen sein soll. Plötzlich leuchtet es irgendwie, das Herz kriegt wieder frische Luft, man wird unternehmungslustig. Das haben diese Musiker hingekriegt, das kriegen weitaus besser bezahlte Musiker oft nicht hin. Es ist ja, zugegeben, auch nicht der einzige Sinn von Musik, aber doch ein schöner. Sie waren vielleicht auch nicht ganz so virtuos wie Al di Meola, John McLaughlin und Paco de Lucia anno 1980 in San Francisco, aber sie waren gut. Und sie hatten CDs dabei.

Ich trat näher, um eine zu kaufen. Da sah ich erst, wie sie sich nannten. „Gli Ex Della Tua Ragazza“. Frido wollte wissen, warum wir den Namen so lustig fanden. Er ist klug, aber das war einfach zu kompliziert. Ich stellte mir die Ragazza vor, die solche Exmänner hatte. Was die drei wohl durchgemacht hatten, um sich so fabelhaft zu solidarisieren? Was die Frau und ihr aktueller Freund, beides freilich fiktive Gestalten, wohl empfanden, wenn sie dieses Trio erlebten? Sehnsucht sie, er Eifersucht? Und was dachten die weniger fiktiven Gestalten? Ich kam komischerweise nicht auf die Idee, über gli ex della mia sposa nachzudenken. Diese waren es jedenfalls mit Sicherheit nicht.

Wir haben die CD dann dauernd im Auto gehört. Die Musik passte fabelhaft auf die kurvigen Straßen rund um den Trasimenischen See. Sie war auch gut gegen Zankereien auf den Kindersitzen hinten. Acht Stücke, 27 Minuten, damit kommt man schon mal gut von Perugia bis, sagen wir, Corciano, auch so eine schöne Stadt mit einem rollstuhltauglichen Museum… Diese Tage höre ich jetzt wieder, ohne die Strapazen natürlich. Längst ist Pauls Bein wieder intakt. Und wie geht´s Gli Ex? Sie haben sogar eine Facebookseite. Eduardo Pilone, chitarra acustica, Nicola Miele, chitarra classica… aber wo ist Stefano Cacciatore?

Der spielte im vorigen Sommer noch die Manouche Guitar. Jetzt steht da Francesca Alinovi, contrabbasso! Haben die Ex jetzt einen Ex? Hat die Ragazza auch eine Ex? Verwirrend. Aber die Welt ist halt immer im Wandel. Paul wollte ja auch nicht für immer Rollstuhl fahren. Das Gerät glänzt jetzt wie verklärt in den Klängen dieser Sommerminuten zwischen Nieselregen und Glück.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt