Kategorie-Archiv: Kolumne

Morgenkaffee mit Scipio

Scipio Slataper, was für ein Name! Wäre ich nicht in der vielbändigen „Letteratura italiana“ auf ihn gestoßen, ich hätte auf eine Romanfigur gewettet. Schließlich hatte ich es zur gleichen Zeit mit noch einem Scipio zu tun, dem „Herrn der Diebe“, aus dem ich Frido täglich vorlas. Spannend! Aber meine morgendliche Ferienlektüre war nun mal einer der dicken grauen Bände, den ich willkürlich aus dem Regal gegriffen hatte, in einer Ferienwohnung südlich des Lago Trasimeno: „11: L´etá contemporanea. La storia e gli autori, II: La Toscana, Roma, l´Italia meridionale, le arie di frontiera“. Angeber, denken Sie jetzt, Streber, Urlaubsverderber!

Gar nicht. Auch nach über dreißig Jahren heißer Liebe zu Italien und gar nicht so wenigen Reisen in den Süden kann ich noch immer lediglich stammelnd einkaufen, habe immer noch keinen Sprachkurs besucht und finde mich hauptsächlich in der Sprache der Musik und der Küche zurecht, von allegro bis al forno. Manche ähnlich hilflose deutsche Musiker haben al forno übrigens schon spaßhaft umgetopft und sagen es, wenn da capo in den Noten steht, also „von vorn“. Das ist so doof, dass ich es schon wieder mag. Und von dem Niveau aus greift der Tourist zu Band 11 der „Letteratura“? Wieso das denn? Und wie kommt sowas überhaupt in eine Ferienwohnung?

Naja, es war keins von den Häusern, die von Investoren für Urlauber hochgezogen werden, sondern ein im Keller rund 800 Jahre altes, nach oben hin sich bis ins 19. Jahrhundert verjüngendes Haus in einer mittelalterlichen Bergstadt, das im späten 20. Jahrhundert von zwei gebildeten Dänen erworben und von ihnen mit Büchern in fünf Sprachen gefüllt wurde (auch deutsch), die sie alle beherrschen. Unsere Vermieterin machte Ferien im ersten Stock, wir im Parterre. Entzückt streifte ich an den Regalen entlang, denn wie immer empfand ich die mitgebrachte Urlaubslektüre jetzt als lästig. Und wie immer fand ich, ich müsse jetzt aber sofort italienisch können.

Da kam ein Einstieg wie der mit Scipio Slataper aus Triest genau richtig. „Nel Mio Carso (1912) Scipio Slataper confessa ed esorcizza, nei primi tre capoversi che iniziano tutti con le parole “vorrei dirvi”, una tentazione di mentire.” Aahh! Solche Sätze in der Morgensonne im Oleandergarten, während der Rest der Familie noch schläft und der Kaffee dampft – gleich nochmal al forno! Ich musste allerlei nachgoogeln, bis ich den Anfang hinter mir hatte und herausfand, dass carso „Karst“ heißt. Die Kenner lächeln jetzt nachsichtig, sie verfügen selbstverständlich über die 2000 erschienene deutsche Übersetzung dieses einzigen je von Slataper gedruckten Werks.

Vielleicht werde ich sie mir auch mal besorgen, aber eigentlich haben mich die Morgenminuten schon hinlänglich beglückt, in denen ich mich Absatz für Absatz bis zu dem herrlichen Begriff „Triestinitá“ vorbuchstabierte, der die Mentalität in der damals noch österreichischen Hafenstadt umschreibt. Sowas gibt es nur auf Italienisch. „Berlinizität“? Gräßlich. Dazu rauchte ich die erste Zigarette. Auf der Schachtel standen Worte wie aus einem Madrigal: „Il fumo uccide“. Für ein paar kostbare Minuten konnte ich mir einbilden, ich befände mich kurz vor der Beherrschung des gehobenen Italienischen. Dann ging ich zum Bäcker, deutete aufs pane und sagte, wie immer: „uno, prego“.

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Auch ein Rollstuhl kann abheben

Wäre Paul nicht von der Schaukel gefallen, dann hätten wir jetzt nicht die Erdratte im Garten und den Maulwurf. Die Hügelketten der beiden zingeln gerade die Staudenbeete ein. Nie gehabt, sowas. Die kundige Nachbarin meint, dass die Wühltiere normalerweise Wiesen meiden, auf denen Hufe trappeln oder Kinder rasen. Und Paul rast seit zwei Wochen nicht, er robbt, oder er steuert seinen kleinen Rollstuhl über die Wege, voller Stolz auf das Gerät und sein in schickem Blau fixiertes Bein. Der Schaukelsturz im Kinderhaus hatte nämlich einen Riss im Knochen zur Folge, und jetzt lernen wir von Paul, dem Vierjährigen, wie man mit so einer Malaise umgeht: Gut gelaunt.

Für ihn ist der Rollstuhl eher eine Vorstufe des Motorrads, das er später fahren möchte, wenn er nicht gerade mit dem Privatjet unterwegs ist, der auch auf seiner Liste steht. „Dafür musst du aber Geld haben“, wendet Frido mahnend ein, sein älterer Bruder. „Und einen Privatjet braucht man nicht unbedingt“, sage ich, während wir zu dritt Gras und Moos von alten Pflastersteinen kratzen, „du könntest mit einer Yacht anfangen.“ Paul breitet die Arme aus, während er da auf seiner Decke sitzt, und produziert Fluggeräusche. „Ich will alles auf einmal haben“, sagt er. Vielleicht ist das ja wirklich kein schlechter Ansatz, um beizeiten auf dem Motorrad zur eigenen Yacht brausen zu können.

Mit den Vorstellungen seiner Eltern deckt sich der Traum von mehr oder minder umweltschädlichen Statusgeräten nicht, aber der Traum vom sorgenfreien Leben zu Lande, zu Wasser und in der Luft wurzelt natürlich bei uns allen tiefer, als ein Maulwurf je graben könnte. Ich hätte überhaupt nichts dagegen, wenn meine Söhne mich, dann achtzig oder so, zu schnittigen Sprints durchs Mittelmeer einlüden. Paul stünde am Steuer, und Frido würde verklärt auf die Stationen des Odysseus hinweisen, die er jetzt schon bestens kennt…

Okay, zurück auf den Boden der Tatsachen! Es ist schon kurios, dass die Wühler mit ihrer Arbeit auf der Südseite just zu der Zeit begonnen haben, da wir die Nordseite verschönern. Wir legen die Feldsteine frei, die dort vor hundert oder hundertfünfzig Jahren als Pflaster eingesetzt wurden. „Ein Vermögen“, meint ein Nachbar, der vorbeikommt. Tausende von Euro würde es heute kosten, so etwas neu zu verlegen. Selbst für den einzelnen Wackerstein am Feldrand nähmen die Bauern ja schon Geld. „Na dann“, sage ich, „wir sitzen also bereits auf einer Yacht.“ Frido findet das prima. Paul hat indessen genug vom Auskratzen der Fugen, legt den Schraubenzieher weg und lässt sich auf sein Motorrad heben. Auf den Feldsteinen kann er keine Runden drehen, aber im leeren Stall.

Vorher aktiviert er noch diverse Motoren, die, für uns nicht sichtbar, überall an seinem Gefährt angebracht sind. Wir hören die Aggregate aufheulen, während er da drin herumkurvt. Zaubermacht der Fantasie! Gegen Erdratte und Maulwurf hilft sie allerdings nicht. Am besten sei es, sagt die Nachbarin, unsere Katze nicht zu füttern. Dann werde sie die Ratte jagen. Tatsächlich sitzt die Katze jetzt vorm frischesten der Hügel. Sie schaut interessiert zu, wie die Ratte herausschaut, das tut die wirklich – und bleibt gelassen wie ein Forscher.

Es wird das beste sein, wir machen es den Viechern richtig ungemütlich. Wir richten entlang der schwarzen Hügel für Paul und seinen Rollstuhl eine Rennbahn, einen Privatjetflugplatz und einen Yachthafen ein.

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Sonne, Wind und Steine

Liiiebe im Fahrstuhl…“. Den Text kennt Paul längst und die Melodie auch, das singt er selig mit, und er hat die CD auch selbst im Auto eingelegt, ehe wir losfuhren in die Felder. Keine Ahnung, wie uns die „Prinzen“-Scheibe ins Haus kam, aber mir gefällt sie auch. Paul und Frido nennen sie einfach „Popmusik“, es ist bis jetzt die einzige Popmusik, die sie kennen. Es ist lustig, mit zwei Jungs im Alter von vier und sieben Jahren durch die Felder in der Sonne zu fahren und mit einem Vierteljahrhundert Verspätung die „Prinzen“ zu hören, herrliche Pubertätshits, für Frido und Paul viel zu früh und für mich viel zu spät.

Also genau richtig, so wie auch Sonne und Wind an dem Sonntag vor Ostern, einem der ersten regenfreie Tage des Jahres, an dem wir zum Steinesammeln aufgebrochen sind. Oder zum Steineklauen? Sagen wir mal, besorgen. Diese Steine liegen hier seit mindestens 120.000 Jahren, sind ihrerseits mehr als 510 Millionen Jahre alt und kamen im Geschiebe eines Gletschers aus Skandinavien in unsere Gegend. Immer weitere wandern aus den Grundmoränen in die Äcker hoch, wo die Bauern sie beim Pflügen einsammeln und an den Rand legen, Granitbrocken unterschiedlicher Größe, im Idealfall doppelt faustgroß.

Wenn ich davon eine Lage in den Kofferraum packe, 300 Kilo, reicht das für zwei Meter regionaltypischer Beeteinfassung und kostet nichts. Jedenfalls nehme ich mal an, dass die Landwirte froh sind, wenn jemand die Klumpen wegholt. Andernfalls kann es gar nicht schaden, dass Paul jetzt im offenen Wagen „Alles nur geklaut“ hört und mitgrölt, während ich skandinavische Migranten einsammele. Ich baue den Begriff „Migrant“ extra ein in diesen Text, er wird einmal zu den verbalen Leitfossilien unserer Zeit gehören, mit dem Suchwort „Migrant“ wird man mühelos Texte ab etwa 2015 finden können.

Ich könnte jetzt auch noch ein Leitwort wie „Integration“ einbauen und erzählen, wie toll ich die steinalten Migranten in den Garten integriere, aber ich will lieber zeitlos von Wind und Sonne erzählen. Während ich nämlich Granite aufklaubte und Paul die „Prinzen“ mitsang, hatte Frido seinen Drachen steigen lassen zwischen den Feldern. Ein einfacher, regenbogenbunter Drachen, nicht zum Lenken, nur eine Leine, aber welche Höhe! Ich konnte den Drachen kaum sehen, er stand neben der Sonne, die Frido im Rücken hatte. Besser als den Drachen sah ich, wie glücklich Frido war. Ich sammelte langsamer.

Irgendwann war die höchstzulässige Achslachst erreicht. Ich übernahm es, die Drachenleine aufzuwickeln, während Frido nach dem heruntergezwungenen Flieger schnappte. Der nutzte jede Bö, wich immer wieder aus und lockte den Jungen quer über den Acker. Irgendwann ging er ein letztes Mal steil hoch und bohrte sich dann zwischen die Furchen. Genau da, wo Frido seine Handschuhe hatte liegen lassen. „Ganz schön schlau, dein Drache“, sagte ich. „Vielleicht kann er uns auch mal zeigen, wo hier ein Schatz vergraben ist.“ „Ich werde immer sssöner durch mein Geld“, krähte Paul mit den „Prinzen“. Und ganz oben zogen die Wildgänse dorthin, von wo die Steine einmal herkamen.

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